Dierk Ower lässt
fiete+jan erzählen

AM BARTHER BOLLWERK

 

1MEINE KLÖNBANK BEIM BOLLWERK

An der Stintenklappe
Man nennt mich Fiete Stint. Dabei heiße ich eigentlich aber ganz anders. Laut Geburtsurkunde ist mein richtiger Vorname Friedrich und mit Nachnamen unterschreibe ich mit Fischer. Wie ich zu meinem Spitznamen kam? Das geschah so: Im Alter von elf Jahren verschlug es mich vom Schwarzwald in Süddeutschland nach Barth an die Küste. Beinahe jeden Tag stand ich nun am Bollwerk um zu angeln, das war etwas völlig Neues für einen aus dem Gebirge stammenden Buben. Ich fand das derart faszinierend, dass ich nun Tag für Tag die Angelrute aus dem Schuppen holte, zum Hafen lief. Der bevorzugte Platz war die Stintenklappe. Dort, am Wasser, war ich öfters anzutreffen als über den Hausaufgaben.
Bei der Stintenklappe bissen die Fische wie verrückt. Genau an dieser Stelle habe ich immer geangelt. Da schwabbelten auf engstem Raum Tausende und Abertausende Fische rum, man hätte da eigentlich gar nicht untergehen können wenn man reingefallen wäre. So viele Fische waren das da. Bei den Erinnerungen gerät man manchmal etwas ins Überschwängliche, denn natürlich ist das nun doch so etwas wie Anglerlatein, mit dem Nichtuntergehenkönnen. Aber damit möchte ich ja nur deutlich machen, dass sich an der Stintenklappe so derartig große Mengen an Fischen versammelt hatten, wie es sonst eigentlich nirgendwo der Fall ist. Meistens waren das kleine Stinte, aber auch größere Plötze und auch Plieten gingen dort an den Haken, häufig sogar an den blanken Haken. Wenn gelegentlich ein großer Barsch unter ihnen räuberte, sprangen massenhaft Stinte hoch aus dem Wasser.
Gerne denke ich an die Tage zurück, an denen in der Fischmatsch die großen Bratpfannen mit den Heringen darin in Betrieb genommen wurden, um die Bratfische im Öl zu garen und sie anschließend mit Essigtunke in die Gläser abzufüllen. Dann zog der Duft durch den ganzen Hafen, bis rüber zur Burg und zum Kaufmannsladen Bölkow an der Ecke Trebin/Reifergang. Bei Bölkow haben sich die Kinder neue Angelhaken und anderes Angelzeugs kaufen können. Der Haken kostete damals zehn Pfennige, glaube ich. Jedenfalls roch das herrlich nach frischem Brathering und Essig, da lief dir das Wasser im Munde zusammen!
Doch was hat denn das nun alles mit dem eingangs erwähnten Spitznamen Fiete Stint zu tun?

Ganz einfach, weil ich dort doch fast jeden Tag an der Stintenklappe geangelt habe, weil ich mit richtigem Namen auch noch Fischer heiße, kam irgend so ein Dussel auf den Gedanken, mich Stint zu nennen. Andere haben das gehört und schon war ich bei allen nur noch der Stint!
Hat mich das denn gewurmt, diesen Spitzname bekommen zu haben? Nein, ganz und gar nicht, ich hatte sich bald daran gewöhnt. Nur, richtig ich ja auch nicht Fiete, sondern Friedrich! Aber es werden ja viele Friedriche Fiete genannt.

Bliebe noch der Frage nachzugehen, worauf der Begriff Stintenklappe zurückzuführen ist. An eben dieser Stelle entleerte sich die Stadt mittels eines großkalibrigen Rohres. Ihre ungeklärten Abwässer flossen hier in das Becken des Osthafens. Auch die Fischmatsch genannte Fischkonservenfabrik, direkt am Hafen gelegen, handelte derart verantwortungslos. Das hier einströmende ungeklärte städtische Schmutzwasser, mit allem was so in den Haushalten, Toiletten, Industriebetrieben etc. runtergespült wurde, lockte folgerichtig Unmengen von Fischen an, vor allem die Stinte, eine kleine Lachsart. Deshalb wurde diese Stelle Stintenklappe genannt. Ein scheinbares Paradies auch für Angler, sie drängten und stritten sich manchmal regelrecht um einen günstigen Platz bei diesem Rohr.
Obwohl es hier schon lange keine Stintenschwärme mehr gibt, denn die Abwässer landen nun in einer modernen Kläranlage, werden dort gereinigt um dann schließlich in die Barthe eingeleitet zu werden, hat sich der Name Stintenklappe bis heute gehalten. Die Fische waren damals durchweg krank, sie hatten alle einen Bandwurm und waren deshalb ungenießbar. Das Angeln im Hafen wurde eines Tages auch verboten, denn das Wasser verdreckte immer mehr. Das gehört nun aber der Vergangenheit an. Friedrich Fischer hat aber seinen Spitznamen weg und ich werde ihn wohl nicht mehr ablegen können.

Onkel Piet auf Probefahrt
Die Probefahrt ist eine schon viele Jahre zurück liegende Geschichte mit Onkel Piet. Onkel Piet und Tante Erna wohnten in der Pohlstraße, leben aber schon lange nicht mehr. In der folgenden Erzählung steuert Onkel Piet allerdings keinen funkelnagelneuen Fischkutter von der Barther "Werft Gustav Sanitz" durch die sturmgepeitschten Barther Boddenfluten, es ist eine schon recht betagte Barkasse, die er bei ruhigem Wetter Richtung Prerow steuert. Die Sache, die leider tragisch endet, soll sich folgendermaßen zugetragen haben:
Die Fahrrinne ist recht schmal, das Wasser daneben von geringer Tiefe. Die Schiffsführer sind gut beraten, die Betonnung möglichst genau zu beachten um sich nicht im Schlick des Boddens festzufahren. Meinem Onkel Piet ist solch ein Pech, nämlich das Festfahren, einmal drüben im Zingster Strom passiert. Wobei auch die Wilde Sau, das war damals eine Schnapsmarke, und zwei Kruken Schinkenhäger mit im Spiele waren. Mit einer Barkasse, die auf der Werft repariert und überholt worden war, steuerte Piet von der Werft am Borgwall kommend am Schlachthof und am Seglersteg vorbei zum Barther Hafen hin. Es war ein regnerischer und diesiger Montagmorgen im Frühsommer. Das miese Wetter hatte aber keine Schuld an Piet´s Strandung.
Ein Schiff, dazu zählt natürlich auch so eine kleine Barkasse, muss in festgelegten Fristen gewartet und auf Betriebssicherheit hin überprüft werden und ist deshalb einem strengen Regelwerk unterworfen. In der DDR gab es dafür seit 1950 die DSRK, zuvor hatte der Germanische Lloyd den Hut auf. Die DSRK führte die Klassifikation sämtlicher klassifikationspflichtiger Wasserfahrzeuge, Bauteile, Ausrüstungen und Einrichtungen sowie die Bauaufsicht und Erprobung der in der DDR gebauten oder reparierten Wasserfahrzeuge durch. Sie war für deren Überwachung und 2Revision zuständig und prüfte abnahmepflichtige Werkstoffe, Geräte, Maschinen und Bauteile auf Güte, Bauausführung und Funktion.“ (Binnenschifffahrtsmuseum Oderberg).
Mit genau solch einem Auftrag hatte die Werft ihren Mitarbeiter, also in diesem Falle meinen Onkel Piet, losgeschickt. Er sollte mit der fünfzehn Meter langen „FRAU LOTTA“ nach Prerow fahren, dort übernachten und am nächsten Tag eine Tour nach Barhöft machen um danach wieder in die Werft zurück zu kommen. Auch bei den meisten anderen vorherigen Werft- und Probefahrten war Piet häufig derjenige, dem das Kommando auf den Schiffen anvertraut wurde. Diese Schiffe, es handelte sich dabei in erster Linie um hölzerne 12-Meter-, 17-Meter- und 24-Meter-Fischkutter, sind in der Schiffswerft Gustav Sanitz, vormals Holzerland, später VEB Bootsbau- und Reparaturwerft, über mehrere Jahre in einer Serie gebaut worden. So auch 1949 die 17-Meter-Kutter SAS 86 „Karl Krull“ (heute „Albin Köbis“) und SAS 85 „Hans Kollwitz“, 1950 SAS 153 „Barth“, SAS 122 „August Bebel“, SAS 92 „Karl Marx“, SAS 152 „Wustrow“, 1953 die beiden 24-Meter-Kutter SAS 251 „Rudolf Virchow“ und „SAS 252 „Heinrich Heine“.
Doch zurück zu Onkel Piet. Eine Besonderheit, oder vielmehr eine Marotte bei Onkel Piet war, dass er sich zu solchen für ihn ehrenvollen Anlässen wie Probefahrten, immer voller Stolz die alte verschlissene Schippermütze aufsetzte. Tante Erna mochte das absolut nicht leiden, aber sie kam da nicht gegen an. Die alte Mütze stammte noch aus seiner Fahrenszeit auf einem U-Boot. Die Abzeichen an der Mütze, wie Reichsadler mit Hakenkreuz und die scharz-weiß-rote Kokarde hatte er natürlich abgemacht und durch einen schwarzen Stoffaufnäher mit goldgelbem Anker, von gleichfarbigem Eichenlaub umkränzt, ersetzt. Die Mütze selbst, mit welcher er einmal im Skagerrak vor Norwegen mit seinem U-Boot abgesoffen war, galt für ihn seit seiner Rettung als sein Talisman und war ihm heilig.
Er war also, wie gesagt, zur Probefahrt unterwegs um im Fahrbetrieb die sogenannten Restpunkte aufzuspüren. Bevor es aber durch die Molenausfahrt auf den Bodden gehen konnte, war im Hafen erst noch ein ganz spezieller Punkt abzuarbeiten: Der neue 125 PS starke Schiffsdiesel von Buckau Wolf musste seine Schleppkraft, auch Pfahlzug genannt, unter Beweis zu stellen. Eigens dafür waren beim Hafen zwei Fachleute aufgestiegen die das überwachten und die Ergebnisse zu Protokoll nahmen. Sie installierten zwischen der Schlepptrosse und einem dicken Stahlring in der Kaimauer eine Zugwaage.
Mit dem Pfahlzug wird die Zugkraft von Schiffsantrieben ermittelt. Für unterschiedliche Leistungsstufen des Schiffsantriebs kann die erzeugte Zugkraft an dieser Zugwaage abgelesen werden. Der Schiffsdiesel muss bei Kommando „Volle Kraft voraus“ für eine genau festgesetzte Zeit seine absolut höchste Leistung bringen. Wenn so ein Pfahlzug im Hafen anstand, sorgte das verständlicherweise jedes Mal für eine große Ansammlung von Schaulustigen, die das mit großem Interesse verfolgten und es mit mehr oder minder fundierten Fachkommentaren begleiteten. Es kam sogar vor, dass Mitarbeiter der Fischmatsch alles stehen und liegen ließen, um das Spektakel zu beobachten.
Im Anschluss daran konnte es mit der eigentlichen Probefahrt aber richtig losgehen. Zwischen den Molenköpfen hindurch ging es über den Bodden in Richtung Müggenburg, um dann in den Zingster Strom zu gelangen. Dort, wo sich die Fahrrinne backbords nach der Oie und Große Kirr sowie steuerbords nach Barhöft gabelt, deutete an Steuerbord auf Höhe des Monser Hakens Kuddel, der mitfahrende Schlosser, aufgeregt zu einer Reuse rüber. Zwei große dunkle Vögel, die ihre weiten Flügel zum Trocknen ausgebreitet hatten, saßen auf den Netzen. Es waren Kormorane. Zu jener Zeit noch eine ganz große Seltenheit, sie zu Gesicht zu bekommen. Jeder an Bord wollte die Vögel sehen, doch Käpt´n Piet hatte nur ein einziges Fernglas dabei. Und so mussten eben alle geduldig warten, bis Piet die Kormorane genügend bewundert hatte und das Glas weiterreichte. Während der Arbeit in der Werft waren sie alle schlicht und einfach Kollegen. Hier aber, auf dem Schiff, galt es für jeden den Anordnungen des Käpt´n absolut Folge zu leisten, und deshalb murrte auch keiner, dass Piet das Fernglas ungebührlich lange vor seine Augen hielt.
Nach der Fahrt zwischen der Halbinsel und der Insel Großer Kirr passierte die Barkasse die Meiningenbrücke und rein ging es in den Prerowstrom. In Prerow wurde für die Liegezeit über Nacht festgemacht.
Am Morgen danach tuckerte dann schon sehr frühzeitig der Schiffsdiesel. Leider hatte Onkel Piet, dieser alte Seebär, der ja schon vor dem Zweiten Weltkrieg bei einer großen Übersee-Linie gefahren war und im Krieg auf einem U-Boot gedient hatte, in Barth nicht nur festen Proviant gebunkert, sondern das hochprozentige flüssige Lebenselixier der Marken „Wilde Sau“ und „Schinkenhäger“ nicht vergessen. Das heißt, an Bord befand sich Alkohol in einer sozusagen ungesunden Dosis. Folgerichtig kam es wie es kommen musste. Denn die Nacht in Prerow war eintönig und lang, der flüssige Proviant musste der Schiffsbesatzung die Langeweile vertreiben.

Bei der Rückfahrt war man zunächst ohne Probleme durch den engen Prerowstrom gekommen. Bei den Schmidt-Bülten, eine Insel im Bodstedter Bodden am Ausgang des Prerowstroms, waren schon die ersten Unsicherheiten bei Onkel Piet nicht zu übersehen. Doch er schaffte es noch, diese hakelige Stelle unfallfrei zu umkurven.

Seine Barkasse „FRAU LOTTA“ hatte nach dem Passieren der Meiningenbrücke wieder den Zingster Strom erreicht. Das ist ja auch nur ein relativ schmales Gewässer mit den beiden kleinen Inseln „Brunstwerder“ und „Kleine Kirr“ darin, die das Navigieren zusätzlich erschweren. Am Brunstwerder mogelte sich der beduselte Onkel noch gerade so vorbei, dann aber geschah das Malheur. Der Onkel und die anderen an Bord mussten wohl doch zu viele geleerte Flaschen außenbords gegeben haben.

An der Kleinen Kirr gab es unverhofft einen kräftigen Rumms, und die Barkasse hatte jetzt das, was jeder Schiffsführer fürchtet: absolut kein Wasser mehr unterm Kiel. Auf gut deutsch, sie saßen fest! Es nützte alles nichts, Hilfe musste angefordert werden. Mit der Konsequenz, dass der Onkel sich Monate später gezwungen sah, dem Staatsanwalt im Gerichtssaal ins Auge zu schauen und ihm zuvorkommend und höflich einen Guten Tag zu wünschen. Was ihm aber 3auch nichts mehr nützte. Ins Kittchen ging er zwar nicht, doch das Urteil lautete trotzdem: Mehrere Monate Gefängnis sowie eine Geldstrafe. Die Einquartierung in ein Zimmer mit vergittertem Fenster, sprich Zelle, wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Der Onkel war in der Folge ein seelisch gebrochener Mann und hat sich von dieser Sache nie wieder erholt. Piet besuchte danach aus Scham auch nie wieder das legendäre "Gasthaus zur Börse", wo er zwischen den Zahltagen häufig anschreiben lassen konnte, beim Wirt Otto Wolter. Anschreiben lassen musste er, weil Tante Erna seine Schwächen kannte und ihn darum immer sehr kurz hielt mit den Groschen.

Woher weißt du das eigentlich alles so genau, könnte nun jemand fragen, du warst doch damals noch ein Kind? Hat Tante Erna mir etliche Male erzählt, und ein damaliger Kollege von Onkel Piet hat das auch erzählt. Die geschilderte Probefahrt liegt nun, sofern man Tante Erna und dem Kollegen Glauben schenken darf, schon viele Jahrzehnte zurück. Ob sie sich tatsächlich genau so, oder vielleicht doch ganz anders, oder vielleicht auch gar nicht zugetragen hat, dafür verbürgt sich der Autor ausdrücklich nicht! Möglicherweise hat sich der Erzähler Fiete auch nur wichtig tun wollen und hat geflunkert.

Da ich gerade von Strandung spreche, fällt mir noch eine andere Geschichte ein, aus dem Jahr 2003. Dabei geht es um die gescheiterte Überfahrt der „Undine“ von Rostock nach Barth.

 

Undine´s Endstation bei Kinnbackenhagen vor dem Barther Bodden

Da liegt er nun, der klägliche Rest eines einst so schönen und beliebten Ausflugsdampfers: Die Undine / Kronprinz! Anfang 1993 machte sich die Kronprinz auf den Weg nach Barth, in einem heftigen Sturm strandete sie im Grabow kurz vor Barth. Hierzu schreibt Wikipedia: „Nachdem das Schiff wegen Treibeis zunächst in Barhöft vor Anker gehen musste, setzte es am 13. Januar 1993 trotz Sturmwarnung seinen Weg nach Barth fort. In der Grabow bei Kinnbackenhagen lief die Kronprinz gegen 12:30 Uhr auf Grund. Wegen des Sturms konnte erst am folgenden Tag ein Schlepper das Schiff erreichen. Die Bergungsversuche misslangen jedoch.“

Einer*, der damals mit an Bord war, schilderte mir das Unheil, das in jener Nacht über die Undine hereinbrach, so: Weil das Schiff einen großen Tiefgang hatte, der Bodden jedoch ein recht flaches Gewässer ist, sollte eine Wetterlage abgepasst werden, die im Bodden Hochwasser garantierte. In den Tagen davor hatten nämlich starke Westwinde das Ostseewasser in den finnischen Meerbusen gedrückt, so dass im Bodden Flachwasserbedingungen herrschten. Am nächsten Tag erwartete man mit Ostwinden zurückflutendes Wasser aus dem Osten in die westliche Ostsee. Das hätte Hochwasser im Bodden gebracht. Mit diesem „Hopser“ sollte die Undine die flache Stelle bei Kinnbackenhagen überwinden. Deshalb wurde das Schiff bis vor Ort gefahren und ging dort vor Anker. Im Verlauf der Nacht kam auch das erwartete Hochwasser, allerdings steigerte sich der Wind unerwartet bis zu einem Orkan. Der eine Anker hielt nicht, auch der zweite nicht. Mit der Maschine zu manövrieren verbot sich in der Dunkelheit im engen Gewässer. Dieser Orkan vertrieb die Undine auf eine Sandbank ohne dass die Besatzung etwas machen konnte.

Der Eigner entschied daraufhin, sein Eigentum an der Undine aufzugeben. Der Kapitän wurde später polizeilich vernommen, ein schuldhaftes Verhalten konnte ihm jedoch nicht vorgeworfen werden. Aber es wurmte ihn, dass ihm in den Medien Dinge unterstellt wurden, die seiner Meinung nach jeglicher Grundlage entbehren. So warf ein Leserbriefschreiber die Frage auf, ob vielleicht mangelnde Geografiekenntnisse des Kapitäns zur Havarie führten, oder ob kein Kompass und keine Seekarten an Bord gewesen seien. Im Nachhinein konnte dem Kapitän aber glaubhaft versichert werden, dass diese Fragen eher lästerlich gemeint waren. Die Anspielung des Lästerers auf die mangelhaften Geografiekenntnisse seien lediglich in spaßhafter Absicht als Aufhänger benutzte worden.

Der Kapitän meinte daraufhin, er sei durchaus nicht empfindlich und reagiere inzwischen nicht mehr auf irgendwelche Anwürfe. Bei ihm, dem Lästerer, sei er allerdings der Meinung, dass er es ehrlich meinte, und nur die Zusammenhänge nicht im Detail kenne. Ein Schiffsführer sei für die Fahrt des Schiffes verantwortlich, und er habe sich auch gestellt und keine Behörde habe ihm ein Fehlverhalten vorgeworfen. Es passieren auf See nun mal Dinge, meinte er, die man nicht immer voraussehen kann. In der Unglücksnacht seien außer ihm, dem Kapitän, sowie dem Eigner, dem Maschinisten und sogar einer Köchin eine ausreichende Besatzung an Bord gewesen, sagte er.

Wenn Sie wollen und Lust haben, schreiben Sie mir oder stellen Sie die Fragen, die Sie beantwortet haben möchten“, lautete abschließend das Angebot des Kapitäns.

(Übrigens, in dieser Nacht des 14. Januar 1993 sank auch die polnische Fähre Jan Heweliusz vor Rügen). [*LÜCKEMANN]

 

Unterwachtmeister Knubbel droht: „Ich werde dir Moses lernen!“
Fiete hat seinem Freund Jan soeben eine Story aufgetischt, die Jan ihm nicht so richtig abkaufen will. Es ist die Geschichte von der Probefahrt seines Onkel Piet, die vor vielen Jahren im Zingster Strom in einer Katastrophe endete.
Noch während er erzählt, beobachten sie, wie sich bei einem recht steif aus Nordost blasenden Wind ein Dampfer seinen Weg durch die harte Bodden-See sucht. Er kommt von drüben, aus Zingst. Der Kapitän muss aufpassen, dass er sein Schiff bei diesen Windverhältnissen gefahrlos durch den Molenkopf bugsiert bekommt. Denn die Seitendrift kann für das Schiff bei dieser kräftigen Brise im engen Fahrwasser problematisch werden. Es klappt aber wie immer bestens, der Käpt´n macht das routiniert und lässt das Typhon mit dumpfem Brummen ein Signal tuten, damit die an Bord befindlichen Passagiere wissen, wir sind glücklich im Hafen gelandet. Und für die an der Pier wartenden Leute heißt es jetzt, fix die Koffer aufnehmen und sich in der Warteschlange vor der Gangway einen möglichst vorderen Platz zu 4sichern.
Jan stupst Fiete an, macht ihn mit einer Kopfbewegung auf einen in der Schlange stehenden, schon recht betagten Herrn mit grauem Bürstenschnitt, aufmerksam. Dieser Mann hält sich trotz seines Alters betont aufrecht, in strammer Haltung, wie ein altgedienter General. Eine drahtig-sehnige Erscheinung, das Kreuz durchgedrückt und das Kinn energisch nach oben gerichtet. Besonders markant an seinem Gesicht ist aber die Nase. Sie hängt etwas weit über die Oberlippe hinaus und ist stark gekrümmt, man nennt so etwas Hakennase. Auch Fiete betrachtet jetzt den Mann interessiert. Besonders die erwähnte Nase erregt seine Aufmerksamkeit, kommt sie ihm doch seltsam bekannt vor.
„Was ist mit dem, kennst du ihn?“
„Ja“, sagt Jan, „das ist Bruno, die Nase ist sein Markenzeichen, die macht ihn unverwechselbar. Sonst hätte ich ihn vielleicht gar nicht bemerkt.“
„Richtig! Jetzt kommt er mir auch bekannt vor! War der vor Jahren nicht hier in der Stadt bei der Polizei? Der hat mir 1957 beim Dammtor aufgelauert, um mir einen Strafzettel zu verpassen.“
Fiete erzählt seinem Freund daraufhin eine Geschichte aus seinen Anfangstagen als Lehrling.
„Bruno war damals ein sogenannter Volkspolizist. Er war ein Mensch, der seine Polizeiuniform über alles verehrte und mit Leidenschaft trug, in er tiefsten Überzeugung, die Weltordnung nähme ohne ihn einen üblen Verlauf. In der Wichtigkeit für unsere Stadt wähnte er sich noch weit vor Hans Rewoldt, unserem damaligen Bürgermeister. So jedenfalls sah sich Bruno selbst, wenn er in seiner Uniform mit den Unterwachtmeister-Rangabzeichen und dem ledernen Tschako würdevoll durch die Straßen patrouillierte. Und wenn ihn die Leute immer wieder so komisch anglubschten, dann war er wohl der Meinung, sie tun das aus lauter Respekt vor seiner Person und seiner grasgrünen Polizei-Kluft.“
Eine nicht zu übersehende Erscheinung ist dieser Mensch, etwa einsneunzig groß. Doch nicht das ist es, womit er die Blicke auf sich lenkt. Man kann einfach nicht an ihm vorbei gehen, ohne ihm ins Gesicht zu schauen. Seine Nase, dieser ungewöhnlich große, markante Zinken war und ist das Ziel des allgemeinen Interesses. Die Leute nannten ihn, was er auch wusste, seines Zinkens wegen einfach nur „Knubbel“. Hören durfte er das allerdings nicht. Da konnte er fuchsteufelswild werden und ganz ungemütlich ausrasten.
„Als ich Mitte der 1950er Jahre meine Lehre begann, rang sich mein Vater schweren Herzens dazu durch, mir seinen Drahtesel zu überlassen“, erzählt Fiete, „immerhin war es ein Fahrrad der Marke Patria WKC. Das hatte er aus dem Westen mitgebracht. Für dieses Geschenk war ich ihm wirklich sehr dankbar, denn von der Werftstraße bis zum VEB Landmaschinenbau galt es ohne Rad doch ein schönes Stück Fußweg zurückzulegen. Da kam mir das Fahrrad sehr gelegen. Mein Lehrbetrieb hieß noch vor wenigen Jahren `PEG Pommersche Eisengießerei´, von allen nur Pommersche genannt. Erinnerst du dich noch daran, wie früher der Eichgraben und die Trienseestraße gepflastert waren?“
„Aber ja, ich weiß das noch sehr gut. Da hättest du dir bei dem Knüppelpflaster im Dunkeln damals sämtliche Beine brechen können, wenn du vom Gehweg runter gegangen wärst. Mit einem Auto hat sich da niemand durch getraut, wäre für die Federn und Stoßdämpfer absolut tödlich gewesen. Die reinste Katastrophe. Aber wer hatte da schon ein Auto?“
Mit dem Fahrrad wollte Fiete bei seinem morgendlichen Weg zur Pommerschen nicht auf dem sehr schmalen Gehweg fahren, denn zu dieser Stunde kamen ihm die Werftler entgegen, die zur Arbeit in der Bootswerft wollten. Am rechten Straßenrand gab es an den Gärten entlang einen unbefestigten Wegstreifen, der bei trockenem Wetter gut zu befahren war. Zumindest bis zur Schlosserei Fuhljahn. Das letzte kurze Stück musste er aber wieder auf das Knüppelpflaster ausweichen.
Schon damals war der Eichgraben, genau wie heute noch, eine Einbahnstraße, in die von der Hafenstraße her nicht rein gefahren werden durfte. Das wusste Fiete. Aber, sagte er sich aus alter Gewohnheit, hier kommt ja sowieso kein Fahrzeug durch. Und so befuhr er mit der größten Selbstverständlichkeit regelmäßig frühmorgens diesen Weg in verbotener Richtung. Womit er nicht gerechnet hatte, passierte aber doch einmal. An der Ecke Eichgraben/Breitscheidstraße stand vor dem Frisörladen Bründel ein Volkspolizist. Es war dieser Bruno mit dem Superzinken!
„Nichts Böses ahnend wollte ich über die Straße fahren und rauf auf den Bleicherwall. Dass ich den Eichgraben wie an allen Tagen zuvor in der verkehrten Richtung benutzt hatte, das kam mir überhaupt nicht zu Bewusstsein. Da erschallte lautstark der polizeiamtliche Befehl HALT, ABSTEIGEN!! Gegenüber auf der anderen Straßenseite standen beim Bäcker Ewert Otto Kromerich und Luden Karl die nach ihrer Nachtschicht darauf warteten, dort ein paar Brötchen kaufen zu können. Die guckten, vom Halt-Ruf aufgeschreckt, interessiert zu Bruno hin und warteten gespannt, was hier wohl geschehen sei.
Ich hatte schon fast den Bleicherwall erreicht, blieb jetzt aber erschrocken stehen, stieg vom Rad und blickte mich zu dem Polizei-Menschen um. `Komm her, du Flegel´, befahl er. Wenn ein Volkspolizist einen zu sich befahl, hieß das, du hast etwas Schlimmes ausgefressen! Also zeigte ich ihm eine schuldbewusste Miene, ohne mir wirklich einen Vers darauf machen zu können, was der Superzinken von mir wollte. Aber sicher ist sicher dachte ich mir, und diese reuige Miene kostet mich ja nichts.“
Natürlich wusste Fiete nicht, was der Polizei-Piesepampel Bruno an seinem Verhalten auszusetzen hatte. Er befürchtete nur, dadurch zu spät in die Pommersche anzukommen, wenn ihn dieser Mann mit dem Tschako weiter hier aufhielte.
„Denn wenn ich verspätet in der Werkstatt eingetroffen wäre, hätte ich gleich von zwei Seiten Feuer bekommen. Und zwar nicht nur vom Ausbilder, sondern auch vom Pförtner Kniebsel. Der Kniebsel, das kann ich dir sagen, Jan, das war 5ein Despot wie er im Buche steht. Morgens hatte man sich im Betrieb auf einer Stempelkarte mittels Stechuhr sein Eintrudeln dokumentieren zu lassen. Zum Feierabend dann wieder das gleiche Prozedere.
Die Stechuhr, auch Stempeluhr genannt, war in dem Eingang, durch den wir Lehrlinge gehen mussten, dauerhaft außer Betrieb. Gemunkelt wurde, der Kniebsel habe bei der BGL (Betriebsgewerkschaftsleitung) durchgesetzt, dass das Ding nicht wieder in Betrieb genommen würde. Er hatte aus irgendwelchen Gründen ganz offensichtlich einen ziemlichen Rochus auf uns Lehrlinge und wollte uns durch die stillgelegte Stechuhr zwingen, mit der Karte bei ihm an sein Kabuff-Schiebe-Fensterchen zu treten. Er wollte, dass wir uns ganz persönlich von ihm die Ankunftszeit handschriftlich eingetragen bekamen. Kniebsel lag wohl sehr daran, die Jungs absolut unter Kontrolle zu haben.
Hatte ich mich nun doch einmal verspätet, was ja immer passieren kann, so versuchte ich mich in gebückter Haltung am Eingang vorbei zu mogeln und durch den hinteren Eingang in die Lehrwerkstatt zu kommen.“
„Das machst du aber nicht mit mir“, sagte sich der Kniebsel wohl, der das durch sein vorderes Fenster natürlich mitbekommen konnte, humpelte zum Ausbildungsleiter und petzte mit hämischem Gegrinse.
„Dann führte er mich zurück an den Kasten mit den Karten und trug die Zeit ein. Das passierte bei allen zu spät gekommenen Mitlehrlingen nicht anders, beinahe täglich. Und so hegten und pflegten beide Seiten ihre tiefgehende Abneigung gegeneinander.“
„Wie ging das nun aber weiter mit deiner Eichgraben-Einbahnstraße“, drängelt Jan.
„Ich wurde schließlich darauf hingewiesen, eine Einbahnstraße heiße so, weil man sie nur in einer bestimmten Richtung befahren darf. Da fiel bei mir der Groschen, und ich sagte, das würde ich einsehen und auch nie wieder tun. Aus lauter Beflissenheit gab ich ihm mein großes Pionierehrenwort und hätte ihm um ein Haar sogar noch den Pioniergruß gezeigt! Bei so viel reuiger Einsicht meinerseits durfte ich nach ein paar weiteren pseudo-pädagogischen Worten vonseiten der uniformierten untersten Staatsmacht wieder auf das Rad steigen und weiterfahren.“
„Keine Strafe? Bist glimpflich davongekommen“, sagt Jan. „Wie bist du denn später gefahren, den Stadtwall entlang?“
Nein, ist Fiete nicht.
„Ich sagte mir, der hat mich zufällig mal erwischt, deswegen muss ich doch nicht gleich einen weiten Umweg in Kauf nehmen. Also benutzte ich weiter den Eichgraben in der verbotenen Fahrtrichtung. Aber zur Vorsicht stieg ich am nächsten Morgen und auch noch an ein paar weiteren Tagen auf Höhe der Schlosserei Fuhljahn vom Rad und schob es bis zur Straße hin.
Der Aufpasser war nicht zu sehen! Muss also nicht absteigen, meinte ich und nahm nach ein paar Tagen meine Tour im Eichgraben in alter Weise wieder auf. Dann gab es erneut einen großen Schreck: Der Aufpasser hatte wohl genauso gedacht wie ich.
„Der Bengel wird sich bestimmt in Sicherheit wiegen, wenn ich für einige Zeit nicht hier beim Eichgraben auf Posten stehe“, war wohl auch Bruno´s Logik.
„Ich komme da also wieder so gegen halb sieben meinen Eichgraben hochgepest und sehe zu spät,
dass der olle humorlose Fiesling wieder dort herumlungert und am Frisörladen Stellung bezogen hatte. Die Falle schnappte ganz folgerichtig und verdientermaßen zu. Bruno deutete auf das Verkehrszeichen an der Hauswand, auf dem der Pfeil in die entgegengesetzte Fahrtrichtung zeigte, und meinte, wer nicht hören kann muss eben fühlen. Dann zückte er einen Strafzettelblock aus seiner schwarz-ledernen Kartentasche und sagte grienend: Eine DM als Strafe!
Nur deswegen hatte er sich also schon so früh auf die Lauer gelegt. Nur um einem kleinen unschuldigen Lehrling das Geld aus der Tasche zu ziehen! Bei meinem Lehrlingsgeld von fünfundfünfzig DM im Monat tat das weh.“
„Eine Mark? Ist doch eine Klackssache, Rosi musste vorige Woche zehn Euro berappen, nur weil sie mit dem Fahrrad auf dem Gehweg gefahren ist. Das sind zwanzig DM, umgerechnet!“
Da kam aber noch etwas. Fiete sagte nämlich: „Ja, ich weiß jetzt, dass ich hier nicht mehr langfahren darf. Mache ich niemals nicht wieder, Herr Knubbel!“
Dass Knubbel gar nicht Knubbel hieß, das wusste Fiete ja nicht, er hatte das immer nur von anderen Barthern so sagen gehört. Jetzt riss der seinen polizeiamtlichen Mund ganz weit auf und wollte wie ein ostpreußischer Rittergutsinspektor losbrüllen. Doch da geschah ihm ein Missgeschick. Vom Oberkiefer löste sich seine Zahnprothese und klappte nach unten. Drei Zähne hingen da dran. Oh wie peinlich für ihn, ein Hüter des Gesetzes und Vertreter der sozialistischen Staatsmacht darf doch nicht solch einen lächerlichen Anblick bieten. Zumal er gerade im Begriffe ist, einen Gesetzesbrecher in die Schranken zu verweisen. Nach einer Schrecksekunde hinderte Bruno seine verrutschten Beißerchen an einem weiteren Fluchtversuch und beförderte sie mit einer energischen Geste wieder an ihre angestammte Position zurück.
Jetzt ging es aber los. Bruno schnappte förmlich nach Luft bei dem Namen Knubbel, und brüllte jetzt wie ein angestochener Ochse los: „Was erlaubst du dir da, du Flegel, was heißt hier Herr Knubbel? Ich bin für dich der Herr Polizei-Unterwachtmeiste Zieslkopp. Na warte, ich werde dir Moses lernen!“
Von seiner kleineren Schwester, die in Vogelsang die Oberschule besuchte, hatte er mal gehört, dass man einen „Flegel“ Mores lehren muss. Doch bei seiner Volksschulbildung konnte Bruno das nicht so richtig einordnen. Kraft seiner Wassersuppe hielt er für Fiete noch eine besonders perfide Überraschung bereit.
„Ich musste am folgenden Sonnabend zur Verkehrserziehung bei der Polizei antanzen. Die Polizeiwache befand sich damals im nördlichen Seiteneingang des Rathauses, noch immer Landratsamt genannt, wo heute das Stadtarchiv seine Räumlichkeiten hat. Ich staunte, der Raum war voll von weiteren Verkehrssündern.
6Eigentlich hätte ich nach der Schulung eine Eins plus bekommen müssen, so gut konnte ich den Genossen Volkspolizisten die Verkehrsregeln erklären.“
Fiete hat künftig aber doch lieber die Hafenstraße und den Stadtwall benutzt.

Weißt du noch, wie der Dampfer hieß?

Aber weil der Tag zu schön ist, um schon nach Hause zu gehen, bleiben sie noch eine Weile am Hafen auf ihrer Klönbank sitzen. Sie beobachten weiterhin interessiert und auch amüsiert das Treiben der Urlauber und der anderen Müßiggänger rund um den Anleger für die Fahrgastschiffe. Fiete fällt dabei eine Story aus dem Jahr 1956 ein und bringt das Gespräch auf ein interessantes Thema und fragt:
„Weißt du noch, was wir damals für eine Dampferfahrt rüber nach Zingst bezahlt haben, Jan?“
Mit damals meint er seine Schulzeit, in den 1950er Jahren.
„Ich glaube, das waren wohl so um die fünfundachtzig Pfennige bis nach Zingst. Mit dem Bus kostete es eine Mark und zehn.“
„Heute zahlst du zehn Euro, umgerechnet sind das zwanzig Mark! Westmark! Und für eine Fahrt mit dem Dampfer bis nach Prerow musste man eins sechzig zahlen. Was sind das bloß für fiese Zeiten geworden“, erbost sich Fiete.
Ja, die so genannten guten alten Zeiten! Dabei vergessen unsere beiden Helden, dass der Reeder mit diesen Preisen wohl schwerlich kostenmäßig über die Runden gekommen wäre, wenn der Staat nicht kräftig Subventionen über den Tisch geschoben hätte.

Und da kommt die Frage „weißt du noch wie der Dampfer damals hieß.“
„Ja, weiß ich, Walter war der Name. Aber weißt du denn auch, dass es zwei Dampfer gab, die damals von Barth nach Zingst und nach Prerow fuhren?“
„Nee, sag bloß, zwei Dampfer? Wie hieß denn der andere?“
„Das war Onkel Fritz, der war wohl etwas kleiner als Walter. Bei Walter passten nämlich 140 Leute rauf.“
Reeder der Schiffe war Walter Krusemark. Er betrieb auch einen Kohlehandel und den Hafenumschlag. Wenn nun Urlauber mit der Bahn in Barth ankamen und zu ihren Quartieren auf die Halbinsel wollten, mussten sie irgendwie weiterbefördert werden. Die Bahnlinie endet in Barth, denn die Darßbahn nach Zingst und Prerow war 1946 stillgelegt und die Anlagen als Reparationsleistung für die Sowjetunion demontiert worden.
Bis Mitte der 1950er Jahre existierte noch keine zuverlässig funktionierende Infrastruktur wie es heute der Fall ist. Die Buskapazitäten waren noch völlig unzureichend, auch für die damaligen bescheidenen Verhältnisse. In der Sundischen Straße gab es das eingesessene, privat geführte Busunternehmen Schütt noch aus alten Zeiten. Zwei Busse hatte das Unternehmen. Der eine Omnibus fuhr mit einem Anhänger, der einen separaten Zustieg hatte. Beide Busse waren von taubenblauer Farbe und trugen Namen: „Heimat“ und „Heimatland“.
Daneben existierte aber auch schon ein volkseigenes, also schon nicht mehr privates, Busunternehmen. Für beide Firmen galten verbindliche Fahrpläne. Die Anzahl der Abfahrten war, bedingt durch die viel zu wenig vorhandenen Fahrzeuge ziemlich dürftig. Dazu kam noch, dass die volkseigenen Busse nicht immer zu den angegeben Zeiten fuhren. Ausfälle waren an der Tagesordnung. Ob es an einer Unzuverlässigkeit des Personals lag, oder ob technische Mängel dafür verantwortlich waren, das entzieht sich heutiger Kenntnis.

Diese volkseigenen Busverbindungen wurden von vielen Leuten gemieden, wenn es sich einrichten ließ. Eine Fahrt mit dem „Privatbus“ dagegen bevorzugten die meisten Leute. Für manche galt wohl das Fahren mit dem VEB auch als unanständig. Da war es sehr hilfreich, dass noch die beiden Fahrgastschiffe „Walter“ und „Onkel Fritz“ zwischen dem Barther Ost-Hafen und den Ostseebädern Zingst und Prerow fuhren. Die Dampfer hatten außerdem eine viel größere Kapazität zur Beförderung der Urlauber als die wenigen und schon recht klapperigen Omnibusse.
Also, um nach Zingst oder nach Prerow in die Urlaubsquartiere zu kommen, nutzten die Bahnankömmlinge gerne die Dampferverbindung über den Barther Bodden. Diese Seereise war für die Berliner oder Sachsen auch wiederum ein zusätzliches Erlebnis vor dem eigentlichen Urlaubsziel.
Nur bei der Sache gab es ein Problem. Wie kommt der Urlauber, der mit Koffern und Taschen bepackt ist, zum Hafen runter? Das sind immerhin anderthalb bis zwei Kilometer!

Bis zum Frühjahr 1956 wohnten wir in Barth-Stein und ich besuchte die Zentralschule in Pruchten“, erzählt Fiete. „Dann bezogen die Eltern eine Wohnung in der Barther Hafenstraße. Für mich war das mit einem Schulwechsel verbunden. Ab dem 1. September ging es in die Fritz-Reuter-Schule an der Papenstraße. Die letzten Wochen des alten Schuljahres musste ich bis dahin aber in Pruchten absolvieren. Das bedeutete, einige Wochen lang nach Unterrichtsende den Weg von Pruchten nach Barth unter die Füße zu nehmen, den Heimweg also häufig per pedes zu bewältigen! Denn ein Bus fuhr nicht immer gerade zur passenden Zeit. Und sich auf den Bus-Fahrplan zu verlassen, war auch immer eine ungewisse Angelegenheit. Hier in Barth kam mir sofort eine Idee, um mit einer Dienstleistung, wie man das heute nennen würde, den bedauernswerten Urlaubern am Bahnhof einerseits behilflich zu sein, und sich andererseits mir etwas Geld zu verdienen. Die Leute asteten mit ihrem schweren Gepäck durch die ganze Stadt bis runter in den Hafen. War bestimmt nicht angenehm für die Urlaubers. Die wollten sich hier doch erholen, und dann so was! Stell dir das mal vor, im Sommer bei vierzig Grad Hitze, mit Gepäck und vielleicht noch mit kleinen Kindern an der Hand! Und weit und breit kein Gepäckträger, kein Helfer mit Transportgerät in Sicht! Die taten mir richtig leid.“

Aber Fiete wäre nicht Fiete gewesen, wenn ihm da nicht eine Abhilfe eingefallen wäre. Er mauserte sich quasi zum Jungunternehmer, zum Kapitalisten, wenn auch nur zu einem ganz kleinen und ganz bescheidenen. Dafür aber zu einem 7überaus sehr hilfreichen! Doch ganz selbstlos war er mit seiner Idee auch nicht.
„Ich habe mir Vaters Handwagen geschnappt und bin damit zum Bahnhof gezuckelt, habe mich dort auf dem Vorplatz hingestellt und wenn die Leute dann rauskamen und ratlos und hilfesuchend in die Runde guckten, dann habe ich gefragt, ob ich ihnen für fünfzig Pfennige pro Gepäckstück helfen könne. Vom Zug bis zum Dampfer runter, für nur fünfzig Pfennige!“
„Das war aber ein schöner Zug von dir.“

Was meinst du, wie die sich erst über mich gewundert und dann aber gefreut haben. Am Hafen gab es manchmal noch einen Groschen extra dazu. Und so habe ich der Menschheit eine Wohltat erwiesen, habe im Sozialismus marktwirtschaftlich Vorbildliches geleistet und habe damit den Grundstock für meinen heutigen Wohlstand gelegt. Dies war mein erster und gleichzeitig auch letzter Versuch, in der Marktwirtschaft, diesen Begriff kannte damals noch niemand, durchzustarten.“
Was die Dampfer „Walter“ und „Onkel Fritz“ anbelangt, da ist zu fragen, wo sind sie abgeblieben. Verkauft? Verschrottet? Oder klamm und heimlich spurlos im Bermuda-Dreieck verschollen gegangen? Walter lebt, fährt immer noch als strahlend weißes Schiff über die Gewässer und heißt jetzt „Kieler Sprotte“. Von Onkel Fritz ist allerdings keine Spur mehr zu finden.

Den Satz weiter oben, vom Wohlstand, sollte man so verstehen, wie er gemeint ist. Ganz sicher sehr launig, „denn ich habe es auch nur bis zu einem ganz normalen, unterdurchschnittlichen Durchschnittsrenter gebracht.“

Der Dampfer hatte mit Zinken-Bruno Knubbel an Bord in der Zwischenzeit abgelegt und war schon fast auf der anderen Boddenseite angelangt. Die beiden Freunde schnappten sich ihre Fahrräder und fuhren nach Hause. Natürlich nicht durch Einbahnstraßen in falscher Richtung.

 

Der "Eichgraben"
Warum heißt die Straße „Eichgraben“ eigentlich Eichgraben. Plätscherte hier in früheren Jahren wirklich ein Wasserlauf? In der Chronik der Stadt Barth erwähnt Wilhelm Bülow auf Seite 374 einen darauf schließen lassenden Vorgang.
„1852: In diesen und den folgenden Jahren wurde besondere Aufmerksamkeit den Straßen der Stadt zugewendet. […] Der Eichgraben wurde ausgefüllt, die dadurch entstandenen Gärten wurden ausgemessen und den anliegenden Hausbesitzern auf 10 Jahre für eine Pacht von 4 Pfennigen für die Geviertrute* gegeben; später sollte die Stadt darüber freie Verfügung haben. Die Einnahmen aus diesen Gärten wurden den Repräsentanten zuerkannt; dafür sollten sie auch die in der Sache nötigen Schritte tun. Der Weg vom Fischertor bis zum Eichgraben wurde als Spazierweg geebnet, mit Bäumen bepflanzt und durch eine Einfriedung geschützt.“
(*In Preußen hatte die Quadratrute bzw. Geviertrute nach der Maß- und Gewichtsordnung vom 16. Mai 1816 14,1846 m²).
Auffallend ist, dass die Straße bei Bülow nicht einfach als „Eichgraben“ Erwähnung findet, sondern von dem Eichgraben gesprochen wird. Was sich bis in die neuere Zeit so erhalten hat. Aus meiner Zeit in den 1950er Jahren kenne ich den Eichgraben als eine Straße mit einem unzumutbaren Pflaster. Es war nicht nur äußerst holperig und buckelig, es sackte stellenweise am Rand ab, es hing sozusagen schief in Richtung der Gärten. Das Ganze erweckte den Eindruck, als sei die Straße auf einem moorigen Untergrund errichtet worden.
Eine weitere Beobachtung aus jener Zeit könnte die Schlussfolgerung zulassen, dass der Wasserlauf, sofern es hier einen solchen tatsächlich gegeben haben sollte, in das Hafenbecken zwischen der Holzerland´schen Schiffswerft und dem Dampfsägewerk Teetz führte.
An dem Ende der großen Halle des ehemaligen Sägewerkes, in der eine Dampfmaschine ihren Dienst versah, gab es eine Bodensenke. Bis etwa 1956 waren auf dem Werftgelände Kinder zu beobachten, wie sie gefährlich über eine schmale, aus Holz bestehende Wand balancierten, die etwa einen Meter aus dem Wasser ragte. Diese Wand war die Absperrung eines ehemaligen Grabens. Das Wasser des Hafenbeckens reichte bis zur Absperrung, dahinter war eindeutig erkennbar, dass dort ein Wasserlauf einmal aus Richtung Hafenstraße/Eichgraben hierher geführt haben musste. Den Graben hatte man nach und nach mit allerlei Abfällen, wie Hobelspänen aus der Tischlerei der Werft, aufgefüllt. Die Senke war noch einige Meter zur Hafenstraße hin erkennbar, bis auf Höhe der Mechanischen Werkstatt des „VEB (K) Bootsbau und Reparaturwerft Barth“, ab 1965 „VEB Schiffbau- und Reparaturwerft Barth“. Stieg bei länger anhaltendem Ostwind der Bodden stärker an, so stand der Weg in der Werft in diesem Bereich gelegentlich unter Wasser, wenn auch nur geringfügig.
Als der damalige Betriebsleiter Bruno Felgenhauer eine betonierte Ringstraße um die betrieblichen Bauten errichten ließ, wurde die Senke mit Boden angefüllt und das Geländeniveau damit angehoben. Von dem bis dahin noch zu erahnenden restlichen Grabenlauf, mitsamt der hölzernen Absperrung, war danach nichts mehr erkennbar. Bei Baggerarbeiten in der Folgezeit gab es dann einen Durchstich zwischen den beiden Hafenbecken. Eine kleine Insel entstand und die Uferbefestigung erhielt eine richtige Kaimauer. Damit waren die letzten Spuren des Grabenzulaufes endgültig verschwunden.

Rüdiger Pfäffle



 

Die Badestelle am Enzuferweg

Häufig wanderten Cousine Monika mit ihren Schulfreundinnen und einigen anderen Kindern zu ihrer bevorzugten Badestelle beim Gaswerk an der Enz. Sie waren alle etliche Jahre älter als Fiete, daher nahmen sie Fiete nicht jedes Mal mit. Wenn er dann aber doch mit von der Partie sein durfte, freute er sich ungemein inmitten der größeren Mädels und Buben. War Cousin Klaus dabei, dann gab der als der Älteste, und auch körperlich der Größte, den Ton an. Klaus war der unumstrittene Häuptling der Truppe. Treffpunkt war ein Grundstück hinter einem zerbombten Haus in der Rohrstraße. Von hier zog die Meute, den kleinen Fiete herablassend-wohlwollend duldend, die in Trümmern liegende Erbprinzenstraße entlang Richtung“Alter Friedhof“ und die Geigerstraße runter zum „Enzuferweg“.

Dieser Weg heißt eigentlich Abnomastraße“, sagt Fiete im Rückblick auf jene wunderbaren Kindheitserlebnisse. „Doch das Wort war mir zu kompliziert und damit konnte ich auch nichts anfangen. Enzuferweg dagegen sagten die anderen auch immer dazu, war doch viel eindeutiger. Heute weiß ich natürlich, dass der Name auf die römisch-keltische Muttergöttin des Schwarzwaldes Abnoba zurückgeht. Im Jahre 1909 wurde an der Altstädter Brücke bei einer Enzregulierung ein Weihestein ebendieser Göttin gefunden. Erst später folgte der Name Enzuferweg als Zusatzbezeichnung.“

Nach etwa fünfzig Metern vom Kanzlerweg entfernt, war die Badestelle erreicht.

Weshalb es immer gerade hier vor den beiden Gasometern sein musste, und nicht ein Stück weiter die Enz runter, das weiß ich nicht. Es wäre eigentlich völlig schnuppe gewesen, überall konnte man auf dem breiten Rasen zwischen der Enz und dem Deich die Decken ausbreiten.“

Es traf sich stets die gleiche Clique, lauter Mädels und Jungs im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren, sie kannten sich aus der Schule. Die meisten besuchten, ebenso wie Fiete auch, die an der Brettener Straße gelegene Nordstadtschule.

Warum Monika und Klaus mich nicht so gerne dabei haben wollten, wenn sie sich mit den anderen an der Enz trafen, bekam ich natürlich bald mit. Auch wenn ich noch recht klein war und mir ihr Treiben nicht nur unverständlich und albern erschien, ahnte ich es: Ich beobachtete, wie die Großen schmusten, kuschelten und sich verstohlen auch küssten. Sie befürchteten, dass ich das der Tante Marga petzen könnte. Habe ich aber nie getan. Denn, das war mir klar, dann nähmen sie mich nie wieder mit.“

Tante Marga wohnte in einem mehrstöckigen Eckhaus an den völlig zerbombten und in Trümmern liegenden Straßenzügen Erbprinzenstraße/Rohrstraße. Es stand so völlig alleine inmitten all der ansonsten zerstörten Straßen nach der Bombardierung am 23. Februar 1945 durch die British Royal Air Force. Ob es als Eckhaus dem Luftdruck der Bomben widerstehen konnte, oder ob es nach 1945 wieder aufgebaut worden war, weiß Fiete nicht. Ist aber doch sehr wahrscheinlich, denn von allen andern Häusern standen lediglich noch die Kellermauern.

Unten im Hause befand sich eine Bäckerei, da duftete es im gesamten Treppenhaus so wunderbar nach frischem Brot und Kuchen. Doch Tante Marga kaufte dort nie ein, sie hatte sich mit dem Bäcker, der auch der Hausbesitzer war, hoffnungslos überworfen.“

Oben, in der vierten Etage, wohnte die Tante mit Fiete´s Cousine Monika und seinem Cousin Klaus. Sein Onkel war in seinem Auto fahrend bei dem Bombenabgriff auf Pforzheim durch einen Volltreffer ums Leben gekommen. Im Schlafzimmer der Tante stand ein Klavier.

Monika nahm Klavierunterricht und versuchte, mir ihre Kenntnisse beizubringen, was jedoch nicht so sehr erfolgreich war. Doch Klavierkonzerte mag ich besonders gerne. Ob Monikas Bemühungen doch Früchte trugen? Sie belegte alle Tasten des Instrumentes mit einem Buchstaben, ebenso die Noten im Notenheft. Danach sollte ich dann die Stücke spielen. Ich habe das gerne getan, Monika allerdings verzog immer ihr Gesicht dabei, als hätte sie Zahnweh.“

Aus dem Küchenfenster hatte man aus der vierten Etage einen weiten Blick über die Enz nach Buckenberg rüber zum Hagenschieß. Mit dem Fernglas beobachtete Fiete eines Tages einen großen Brand im Hagenschieß. Die US-Army betrieb drüben in Buckenberg einen militärischen Komplex mit der Buckenberg-Kaserne mit einem dazugehörigen Munitionslager.

Große Rauchschwaden stiegen in der Ferne auf, mehrere Explosionen konnte ich hören. Was dort gebrannt hatte und was es mit den Explosionen auf sich hatte, das wurde nicht bekannt. Die Ami´s hielten es natürlich nicht für nötig, der deutschen Bevölkerung jede Kleinigkeit aus ihrem Bereich auf die Nase zu binden.

Monika und Klaus erhielten privaten Unterricht in klassischer Musik. Das hielt sie später aber nicht davon ab, auch einem Club für Rock´on Roll beizutreten. Das wiederum passte Opa Gottlob überhaupt nicht. Er war sehr gläubig und ausgesprochen konservativ in seinem Denken und Verhalten. Gleiches erwartete er auch von seiner Umgebung.

 

Merklingen 1950 - Maikäferjagd

Maikäfer, flieg!
Der Vater ist im Krieg.
Die Mutter ist im Pommerland.
Und Pommerland ist abgebrannt.

Maikäfer flieg.“

Auf den Dreißigjährigen Krieg soll sich dieses Lied angeblich beziehen. Denn als der Westfälische Frieden im Jahre 1648 jenen schrecklichen Ereignissen ein Ende bereitete, lag das Pommerland gar arg verwüstet darnieder.

Im Mai 1950 war es, möglicherweise trug es sich aber auch ein Jahr danach zu. Ich besuchte die erste oder die zweite Klasse der Volksschule in der Hofmauerstraße in Merklingen. Das beeindruckende Schulgebäude ist inzwischen ein Baudenkmal. Dafür entstand im Friedhofsweg ein neuer Schulkomplex, die heutige „Würmtalschule“.

An einem Sonnabend jenes Jahres holte mich meine Cousine ab, ich durfte das Wochenende bei meinem Opa in Pforzheim verbringen. Sonniges, warmes Maiwetter herrschte, einfach wunderschön, so wie man es im Schwarzwald halt gewohnt ist zu dieser Jahreszeit. Die Großen nahmen mich zum nachmittäglichen Gottesdienst mit und wir besuchten danach noch Opas ehemaliges, 1942 zerbombtes Haus in der Dammstraße. Gleich um die Ecke befindet sich das Lokal „Hotel Zeppelin“. Für Opa war es schon seit eh und je üblich, nach den Gottesdiensten hier zum Essen einzukehren. Wenn ich in Pforzheim war, und das war häufig der Fall, freute ich mich immer auf diesen Tag. Auf jedem Tisch standen zwei Becher. Einer mit Kümmelstangen, der andere mit Salzstangen bestückt. Davon durfte gratis geknabbert werden. Was meine Eltern zu Hause nicht erlaubten, durfte ich aber beim Opa bei dessen Besuchen im Zeppelin: Ich wünschte mir eine Coca-Cola und bekam sie auch. Draußen an der Hauswand der Gaststätte prangte rechts neben der Türe ein Reklameschild mit der Darstellung einer Coca-Colaflasche und der Aufschrift. „Trink Coca-Cola, eisgekühlt“. Wenn der Wirt dann die Cola vor mich hinstellte, fühlte ich mich mit dem Getränk zu den Erwachsenen gehörend. Opa trank aber keine Cola, sondern sein Bierchen.

Danach folgte zur besseren Verdauung ein Spaziergang am Ufer der Enz entlang nach Hause in die Redtenbacher Straße.

In jenem Jahr 1951 gab es schon seit Ende April auffallend viele Maikäfer. An diesem Maitag wurden sie durch das sommerlich warme Wetter aus der Reserve gelockt, so dass sie bereits am hellerlichten Tage durch die Gegend flogen. Sie schwirrten zu Dutzenden um die Lindenbäume am Straßenrand, die Bäume standen im jungen, frischen Grün mit ihrem noch zarten Laubwerk. Dort drin saßen sie, man konnte sie überall erblicken. Bei den noch jüngeren Bäumchen genügte ein leichtes Rütteln am Stamm, und sie purzelten auf das Pflaster. Für die Kinder ist es belustigend, den Tierchen dabei zuzuschauen. Sie landen bei ihrem Sturz meistens auf dem Rücken und zappeln dann mit ihren sechs Beinen hilflos in der Luft herum. Doch keine Bange, sie schaffen es, sich bald wieder umzudrehen und auf die Beine zu kommen. Dann beginnt der Käfer mit den Flügeln zu pumpen und erhebt sich schließlich schwerfällig in die Luft. Ein kurzes Stückchen nur fliegt er brummend, bis zum nächstgelegenen Ast, und sofort ist Weiterfressen angesagt.

Meine Cousine und ich jagten den großen, schwerfälligen Maikäfern nach, fingen etliche ein und sperrten sie in eine Zigarrenkiste, die Opa eigens dafür eingesteckt hatte. Natürlich wurden sie später wieder freigelassen, darauf bestand Opa. Aber zuvor wurde festgestellt, wer die meisten männlichen Maikäfer gefangen hatte. Unterschiede sind auf den ersten Blick kaum zu sehen, doch bei genauerem Hinschauen bemerkt man, dass die Hinterleibsspitze bei Männchen und Weibchen unterschiedlich ist. Ansonsten unterscheiden sich Männchen und Weibchen auch noch in der Größe ihrer Fühler. Männchen haben die größeren Fühler.

Das Fangen der Maikäfer war ein allgemeiner Zeitvertreib für die Kinder. Doch 1951 wurde aus dem Spaß an den Mai-Brummern bald eine Plage für große Teile im südwestlichen Deutschland. Sie traten derart massiv auf, dass nicht nur sämtliche Laubbäume, die üblicherweise von Maikäfern

bevölkert werden, befallen waren, sondern jetzt ging es auch den Nadelbäumen im Wald an den Kragen, bzw. an die Nadeln. Die Eichen und Buchen blieben ebenfalls nicht verschont.

Die meisten kahl gefressenen Bäume erholen sich wieder und bilden mit dem so genannten Johannistrieb im Juni noch einmal neue Blätter. Verheerend dagegen kann der Wurzelfraß der Engerlinge sein. Bereits ab zwei bis drei Engerlingen je Quadratmeter Waldboden sind Schäden an Jungbäumen zu befürchten. Probebohrungen in Befallsgebieten um Mannheim ergaben regelmäßig mehr als 100 Engerlinge auf den Quadratmeter. In Wien kam 1951 sogar eine Milliarde Tiere zusammen, aus denen die städtische Tierkörperverwertungsanstalt tonnenweise eiweißhaltiges Maikäfermehl zur Verfütterung an Hühner und Schweine herstellte.

An unserer Schule in Merklingen wurde an einem der folgenden Tage eine Wanderung in den nahe gelegenen Wald anberaumt, mit dem Ziel, Maikäfer einzusammeln. Dazu reichten natürlich keine leeren Streichholz- oder Zigarrenschachteln mehr aus. Die Eltern waren gebeten worden, ihren Kindern Schuh- oder Persilkartons mitzugeben. Und so zottelten wir dann am betreffenden Tag mit unseren Kartons und Schachteln in Richtung Wald.

Unser Klassenlehrer, Herr Geiger, mit großen Schritten immer vorneweg. Bevor der Jagd- und Beutezug auf die Maikäfer starten konnte, sprach Herr Geiger noch einige anspornende Sätze und fragte, wer ein Liedchen vorschlagen könne, mit dem wir den Schulhof verlassen wollten. Na, das war eine einfache Sache, wusste doch die ganze Schule, dass Herr Geiger diese Frage nahezu tagtäglich zu Beginn der ersten Unterrichtsstunde seiner Klasse stellte. Und ebenso wusste die gesamte Schülerschaft was er gerne hören wollte, nämlich „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“.

Herr Geiger hat es verdient, dass ich ein paar Worte über meinen ersten Klassenlehrer verliere. Er hatte während der Jahre des Nationalsozialismus so seine Vorbehalte diesem Regime gegenüber. Unter Anderem weigerte er sich, sich an den Kosten für zwei Masten für Hakenkreuzflaggen, die bei seiner Dienstwohnung aufgestellt werden sollten, zu beteiligen. Auch war es hinlänglich bekannt, dass er dem Heil-Hitler-Gruß nichts abgewinnen konnte. Das Aufhängen von Führerportraits im Klassenzimmer gefiel ihm auch nicht, stattdessen wurden dort unverfängliche Wandbilder aufgehängt.

Die Gestapo leitete aufgrund von Denunziationen gegen ihn ein Verfahren ein, mit dem Resultat, dass ihm am 7. April 1943 die Führung seiner Amtsgeschäfte untersagt wurden. Ihm, seiner Frau und seinen vier Kindern standen dadurch schwere Zeiten bevor.

Am 1. Oktober 1945 wurde er rehabilitiert und am 30. November wurde der Hauptlehrer Geiger zum Rektor der Merklinger Volkssschule ernannt. Bis zum 1. Januar 1965 bekleidete er dieses Amt.

Und genau damit, mit dem Lieblingslied unseres Lehrers, zogen wir singend mit einem stolz voranschreitenden Herrn Geiger durch das Dorf, über die Würmbrücke zum Wald hinüber.

Die fröhliche Stimmung indes hielt im Wald nicht allzu lange vor. Wie es damals üblich war, trugen die Jungen kurze Hosen und die Mädels Röcke oder Kleider. Dieses Angebot ließen die bösen Schnaken natürlich nicht ungenutzt verstreichen und setzten uns mit ihren Stichen erbarmungslos zu. Und die Maikäfer saßen knüppeldicke an sämtlichen Ästen und Zweigen. So etwas habe ich in all den Jahren danach nie wieder zu sehen bekommen.

Bei dieser Erzählung vom Maikäfersammeln des Jahres 1951 mag mancher ziemlich skeptisch dreinschauen und sagen, nu lass aber mal die Kirche im Dorf! Wo hat man so was schon gesehen, dass Maikäfer Bäume richtiggehend kahl machen? Sogar an Tannen und Fichten willst du die gefangen haben. Ich verstehe solche Einwände.

Da möchte ich, mal kurz von den Maikäfern abschweifend, eine andere, ähnliche Naturerscheinung anführen. So mancher dürfte schon einmal bei bestimmten Wetterlagen im Sommer eine Invasion von Marienkäfern erlebt haben. Es gibt Jahre, da treten die Marienkäfer derart massiv auf, dass sie zu einer wirklich lästigen Plage werden können. Sträucher sind dann dicht besetzt mit den Tierchen, sie bedecken ganze Wege und Straßen und setzen sich den Menschen auf die Kleidung, in die Haare

und auf unbedeckte Körperstellen, wobei sie auch in die Haut beißen. Das ist nicht nur lästig, es ist auch schmerzhaft. Besonders ärgerlich wird es beim massenhaften Auftreten an Badestellen oder am Strand. Hier ist die menschliche Haut ja weitgehend unbedeckt. Eine ideale Angriffsfläche für die Marienkäfer. Gelegentlich tritt auch der Fall ein, dass die Marienkäfer millionenfach am Strand angespült werden.

Wie kommt es denn nun zu solchen Phänomenen? Marienkäfer vertilgen, wie man weiß, Unmengen von Blattläusen. Es handelt sich bei den Marienkäferchen quasi um Jäger, wenn man so will. Die andere Seite ist dann die Beute, nämlich die Blattläuse. Treten nun in einem Jahr viele Blattläuse auf, dann gibt es eben auch viele Marienkäferchen. Und die können aufgrund ihrer enormen Anzahl auch für uns Menschen durch die Beißattacken mal lästig werden.

Marienkäfer und vor allem ihre Larven sind auch Kannibalen. Besonders beim Massenauftreten fressen sich die Tiere gegenseitig auf. Die zuerst schlüpfenden Larven fressen auch regelmäßig ihre noch nicht geschlüpften Artgenossen, wodurch oft über die Hälfte der Eier verloren gehen.

Bei Kindern, aber nicht nur bei denen, wird häufig gerätselt, was hat es eigentlich mit den Punkten auf den Flügeln auf sich? Sagen die uns tatsächlich, wie alt so ein Marienkäfer ist?

Nein, dem ist nicht so. Das Charakteristische an den Marienkäfern sind die Punkte auf ihren Flügeln. Die sind meistens schwarz, es gibt aber auch Käfer, die helle, rote oder braune Punkte tragen, je nach Art. Da gibt es Arten mit 2, 4, 5, 7, oder noch mehr Punkten. Die Anzahl der Punkte gibt entgegen einem weit verbreiteten Irrtum nicht das Alter des Käfers an, vielmehr ist die Zahl der Punkte charakteristisch für jede Art und ändert sich während des Lebens des Käfers nicht mehr.

Doch wie ging es denn nun eigentlich mit meiner schwäbischen Maikäfer-Exkursion weiter?

Zu unserem großen Leidwesen saßen diese Viecher nicht nur auf jenen Bäumen, die am Wegrand standen. Wir mussten rein in den Baumbestand und uns durch das Unterholz quälen. Das gab Kratzer an den nackten Beinen und Armen. Das bremste den anfänglichen Eifer schon nach kurzer Zeit enorm. Auch die Nadeln, ich glaube, es standen dort vornehmlich Tannen und Fichten, malträtierten unsere Haut ziemlich heftig. Herr Geiger hatte mit den Nöten seiner Knaben und Mädels ein Erbarmen und rief schon bald darauf zum Rückzug. Seine Käfer-Truppe, bestehend aus etwa dreißig Kindern im Alter von sieben oder acht Jahren, stand nun auf dem Waldweg, heilfroh über das Ende dieser Tortour und voller Dank gegenüber ihrem Lehrer, dass der mit ihnen ein Einsehen hatte.

Aber wir dürften einen recht kläglichen Anblick geboten haben. Wie sahen wir aber auch aus! Die Arme und Beine voller Kratzer und Schrammen, die Kleider voller Baumnadeln und Spinnengewebe! Einige der Mädels weinten sogar, wenn auch nur ganz wenig und leise. Wir Jungen waren da etwas robuster, wenngleich auch wir arg mitgenommen waren.

Die Beute war wirklich sehenswert. Sämtliche Kistchen, Kästchen, Kartons und Tüten waren mit Maikäfern angefüllt.

Es dauerte auch nicht lange, da kam mein Onkel Karl mit seinem Leiterwagen mit der Kuh Selma und dem Wallach Rudi mit seinem gestutzten Schweif davor gespannt auf uns zugefahren. Er hatte sich dazu bereit erklärt, die „Tagesernte“ der Schüler ins Dorf zu fahren. Tante Luise hatte aus eigener Tasche eine Kiste mit Sprudel spendiert, und einige der Eltern haben Onkel Karl Kuchen und belegte Wecken (Brötchen) für ihre kleinen Käfer-Jäger mitgegeben. Alle Strapazen waren jetzt vergessen, die kleinen und etwas größeren Kratzer spielten auch schon keine Rolle mehr.
Aber, was fingen wir denn eigentlich mit den vielen Maikäfern an, nachdem Onkel Karl das Zeugs ins Dorf gebracht hatte?

Die Käfer wurden mit heißem Wasser überbrüht und dann den Hühnern und Schweinen als Futter vorgesetzt. Die Hühner lebten davon mehrere Tage lang. Die haben sich letztendlich daran regelrecht überfressen. Angeblich soll es sogar vorgekommen sein, dass in manchem Ei Käferbeine gefunden wurden. Aber das glaube ich dann aber eher doch nicht“, beendet Fiete seinen Erlebnisbericht von anno dunnemals.

Große Populationen von Maikäfern gab es schon immer mal wieder. Zur Bekämpfung einer Käferplage im schweizerischen Kanton Uri sah man sich zum Beispiel 1660 in der Schweiz sogar genötigt, Käfervögte zu beschäftigen und Vorschriften zum Sammeln der Maikäfer zu erlassen. Bei einer weiteren Käferplage im Jahr 1909 wurden 350 Millionen Maikäfer abgeliefert.

Hier noch nachstehend ein Bio-Rezept zum Nachkochen (wer´s mag!):

Nahrhafte Maikäfersuppe
Für die menschliche Ernährung wurden Maikäfer ebenfalls genutzt - nicht nur in Notzeiten. "Unsere Studenten essen die Maikäfer ganz roh, ganz wie sie sind und nicht wenige ohne den geringsten Nachteil", wusste zum Beispiel die Fuldaer Zeitung 1925. "In vielen Konditoreien sind sie verzuckert zu haben, und man isst sie kandiert in Tafeln zum Nachtisch". Auch ein Rezept für Maikäfer-Bouillon ist überliefert: "Man nehme die Maikäfer, reiße ihnen Flügeldecken und Beine ab, röste ihren Körper in heißer Butter knusprig, koche sie dann mit Hühnerbrühe ab, tue etwas geschnittene Kalbsleber hinein und serviere das Ganze mit Schnittlauch und gerösteten Semmelschnitten."

 

Die Weihnachtsfeier 1950 in Renningen

Nur noch wenige Tage sind es bis zum Heiligen Abend des Jahres 1950 . Mutter ist per Omnibus mit mir nach Weil der Stadt gefahren. Denn Merklingen hat keinen Bahnanschluss, hier jedoch gibt es einen Bahnhof. Von der Merklinger Straße kommend, biegt gleich hinter der Bahnbrücke die Bahnhofstraße ab. Wie in den damaligen Jahren häufig der Fall, stand auch heute wieder ein Militärzug mit Ami-Panzern drauf im Bahnhof. Die Soldaten hatten auf dem Gehweg der Bahnhofstraße ihre Maschinengewehre und andere Waffen zu Pyraden aufgestellt. Alle Leute, die zum Bahnhof wollten, oder von dort kamen,mussten auf die Straße ausweichen.Ich fand das sehr interessant und beäugte die Waffenpyramiden. Es passten aber einige der Amis auf, dass da auch keiner eine Ding mitgehen ließ. Soll ja manchmal vorgekommen sein.

Von Weil der Stadt sind wir dann mit der Bundesbahn weiter nach Renningen gefahren. Sie hatte aus Geldgründen natürlich ein Billett für die dritte Klasse mit den harten, ungepolsterten Holzsitzbänken gekauft. Doch es sollte ja zur Kinderweihnachtsfeier gehen, da waren die harten Sitzflächen für mich völlig nebensächlich. Die Aufregung und die Erwartung auf die Geschenke, über die daheim schon seit langer Zeit gerätselt wurde, waren so groß, dass ich von solcherlei Beschwerlichkeiten überhaupt keine Kenntnis nahm. Außerdem war ich diese Dritte-Klasse-Reisen mit der Bahn gewohnt, denn ich fuhr ja mit Vater öfters nach Renningen. Er arbeitete dort in einer Metallbaufirma. Der Inhaber dieser Fabrik hatte alle Kinder seiner Mitarbeiter für den heutigen Nachmittag zur Bescherung eingeladen. Die Kreisstadt Leonberg kannte ich auch schon. Hin und wieder durfte ich aber auch bis Stuttgart die Eltern begleiten. In der Wilhelma, dem dortigen weltbekannten Stuttgarter Zoo, war ich aber noch nie. Stuttgart, oder Schduegert, wie der Einheimische das ausspricht, ist die große Landeshauptstadt von Baden-Württemberg. Und immer reisten wir per dritter Klasse mit den harten Sitzbänken.

Vater war ein starker Raucher, wie es unter den Männern in jenen Jahren eben so üblich war. Also waren wir, Mutter und ich, dann auch stets und selbstverständlich und ohne zu murren in einem Raucherabteil, inmitten von etlichen weiteren Rauchern. Vater hatte seine Pfeife meistens mit Tabak der Marke MB gestopft und verpestete mit größtem Genuss die Umgebung. Doch heute war ich mit Mutter unterwegs, ohne unseren paffenden Vater. So saßen wir mit anderen Frauen, die auch ihre Kinder dabei hatten und ebenfalls zu unserer Weihnachtsbescherung wollten, im Abteil.

Nur ein kurzer Fußweg vom Renninger Bahnhof war es bis zur Fabrik, und die Spannung nahm mit jedem Schritt noch zu. Was bekomme ich vom Knecht Ruprecht? Oder kommt sogar das Christkindle und beschert uns?

Der Saal war wunderbar und mit viel Liebe hergerichtet worden. Ein riesengroßer Tannenbaum mit unzähligen Lichtern und bunten Kugeln daran beeindruckte die Eintretenden sofort. Ob der Baum nun tatsächlich so riesengroß war, das kann ich nicht mehr so mit der allergrößten Gewissheit sagen, das liegt immerhin schon fast siebzig Jahre zurück, da erscheinen einem die Dinge in der Erinnerung doch etwas anders. Aber schön war die gesamte Veranstaltung, das hat sich mir eingeprägt!

An der Stirnseite des Raumes befand sich eine kleine Bühne. Sie war eigens für das heutige Fest aufgebaut worden. Renninger Kinder hatten das Krippenspiel von der biblischen Geschichte der Herbergssuche Marias und Josefs sowie die Geburt Jesu Christi einstudiert und führten es heute für uns auf. Das war eine sehr schöne Einstimmung für die Kinderweihnacht. Die kleinen, aber auch die großen Teilnehmer, dankten es mit viel Beifall.

An der Tafel saß uns gegenüber eine Mutter mit ihren drei Mädchen. Das eine Mädel mit Namen Lisa, wohl auch wie ich acht Jahre alt, mochte ich sofort. Hübsch sah Lisa aus mit ihren strahlend blauen Augen und den dazu passenden blonden Haaren, zu zwei langen dicken Zöpfen geflochten. Sie war von dem Krippenspiel derart angetan, dass sie die ganze Umgebung nicht mehr wahrnahm und selbstvergessen den Zeigefinger in der Nase hatte. Ich lästerte verhalten zischelnd „ene mene mopel, wer frisst Popel“. Da flutschte der Zeigefinger aus der Nase und ich bekam ein „du bist doof!“ zu hören. Blöde Geiß, dachte ich, von da an mochte ich die blauen Augen und die schönen blonden Zöpfe überhaupt nicht mehr leiden.

Was nun auch überhaupt nicht mehr wichtig war, denn der Bärtige betrat jetzt mit einem großen, prall gefüllten Sack auf der Schulter, den Saal. Der Bärtige führte an seiner Hand ein kleines Pony, das hinter sich einen geschmückten Wagen herzog. Der Wagen war hoch beladen mit Kistchen, Schachteln und Kartons. Wir Kinder machten mit offenen Mäulerchen unzählige „Ohs“ und „Ahs“ und klatschten voll erwartungsgeladener Spannung begeistert in die Hände! Beim großen beleuchteten Tannenbaum blieb das Pony stehen. Das Herz machte Purzelbäume vor lauter Vorfreude: Welches mag davon wohl mein Geschenk sein? Ist es das da in der allergrößten Verpackung? Bekomme ich ein Auto? Oder vielleicht sogar zwei?

Und dann ging es endlich los mit der Bescherung. Jedes Kind wurde mit seinem Namen aufgerufen und musste nach vorne kommen. Einige der Kleineren weinten ängstlich, sagten aber trotzdem mit zittrigem Stimmchen brav ein Gedichtlein auf. Andere kannten aber keines und guckten verlegen in die Runde. Natürlich wurde trotzdem jedem sein Geschenk überreicht, kein Bube und schon gar kein Mädel bekam die Rute zu schmecken. Die Rute hatte der Weihnachtsmann ganz bestimmt nur deshalb bei sich, weil sie eben ganz einfach mit zum Ritual gehört und man das aus Märchen so kennt.

Nachdem sie ihr Geschenk in der Hand hielten, lachten die kurz zuvor noch weinenden Kinder froh und erleichtert die Eltern an. Das jeweilige Geschenk besaß wohl eine Art Zauberformel und ließ sie den Weihnachtsmann sofort vergessen. Ich erhielt tatsächlich ein sehnlichst gewünschtes Auto! Ein taubenblaues Rennauto mit einem Schwungradantrieb.

Die Verantwortlichen aus der Firma hatten sich für diesen Tag noch etwas ganz Besonderes ausgedacht: Der Höhepunkt der Überraschung war, dass jedes Kind zusätzlich zum Geschenk noch zehn funkelnagelneue DM-Münzen (oder waren es sogar fünfzehn DM?), in die Hand gedrückt bekam. Die Freude war riesengroß, auch bei den Müttern. Denn zehn oder fünfzehn DM waren so kurz nach der Währungsreform ein ganz ordentlicher Betrag!

Auf allen Tischen standen bunte Teller, reichlich bepackt mit Kuchen, Keksen, Waffeln, Apfelsinen, Bananen, Schokolade und Bonbons. Die blauäugige und blond bezopfte Lisa, diese blöde Geiß, langte eifrig zu und wühlte sich die besten Stücke heraus. Doch ich hatte es sehr wohl registriert, sie hatte sich ihren Finger nach dessen Besuch im Nasenloch nicht abgewischt! Und jetzt kramte sie damit in den Näschereien herum! Also, Popelfingerkekse wollte ich wirklich nicht essen. Da bin ich aufgestanden um mich an einem bunten Teller am Nebentisch zu bedienen. Zwar musste ich dort giftige Blicke einstecken, doch das nahm ich lieber in Kauf als ..., na ihr wisst schon, dieser Finger von der blauäugigen und blond bezopften schönen Nachbarin, diese blöde Geiß.

Nach gut einer Stunde nach der Bescherung öffnete sich die Saaltür und die Männer aus der Belegschaft, die nun Feierabend hatten, kamen herein um Frau und Kinder abzuholen. Zunächst wurden stolz die Geschenke herumgezeigt und das erhaltene Geld bestaunt. Mutter und Vater nahmen mich an die Hand, und wir gingen zum Bahnhof, wobei ich den Karton mit meinem taubenblauen Auto darin nicht aus der Hand ließ. Der Zug fuhr nur wenige Minuten später auch schon ab.

Bis nach Weil der Stadt hatte ich mich nur mit meinem neuen Auto beschäftigt und immer wieder meine blitzenden Münzen aus der Tasche genommen und sie voller Stolz angeschaut: Mein eigenes Geld, so viel und so neu! Was könnte ich mir davon nicht alles kaufen, überlegte ich bereits.

Kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof von Weil der Stadt befand sich eine kleine Siedlung mit so genannten Nissenhütten. Das waren aus Wellblech bestehende Unterkünfte mit halbrundem Dach für Kriegsflüchtlinge und Heimatvertriebene. Obwohl es schon dunkel war, hielt ich mein Weihnachtsgeschenk, dieses neue taubenblaue Auto, an die Scheibe des Zugfensters, damit die Kinder dort in ihren ärmlichen Unterkünften sehen sollten, welchen Schatz ich erhalten hatte und

jetzt mit nach Hause nehmen durfte. Doch niemand dort draußen achtete auf den Zug, der da gerade vorüber fuhr und wo ein arroganter Bube sich lustig machte über weniger glückliche Kinder.

Zur Heimfahrt hatte sich Vater nach alter Gewohnheit selbstverständlich in ein Raucherabteil gesetzt. Seine Kollegen ebenfalls. Und alle qualmten was das Zeugs hielt. Das war eben einer jener damaligen typischen Arbeiterzüge. Ein eigenes Auto besaß ja noch so gut wie keiner, also fuhren alle zwangsläufig mit der Bahn, dritter Klasse, harte Holzbänke, Raucherabteil. Und das Rauchen war für alle Männer etwas ganz Selbstverständliches. Da kam niemandem der Gedanke, dass auf Frauen und Kinder Rücksicht genommen werden sollte.

Während ich inmitten des Zigaretten- und Pfeifenqualms vor mich hin hustete und mit meinem Auto und dem ersten eigenen Geld beschäftigt war, unterhielten sich die Eltern in halblautem Ton über etwas, worüber sie sich offensichtlich nicht richtig einig zu sein schienen. Ich hörte zwar das Gespräch, achtete aber aber nicht auf das Gesagte. Wenn sich Eltern unterhalten, haben kleine Kinder Sendepause, heißt es.“

Worum es dabei ging, ist in der Episode „Der Vetter von Dingsda“ zu erfahren.

 

Der Vetter aus Dingsda

Ich hörte, Besuch von weit her habe sich angekündigt. Von weit her bedeutete in diesem Fall aus der Zone, DDR war bei den Menschen in der Bundesrepublik nämlich noch ein gänzlich unbekannter Begriff.

`Der Vetter aus Dingsda kommt uns besuchen´, erklärte der Vater, `er kommt aus Barth in Pommern.´
Den Vetter aus Dingsda habe ich als damals achtjähriger Bub natürlich so verstanden, da kommt ein Verwandter der Eltern zu uns. Später wurde mir klar, der Vetter aus Dingsda ist in Wahrheit eine Figur aus der gleichnamigen Operette von Künneke. Aber Vater hatte immer solche Sprüche drauf. Die ganze Familie wartete nun gespannt auf die Ankömmlinge.
Und dann stand Mathias Inveen im Frühjar 1951 leibhaftig bei uns in der Wohnstube, der vermeintliche Vetter aus Dingsda. Mit dabei war noch seine Nichte Rosemarie. Beide kamen aus dem Wohnlager Barth-Stein. Dieser Ort Barth-Stein war bis zum 30. April 1945 ein Bereitschaftslager für dienstverpflichtete Beschäftigte der Munitionsfabrik Pommersche Industriewerke GmbH PIW Barth.
Beide Besucher, Mathias und Rosemarie, hatten nun bei uns in der Wohnung Unterkunft bekommen. Nach wenigen Tagen bekam ich dann mit, dass beide Gäste gar keine Verwandte und auch gar keine Besucher sind. Es handelte sich dabei vielmehr um Zonenflüchtlinge, die, da sie mit den Eltern aus früheren Jahren bekannt waren, bei uns für unbestimmte Zeit zunächst Quartier finden wollten. Damit umgingen sie eine Einweisung in ein Aufnahmeheim für Ostflüchtlinge, wie es ein solches ganz in unserer Nähe in Heimsheim gab.
Da die elterliche Wohnung aber nur aus drei Zimmern bestand, und hier außer den Eltern noch drei Kinder lebten, konnte der Aufenthalt von Mathias und Rosemarie natürlich nicht von langer Dauer sein. Und so kam es, dass sich beide doch noch als Flüchtlinge melden und in besagtes Aufnahmelager gehen mussten.
Außerdem gab es die Absicht, dass Mathias´ Ehefrau Martha mit ihren zwei Kindern ebenfalls aus der Zone flüchten und zu uns nach Merklingen kommen wollten. Der eine der Jungens ist zwei Jahre jünger, der andere ist ein Jahr älter als ich. Ich glaube, meine Eltern waren in diese Flucht der Ehefrau und den zwei Kindern nicht von Anfang an eingeweiht worden. So entstanden doch Unstimmigkeiten zwischen den Erwachsenen, die wohl dazu führten, dass Mathias und Rosi bald unsere Wohnung verließen.
Sie waren ja nun wieder weg, gab es denn noch weitere Kontakte zwischen ihnen und meinen Eltern. Ich glaube nicht. Ich weiß nur, dass sie für kurze Zeit im Gasthaus „Zur Rose“ wohnten. Mein Erlebnis mit diesen Zonenflüchtlingen aus Barth-Stein hätte damit eigentlich zu Ende und vergessen sein können. Denn was die Erwachsenen miteinander zu schaffen hatten, das interessierte mich Achtjährigen eigentlich auch gar nicht. Trotzdem ist es mir im Gedächtnis haften geblieben.

Denn mit Flüchtlingen aus der russischen Zone am elterlichen Küchentisch zu sitzen, das war eben doch eine außergewöhnliche Sache für mich.“

 

Neue Heimat Australien

Mit dieser Begebenheit aus dem Jahr 1951, mit dem „Vetter aus Dingsda“ und seiner Nichte Rosi, wurde ich Jahrzehnte später völlig unverhofft wieder konfrontiert. Im Internet fand ich eine Spur zum Namen Inveen. Da geht es mir sofort durch den Sinn, das ist eigentlich ein nicht so häufig vorkommender Name, könnte das nicht etwa...? Ich klinke mich dann weiter rein in dieses Facebook-Profil und stelle enttäuscht fest, nein das kann unmöglich unser Bekannter aus Merklinger Zeiten sein. Jahrgangsmäßig wäre es ja kaum noch wahrscheinlich, und nach seinem Wohnort zu urteilen, ist es wohl doch eher auch nicht möglich. Denn dort steht: Canberra in Australien! Dann sehe ich auch noch den Namen Klaus, statt Mathias Inveen.

Ich hab´s dann trotzdem gewagt und schickte eine sogenannte Freundschaftsanfrage an Klaus Inveen nach Australien.. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und ich hatte tatsächlich einen Volltreffer gelandet. Nun weiß ich, dieser Klaus ist der damals zehnjährige Junge, der durch die Flucht der Eltern aus Barth zu uns nach Merkligen kam. Seine heutige Ehefrau heißt Irene, sie stammt ebenfalls aus Deutschland. Klaus hat seine deutsche Muttersprache nicht verlernt, so dass ich mich mit ihm problemlos per Messenger austauschen kann.

Sein Vater Mathias sowie dessen Nichte Rosemarie flüchteten also 1951 von Barth-Stein in den Westen. Seine Ehefrau Martha und die beiden Söhne gingen bald darauf den gleichen Weg. Wo kamen sie zunächst unter? Meine Eltern boten in Merklingen Quartier für beiden Erstangekommenen und betätigten sich damit quasi als Fluchthelfer. Doch was machten meine Eltern? Sie verließen drei Jahre später Merklingen in die umgekehrte Richtung, nach Barth in Ostdeutschland, also in die russische Zone. Beschrieben habe ich dieses Geschehnis unter dem Titel `Warum geht ihr nach Sibirien?´.

An mein erstes Jahr im Westen kann ich mich einfach nicht erinnern“, schrieb Klaus mir am 6. Mai 2017, „aber das ist noch eine andere Geschichte. Ich habe aber mit meiner Cousine Rosie gesprochen, die etliche Jahre älter ist als ich. Es war meine Cousine, also meines Vaters Nichte, mit der er über die Grenze ging und in Merklingen landete. Rosie meinte, dass das so Mitte 1951 war und sie in Merklingen bei einer Familie P. wohnten. Rosie sagt, Frau P. war eine geborene Gross die aus Barth stammte. Später in 1951 soll meine Mutter dann nachgekommen sein und mein Bruder (dann 7) und ich (dann 10) in 1952. Wir wohnten dann eine kurze Zeit in einem Gasthaus „Rose", bevor wir nach Heimsheim zogen. Ich kann mich nicht daran erinnern, in Merklingen gewohnt zu haben. Mein Vater arbeitete in der Merklinger Maschinenfabrik und hat Ausstellungsmaschinen gebaut. Ich kann mich noch erinnern, dass der alte Scharringhausen immer am Wochenende mit seinem Mercedes ankam und meinen Vater abholte wenn eine Maschine für eine Ausstellung dringend fertig gemacht werden musste. Ich habe immer noch meinem Vater seine Wasserwaage (nummerierte Ausgabe) mit der er Flächen bis auf einen tausendsten Millimeter bei Hand abrieb...“

Auch mein Vater hat in dieser Merklinger Maschinenfabrik Hans Scharringhausen gearbeitet“, sagt Fiete. „Wir wohnten der Fabrik schräg gegenüber, so dass mir einiges von dort noch bekannt ist. Vor allem aber die großen Kurbeltafelscheren, die ab 1952 produziert wurden, habe ich noch vor Augen. Es war jedes Mal ein besonderes Spektakel, wenn die großen Geräte auf Tiefladern durch die Straßen manövriert werden mussten. Weitere Werkzeugmaschinen von hier waren auch große Walzenblechrundmaschinen sowie Abkantmaschinen. Interessant wäre, die Fluchten der Familie Inveen detailliert schildern zu können. Darauf angesprochen, antwortete Klaus am 17. Mai u.a.:

`Über die Flucht meiner Eltern habe ich nie Einzelheiten gehört und sie haben nie erfahren wie die Flucht in den Westen meinen Bruder und mich betroffen hat (wieder eine andere Geschichte). Meine Mutter hat, von August 1999 an, mehrere kurze Artikel im Barther Boddenblatt geschrieben unter "Post von Übersee", aber ziemlich vereinfacht und kurz und was nur ihr als "wichtig" vorkam, nicht was sich sonst noch ereignete.´

Diese Gedächtnislücke bei Klaus ist natürlich schade. Die Fragen, wie war das mit den Fluchtvorbereitungen in Barth-Stein, verlief die Fahrt bis zur Grenze reibungslos und wo ging es „rüber“ und wie ging der Grenzübertritt vor sich, müssen somit unbeantwortet bleiben.

Der Gedankenaustausch mit Klaus lässt den Eindruck entstehen, dass Mathias und Martha Inveen im Verborgenen an einem gewisses Maß an Heimweh nach Deutschland und auch nach Barth zu leiden schienen, denn Klaus schreibt:

`Meine Eltern und besonders meine Mutter haben so ziemlich ein "Zweisiedler" Leben verbracht, in Deutschland und besonders hier in Australien. Mein Vater ist hier wie in Deutschland arbeiten gegangen, nach Hause gekommen, hat gegessen, gesessen, geschlafen und ist dann wieder zur Arbeit. Er hat die ganzen Jahre vielleicht ein halbes Dutzend Bekannte gehabt, alle von der Arbeitsstelle oder Freunde von anderen Bekannten. Meine Mutter war genau dasselbe. Sie ist einkaufen gegangen, hat geputzt, gekocht, gesessen, geschlafen und gelesen. In Deutschland war es nicht viel anders, außer daß meine Mutter auch arbeitete. Ein oder zwei Jahre lang sind sie öfters zur Hundeschau gegangen, nachdem mein Vater sich einen Hund kaufte, selten sind sie an den Strand gegangen. Ich glaube beide wären lieber wieder nach Deutschland zurück gegangen. Ich habe nur sehr kurze Zeit hier (und auch in Barth als Kind) bei ihnen gewohnt und während einem Besuch in den ersten paar Jahren in Australien hat mein Vater mich sogar "gefragt", oder mehr gesagt, "wollen wir nicht nach Deutschland zurück". Das war seine Art zu sagen daß er nach Deutschland zurück wollte, aber nur wenn ich mitkommen würde. Warum es an mir lag weiß ich nicht. Meine Antwort war "nie", weil ich überhaupt kein Verlangen darnach denn ich hatte alles in Deutschland verloren und hatte hier eine gute Stelle im Staatsdienst erhalten und keine Aussichten in Deutschland (aber das ist wieder eine andere Geschichte). Meine Mutter ist sogar soweit gegangen und hat Leuten die sie besuchen wollten, besonders nach dem Tod meines Vaters in 1983, abgesagt weil sie keinen "Fremden" im Haus haben wollte. Soviel ich weiß, hat nur eine Freundin sie in den letztem paar Jahren ihres Lebens besucht. Sie starb Anfang November 2014, am Melbourne Cup Day kurz nachdem das deutsche Rennpferd Protectionist gewonnen hatte. Das beschreibt so ihre Art. Also für heute genug. Viele liebe Grüße, auch von Irene, Klaus`.

Ja, meine Mutter stammt aus Barth“, antwortet Fiete, „sie ist eine geborene Groß. Der Vater stammt aus Pforzheim im Schwarzwald, und dort habe ich für einige Zeit die Nordstadtschule besucht. Dein Vater und dessen Nichte Rosie wohnten bei uns in Merklingen in der Brunnenstraße 15 (heißt heute nicht mehr so), schräg gegenüber der Maschinenfabrik Scharringhausen. Zwischen unserer Wohnung und der Maschinenfabrik befindet sich die frühere Volksschule in Merklingen, in welcher ich eingeschult wurde.

In der gleichen Maschinenfabrik war auch mein Vater beschäftigt. Zwischen deinem Vater und meinen Eltern kam es zum Zerwürfnis, so dass dein Vater und Rosi bei uns auszogen und im Gasthaus Zur Rose Quartier nahmen. Deinem Vater bin ich noch einige Male in Merklingen begegnet, hatte allerdings keinen Kontakt zu ihm.

Interessant ist das alles für mich, weil mich meine frühe Kindheit in Merklingen und in Pforzheim in meinen ganzen späteren Jahren nie losgelassen hat. Und der Name Inveen war mir immer im Gedächtnis geblieben. Weshalb? Ich weiß es nicht. Mein Vater hatte vor unserem Umzug nach Ostdeutschland häufig davon gesprochen, nach Kanada auszuwandern. Später dann war Australien im Gespräch. Aber ich bin dann doch beim Russen gelandet.“

Nachdem die Familie Inveen im Jahre 1951 die DDR illegal in Richtung Bundesrepublik verlassen hatten und bei Fietes Eltern in Merklingen erste Aufnahme fanden, ging es drei Jahre darauf für Fiete in die entgegengesetzte Richtung, von West nach Ost und musste sich im Ort fragen lassen, warum geht ihr nach Sibirien?

 

Warum geht ihr nach Sibirien?

Die Eltern vollzogen diesen Wohnortwechsel, der Fiete´s ganzes Leben komplett auf den Kopf stellen sollte: Aus einem schwäbischen Dorf in der jungen Bundesrepublik ging es in ein pommersches Städtchen in der jungen DDR. Fiete schildert das so:

Ich habe es nicht verstanden, weshalb die Eltern, unbeeindruckt vom Aufstand des 17. Juni 1953 in der DDR nach jenen schlimmen Vorgängen in genau diesen Teil Deutschlands übersiedelten, obwohl dort ein Jahr zuvor sowjetische Panzer gegen deutsche Arbeiter aufgefahren waren.

Elf Jahre alt war ich, hatte im Sommer die 6. Klasse beendet. Aufregung im Vorfeld der Umzugsereignisse gab es genug, das war Abenteuer pur für mich. Da waren die Schulkameraden, die mich beschworen, nicht zum Iwan zu gehen, und stattdessen doch in der Heimat zu bleiben. Alle Zeichen würden doch darauf hindeuten, dass es bald wieder einen Krieg mit dem Osten gäbe. Die Russen seien in einem solchen Fall den Amis eindeutig unterlegen und würden hoffnungslos verlieren.

Dazu muss man wissen, es war die Zeit der zunehmenden Konfrontation zwischen Ost und West und der Beginn des Kalten Krieges in Europa. Die Gedanken und Reden der Erwachsenen drehten sich immer häufiger um die aufziehende Gefahr eines Dritten Weltkrieges. Das blieb auch auf die Heranwachsenden nicht ohne Auswirkung.

Weiterhin waren da die Dorfbewohner, die für uns Sonderlinge, die ihr Vaterland Deutschland für eine ungewisse Zukunft in Richtung `Zone´ oder auch `Sibirien´ aufgeben wollten, kein Verständnis aufbrachten.

Eine Begebenheit bei einem Metzger hat sich mir eingeprägt, die ich nicht vergessen habe. Die Fleischer heißen in Süddeutschland Metzger. Zu jener Zeit betrieben die Metzger in unserem Ort nebenbei auch alle eine Gastwirtschaft, landläufig nur Wirtschaft genannt. Der Metzger, bei dem meine Eltern Stammkunden waren, betrieb natürlich auch so eine Wirtschaft. Da die dazugehörende Wirtschaft `Zum Lamm´ hieß, wurde dieser Name auch auf den Metzger übertragen. Man sagte der Einfachheit halber sowohl zur Metzgerei und zum Metzger als auch zur Wirtschaft nur Lammwirt. Dieser Lammwirt sprach mich auf den geplanten Umzug der Eltern hin an, was ja ohnehin ein großes Thema im Ort war. Er meinte, wir würden nun ja nach Sibirien auswandern. Und dort, bei den Russen würden doch alle richtigen Deutsche umgebracht. Ob ich denn nicht doch lieber hier bleiben wolle. Na klar wollte ich das, hatte ich doch eine unsägliche Angst vor dem Iwan! Aber so viel wusste ich schon, und sagte es dem Lammwirt auch, dass wir zwar zum Russen gehen würden, aber das sei nicht Sibirien, sondern die Zone. Also immer noch so etwas Ähnliches wie Deutschland.

Aufregend war auch das Verscherbeln von Kleinigkeiten aus dem elterlichen Haushalt. Denn nicht alles wollten und konnten die Eltern mitnehmen. Also machte ich bei Nachbarn und Schulkameraden einige Dinge zu Kleingeld. Geschirrteile und derartiges Zeugs verkaufte ich für jeweils ein paar Groschen. Im Nachhinein ist es für mich schon erstaunlich, dass die im Prinzip eigentlich wertlosen Dinge mir so gerne abgenommen wurden. Die Leute wollten wohl ein kleines Erinnerungsstück an die eigenartigen `Sibirien-Auswanderer´ aus der Nachbarschaft behalten.

Die Eltern eines jüngeren Schulkameraden kauften mir ein Feuerzeug ab, das täuschend wie eine echte Pistole aussah. Es war ein Geschenk meines Cousins aus Pforzheim. Sich davon zu trennen, das fiel mir wirklich schwer. Ich hätte das gute Stück doch so gerne mit in die Zone genommen. Ich wusste aber auch, die Kinder in der Zone durften so etwas nicht besitzen. Dort war alles, was mit Krieg und Waffen zu tun hatte, strengstens verboten. Dafür konnte man ins Zuchthaus kommen. Die Eltern hatten gesagt, die `Feuerzeugpistole bleibt hier!´ Für fünfzig Pfennige habe ich mich dann der Not gehorchend von ihr trennen müssen. Alles Mobiliar, das mit auf den großen Umzug gehen sollte, wurde verpackt und zur Post bzw. zur Bahn gebracht. Dann kam der Fotograf um das Passbild für meinen Kinderausweis zu machen. Für Kinder, die von Deutschland West nach Deutschland Ost wollten, war das im Deutschland jener Zeit so üblich. Ich benötigte einen Pass! Diesen Kinderpass bzw. Passersatz habe ich stets in Ehren gehalten und ihn bis heute aufbewahrt!

Die Zeit in der alten Heimat ging zur Neige. Versteckt habe ich mich um nicht mitfahren zu müssen. Ich wollte absolut nicht zu den Russen, sondern wollte zu meinem Opa nach Pforzheim!

Doch dann war es endgültig soweit, der Tag der Abreise war unausweichlich da. Von der Bahnstation Weil der Stadt fuhren wir mit der Bahn zunächst nach Stuttgart. Auf dem dortigen

Hauptbahnhof nahm der Vater mich an die Hand und ging, was ich damals natürlich nicht wusste und auch nicht verstanden hätte, zum Geldumtausch. Was wusste ich schon von DM West und DM Ost? Es war eine recht große Summe, die mein Vater bei sich hatte und hier in Ost-DM umrubelte. Erbanteile, wie Ackerland, Wiesen und auch ein kleines Waldstück waren dafür verkauft worden. Leider musste auch Vaters Motorrad, eine 350er Horex, zu Geld gemacht werden.

Von Stuttgart ging die Reise dann nach Würzburg. Der Zug hatte hier einige Zeit Aufenthalt. Es war inzwischen schon Mitternacht geworden. Vater und ich stiegen aus und gingen auf dem Bahnsteig hin und her. Dieser Bahnsteig in Würzburg war die Station, auf welcher ich zum letzten Mal für mehrere Jahrzehnte auf bundesdeutschem Boden stand.

Die erste Begegnung jenseits der Zonengrenze mit ostdeutschen Menschen, in diesem Fall Zöllner und Polizisten auf dem Bahnhof und im Zug, habe ich bis heute noch im Hinterkopf. Es schien mir alles so anders, schmuddelig zu sein. Die Zöllner und Polizisten trugen unschön aussehende und schlecht sitzende Uniformen. Das war etwas, was ich von unserer bisherigen Polizei und vom Landjäger nicht kannte. Die amerikanischen und die französischen Soldaten sahen in ihren Uniformen ganz anders aus als die Russen, sehr viel schmucker.

Kurios, dass meine Eltern mit der großen Geldsumme, die sie seit dem Umtausch in Stuttgart bei sich trugen, anstandslos durch die Zoll-Kontrolle bekamen. Erst viele Jahre später lüftete mein Vater das Geheimnis. Das Geld war zwischen mehreren Sitzen im Abteil versteckt worden. Der kontrollierende Zöllner bekam auf seine Frage nach der mitgeführten Geldsumme die dreiste Antwort, die Eltern hätten nur achtundzwanzig DM bei sich. Das wurde akzeptiert, eine Kontrolle unterblieb, und alles ging dann seinen ungestörten Gang.

Bei der Einfahrt des Zuges in den Barther Bahnhof nahm ich als Erstes ein hohes aus roten Backsteinen errichtetes Gebäude wahr. Solche Backsteinbauten kommen den Süddeutschen etwas fremd vor, deshalb ist mir dieser erste Eindruck vom Barther Bahnhof auch so deutlich in der Erinnerung haften geblieben. In ziemlicher Höhe stand in weißer Schrift mit altdeutschen Buchstaben die Ortsbezeichnung `Barth´, und zwar genau an der Stelle, wo es noch heute dort steht.

Wir waren bei den Russen angekommen. Obwohl beim Rat der Stadt angekündigt, dass da eine Westfamilie mit Kindern ankommen wird, war in Barth eine Wohnung erst einmal nicht vorhanden. Die Möbel mussten zunächst beim hiesigen Bahnhof eingelagert werden. Wir kamen bei Verwandten mütterlicherseits unter, äußerst beengt wohnend. Der jüngere Bruder und ich gingen abends zum Schlafen zu Tante Liesbeth, die in der Sundischen Straße wohnte.

Von der Dammstraße aus dorthin marschierten mein Bruder und ich in Begleitung des Cousins Wolfram allabendlich durch die ziemlich enge Pohlstraße. Und das weiß ich noch wie heute: An fast allen Fenstern waren in der Pohlstraße, in der Bleicherstraße übrigens auch, Spione genannte Spiegel angebracht. Mit diesen war es den neugierigen Hausbewohnern möglich, die Straße, man kann sie fast Gasse nennen, nach links aber auch nach rechts zu beobachten ohne die Gardine wegzuziehen oder gar ein Fenster öffnen zu müssen.

Diese Spione genannten Spiegel gibt es heute dort nicht mehr.

 

Opa Goddl

Mein Opa in Pforzheim väterlicherseits hieß Gottlob. Seine Kollegen nannten ihn, in Anlehnung an seinen Vornamen, aber schlicht und liebevoll „Goddl“. Es war bekannt, dass er ein äußerst gläubiger Mensch war. Als Mensch galt er als hochanständig. In der Nachbarschaft war er aufgrund seines tadellosen Lebenswandels geachtet, im beruflichen Leben durch seine fachlichen Kenntnisse und seines handwerklichen Könnens wegen eine respektierte Persönlichkeit. Als Werkstattmeister genoss er bei seinen Mitarbeitern uneingeschränkt Achtung, Anerkennung und Respekt. Er war das, was man unter einer natürlichen Respektsperson zu verstehen hat.

Opa Goddl stammte aus einem etwa fünfundzwanzig Kilometer entfernt gelegenen Ort bei Stuttgart, seine Frau ebenfalls. Nach ihrer Eheschließung gingen er und seine Frau der Arbeit wegen nach Pforzheim. Seine Frau verstarb in relativ jungen Jahren nach einer Operation, so dass Fiete seine Oma väterlicherseits nicht mehr kennenlernen durfte.

In der Dammstraße bauten sie ein Haus, in dem auch Fietes Tante Marga, deren Mann mit den beiden Kindern Monika und Klaus wohnten. Am 23. Februar 1945 jedoch fielen britische Bomber über die Stadt her. Der britische Luftangriff auf Pforzheim dauerte „nur“ zwanzig Minuten. Das genügte, um das Stadtgebiet zu achtzig Prozent zu zerstören. Das Bombardement forderte achtzehntausend Todesopfer.

Opa und Tante Marga haben mir oft davon erzählt“, sagt Fiete.

Am Abend jenes Tages gaben die Sirenen kurz vor zwanzig Uhr Fliegeralarm, und bereits zwölf Minuten darauf fiel beim Gaswerk am Ufer der Enz die erste Bombe. Überall prasselten nun die Sprengbomben und Luftminen auf die dicht bebaute Stadt nieder. Die Menschen suchten Schutzräume auf und flüchteten in die Keller.

So auch meine Großeltern, gemeinsam mit der Tante, der Cousine Monika und dem Cousin Klaus. Tante Marga´s Mann war gerade mit seinem Auto unterwegs. Er starb durch einen Volltreffer mitten auf einer Straßenkreuzung.“

In der Dammstraße stand Opa´s Haus, gar nicht weit entfernt vom Gaswerk. Die Straße hat eine Häuserzeile auf der einen Straßenseite, einen hohen Bahndamm auf der anderen. Dieser Damm verstärkte die Druckwellen der Bomben noch, so dass in der bis zur Rohrstraße hin kein einziges Gebäude stehen blieb.

450.000 Brandbomben sowie eine viertausend Pfund schwere Luftmine wurden auf Pforzheim abgeworfen. Die in den Kellern der eingestürzten Häuser sitzenden Menschen litten Höllenqualen. Die Hitze der Brände wurde immer unerträglicher, der Sauerstoff wurde immer knapper, brennender Phosphor drang in die Schutzräume ein.

Noch lange Zeit, nachdem keine Detonationen mehr zu hören waren, verharrten die Großeltern angstvoll im Keller. Die nach hinten zum Hof gelegene Kellertreppe war glücklicherweise nicht völlig verschüttet, so dass mithilfe einiger Helfer der Schutzraum verlassen werden konnte. Zur Straße hin war die Fassade bis auf das Kellergeschoss eingestürzt. Aber alle waren unverletzt. Dass der Onkel bei dem Luftangriff ums Leben kam, ahnte da noch niemand.

Und trotzdem, sagt Fiete voll Wehmut, „was waren das doch für schöne Zeiten, damals beim Opa in Pforzheim.“

Die Tage der Kindheit sind unvergessen, auch wenn die Zeiten so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nicht so rosig waren. Die Erwachsenen hatten auch noch damals, im Jahr meiner Einschulung 1949, unter Folgen der Bombennacht zu leiden. Tante Marga wohnte nun, wie bereits erwähnt, in der Erbprinzenstraße. Opa hatte mit seiner zweiten Frau, Tante Anna und deren Sohn Manfred, eine Wohnung in der Redtenbacherstraße bekommen. Die Wohnung musste allerdings mit einer weiteren Mieterin geteilt werden. Jeder hatte sein eigenes Reich, die Küche mussten sie sich teilen. An der Wohnungstür gab es zwar nur eine Klingel für beide Mietparteien, ein Zusatzschild signalisierte, dass bei Opa ein Mal, bei der mitwohnenden Frau dagegen zwei Mal zu klingeln sei. Viele der ausgebombten Einwohner Pforzheims mussten auf Jahre in solchen und ähnlichen Verhältnissen wohnen. Der großflächige Neuaufbau begann erst um 1953 herum.

Bevor ich eingeschult wurde, halfen wir, das heißt Monika, Klaus und ich, Opa mehrere Male bei der Beseitigung der Hinterlassenschaften der Bombennacht. Die Mauersteine wurden nach vorne gebracht, der Mörtel davon abgeklopft und auf dem Gehweg fein säuberlich aufgestapelt. Auch bei anderen zerbombten Häusern verfuhr man so. Doch da in vielen Kellern damals nur noch Tote geborgen werden konnten, blieben diese Grundstücke zunächst ohne Eigentümer.

Als Opa´s kleinster Enkel war Fiete dessen Liebling, den er Bekannten immer voll Stolz als „des isch mei Bernhardle sei ältschter Bua“ vorstellte.

Überhaupt, an Opa habe ich auch heute noch so einige Erinnerungen zu liebenswerten Begebenheiten mit ihm. So gab er zu Hause, nachdem Tante Anna den Mittagstisch gedeckt hatte, erst dann das Startzeichen zum Mampfen, wenn das Tischgebet gesprochen und wir unser Amen gesagt hatten. Und zwar jeden Tag, ohne Ausnahme! Gerne erinnere ich mich auch an Opas Mittagspausen an seinem Arbeitsplatz.

In der Erbprinzenstraße hatte auf einem Hinterhof eine Werkstatt die Bombennacht ohne größere Schäden überstanden. Hier war Opa´s Wirkungsstätte, in der Schlosserwerkstatt in der Erbprinzenstraße wurden unter anderem die während der Bombenangriffe auf Pforzheim ausgebrannten Tresore aus Banken, Firmen, oder auch privaten Haushalten aufgearbeitet.

Traditionell brachten die Ehefrauen ihren Männern das Mittagessen in die Werkstatt. Dort hockten sie auf den Werkbänken inmitten der ausgebrannten Tresore, die hier wieder aufgearbeitet werden sollten, und löffelten aus den Schüsseln und Kruken ihre Mahlzeiten. Meistens kam Tante Anna aus der Redtenbacherstraße mit dem Essen im Thermobehälter, manchmal brachte es Tante Marga rüber in die Werkstatt. Sie wohnte ja nur einige Häuser entfernt.

Immer durfte ich mitgehen, wenn ich in Pforzheim war“, blickt Fiete zurück. „Wenn Opa seinen Spruch `des isch mei Bernhardle sei ältschter Bua` tat, und das tat er sehr oft, war ich stolz auf Opa und fühlte mich, der Knirps, den Schlossergesellen gegenüber auf Augenhöhe, wie man heute so sagt. Auch hier, im Beisein der Gesellen, sprach er sein Gebet. Zwei der älteren Schlosser falteten ebenfalls die Hände und sagten ihr Amen.“

Gegen Mitte der 1950er Jahre baute Opa sein Haus in der Dammstraße wieder auf und er konnte die geteilte Wohnung in der Redtenbacherstraße und Tante Marga hatte nun keinen Zoff mehr mit dem Bäckermeister in der Erbprinzenstraße.

Fiete merkt noch an: „Meine Eltern waren inzwischen aus der amerikanischen in die sowjetische Zone umgesiedelt, nachzulesen in der Episode `Warum geht ihr nach Sibirien?“

 

Als Pruchten noch eine Schule hatte...

Mit gelben Rosen wurden die einstigen Schülerinnen und Schüler der 1952-er Klasse 5 a der früheren Zentralschule Pruchten bei ihrem Eintreffen im Ferienlager„Bunstpecht“ begrüßt. Hier feierten die Grauschöpfe aus allen Teilen der Bundesrepublik am Sonnabend ein fröhliches und besinnliches Wiedersehen.

1952 wurden die Grundschüler aus Bresewitz, Tannenheim und Bodstedt in unserer Klasse zusammengefasst, während die Pruchtener Kinder in der Klasse 5 b lernten“, erzählte Organisatorin Giesela Berlin. „Diesmal haben wir auch die Ehepartner dabei. Insgesamt sind wir 29 Teilnehmer, einige ehemalige Mitschüler mussten leider aus gesundheitlichen Gründen absagen.“ Um so mehr freuten sich die Klassenkameraden, zwei ihrer Lehrer begrüßen zu dürfen. Die achtzigjährige Franziska Zacharias reiste aus Glückstadt an, während der achtundsiebzigjährige Herbert Krüger nur die kurze Strecke aus dem Seeheilbad Zingst zurückzulegen hatte.Die beiden Pädagogen im Ruhestand fühlten sich im Kreise ihrer einstigen Schüler wohl und tauschten viele Erinnerungen aus. Herbert Krüger, der von 1951 bis 1958 an der Pruchtener Schule unterrichtete, konnte sich sogar noch an alle Namen erinnern. „Es herrschte ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen Lehrern, Schülern und Eltern. Ich besaß eine 350-er EMW – eine Rarität zur damaligen Zeit. Wenn es sich ergab, nahm ich einen Schüler oder eine Schülerin bis nach Bresewitz mit“, erinnerte er sich. „Mein Schulweg war nicht so bequem“, ergänzte Franziska Zacharias. „Ob Winter oder Sommer, Schnee, Regen oder Wind – bei jedem Wetter fuhr ich mit dem Fahrrad von Barth nach Pruchten und zurück. Die Bahnlinie gab es ja nicht mehr.“ Später habe das Busunternehmen Schütt den Schülerverkehr zwischen den Heimatorten der Pruchtener Schüler abgesichert. Mit weiteren Erinnerungen und Tänzen verging der Tag wie im Fluge. V.“

Der vorangegangene Zeitungsartikel regte Fiete an, mir eigene Erlebnisse aus seiner Pruchtener Schulzeit zu schildern.

 

Der Aale-Deal

Apropos Fische. Ob es anfangs der fünfziger Jahre schon die FPG (Fischerei-Produktions-Genossenschaft) gab, weiß ich nicht“, muss Fiete bekennen, „aber vor dem Pruchtener Hafen lagen auf der Barthe immer mehrere Boote, sogenannte Zeesboote. Damit fuhren die Fischer raus auf die Barthe und rüber in den Bodden zum Fischen.

Jedem Fischer war von Staats wegen vorgegeben, wie viel Zentner Fische er zu fangen und an den

Staat abzuliefern hatte. Das war das sogenannte staatliche Fang-Soll , das unbedingt zu erfüllen war. Meisten lagen die Fänge in den Netzen und Reusen darüber. Doch die überplanmäßigen Mengen durften nicht so einfach privat verkauft werden. Alles musste an den Staat abgeliefert werden und somit der Versorgung der Bevölkerung zugeführt werden, wie es damals im Partei-Deutsch hieß. Für das "Übersoll" zahlte der Staat einen höheren Preis an die Fischer als für das "Plansoll".

Nun hatte ich mich besonders mit dem einen Nachbarsjungen angefreundet. Wir beide waren gleichaltrig, doch er besuchte die Diesterweg-Schule in der Stadt. Dieser Nachbarsjunge nahm mich an einem Sonnabend mit nach Pruchten zu einem Fischer. Er kannte sich mit den üblichen Gepflogenheiten aus. Für mich aber war das alles noch neu, ungewohnt, ja undurchsichtig, aber auf jeden Fall sehr spannend. So standen wir beide an besagtem Sonnabend bei diesigem Nieselwetter am Hafen und der Junge winkte zu einem auf dem Wasser liegenden Zeesboot hinüber. Es dauerte eine ganze Zeit, da stieg ein Mann aus dem Ruderhaus in das Beiboot und ruderte herüber auf uns zu. Er guckte uns griesgrämig an und wollte wissen wer der andere Junge, also ich, sei.

Das ist ein neuer Freund von mir, der ist aus dem Westen gekommen, sagte er mit sichtlichem Stolz, dass er einen Westfreund hatte.

Der Fischer nahm uns mit zu seinem nahe gelegenen Grundstück. Er ging in einen Schuppen, wir beide hinterher. Dort standen zwei oder drei große Behälter aus Aluminium. Er öffnete den Deckel eines dieser Fässer. Ich muss heute noch schmunzeln über den Schreck, den ich damals bekam. Das Fass war nämlich bis zur halben Höhe gefüllt mit lebenden Schlangen die versuchten, aus dem Behälter herauszukommen! So glaubte ich damals jedenfalls, hatte ich doch in meiner vorherigen Heimat noch nie lebende Aale gesehen.

Der Junge holte einen Stoffbeutel aus seiner Jackentasche und hielt sie dem Fischer hin. Der griff sich nun mit blanker Hand ein Exemplar der „Schlangenbrut“ nach dem anderen und steckte sie in den Beutel. Solche Beutel gab es in jedem Haushalt, damit ging Muttern zum Kaufmann um einzuholen. Von Selbstbedienungsläden oder gar Supermärkten und Discountern war da noch nicht die Rede. Im Kaufmannsladen stand die Krämerin, selten ein Krämer, hinter einem Verkaufstresen, der sich zwischen Verkäufer und Kunde befand. Wenn der Kunde seine einzelnen Kaufwünsche geäußert hatte, wurden mit einer hölzernen oder metallenen Handschaufel aus Säcken oder großen Schubfächern loses Mehl, Zucker, Erbsen oder dergleichen Sachen die verlangten Dinge dann in eben solche Beutel oder, wer hatte, in mitgebrachte papierne Tüten eingefüllt. Selbst Marmelade, meistens Dreifrucht- oder Vierfruchtprodukte, wurden aus großen Kunststoffeimern portionsweise in ein Glas gegeben und über´n Ladentisch gereicht. Abgepackte Lebensmittel sowie kostenlose Papier- oder Plastetüten gab es ja noch nicht. Zum Einkauf mussten Behältnisse und Einpackmaterial eben mitgebracht werden. Auch alte Zeitungen dienten diesem Zweck. So zum Beispiel im Fischladen Grählert für die Barsche oder bei Stiboy im Gemüseladen für die Möhren in der damaligen Ernst-Thälmann-Straße.

Und siehe da, ein zweiter Beutel kam bei meinem neuen Freund auch noch zum Vorschein, für mich und meine vermeintlichen Schlangen.

Beim Hinausgehen raunzte der Fischer den anderen Jungen recht grob an, er solle künftig niemand mehr mitbringen, sonst bräuchte er überhaupt nicht mehr zu kommen!

War ja auch verständlich, der Fischer riskierte mit solchen Schwarz-Verkäufen am Staat vorbei seine Existenz. Aber es haben zu jener Zeit wohl die meisten Fischer so gearbeitet.

Wenn ich mich recht erinnere, habe ich damals für den Beutel voller Aale zwei Mark bezahlt.

Wer´s nicht glaubt, kann ja den Fischer mal selber fragen.“

 

Mit den Russen zur Entenjagd

(стрелять уток – strelyat´ utok)
1955, eine Episode aus der Pruchtener Schulzeit.
 Es kam gelegentlich vor, dass die Russen hier bei unserem Wohnort Barth-Stein oder bei Pruchten auftauchten um auf den Wiesen zwischen Pruchten und Bresewitz auf „утка“ („Utka“, "Enten") zu schießen. Damit verbindet sich in meiner Erinnerung ein unvergessliches Erlebnis von nicht alltäglicher Art. Denn eines schönen

Nachmittags waren wir dann doch einmal tatsächlich mit den Russen auf Entenjagd gegangen. Und das ergab sich so:

Die Entfernung zwischen Pruchten und Barth-Stein beträgt nur etwa einen Kilometer und wir Barth-Steiner Kinder trieben uns häufig am späteren Nachmittag nach Schulschluss im Nachbarort herum. Dort stromerten wir am Schilfgürtel der Barthe entlang. Unsere Beschäftigung nach der Schule war eine andere als die der heutigen Kinder. Während heutigentags Computer und Smartphone das A und O sind, bauten wir uns damals die Spielzeuge selber. Aus Haselnussgerten entstanden Flitzbögen, aus Schilfstängeln des Vorjahres wurden die dazu passenden Pfeile gemacht. Die Schilfrohre als Pfeile hatten allerdings nie den richtigen Schwerpunkt, so dass sie im Flug wie ein Lämmerschwanz eierten und das anvisierte Ziel auch nicht annähernd erreichen konnten. Deshalb suchten wir uns mitteldicke Holunderzweige, schnitten davon kurze Stücke ab und fertigten daraus Pfeilspitzen. Das ging folgendermaßen vor sich: Die Holunderzweige, es mussten aber frische, noch grüne sein, besitzen einen weichen Kern, den man herauspolken kann. So lässt sich dieses etwa vier bis fünf Zentimeter lange ausgehöhlte Stück prima über den Pfeil aus Schilfrohr stülpen. Dadurch bekommt der Pfeil den richtigen Schwerpunkt und sorgt somit für einen einigermaßen ruhigen und gleichmäßigen Flug. Damit gingen wir dann auf die Pirsch um Hasen zu jagen. Aber es hat niemals funktioniert. Einerseits hat uns nie ein Hase nahe genug an sich herankommen lassen, und andererseits war so ein Pfeil im Grunde genommen völlig harmlos. Das tat unserem Jagdeifer aber keinen Abbruch. Es war jedes Mal von Neuem spannend und aufregend, einen Hasen aufzustöbern und einen Pfeil, ohne jemals Aussicht auf Erfolg, nach ihm abzuschießen. Den Glauben an den Rat der Eltern, dem Hasen Salz und Pfeffer auf den Schwanz zu streuen, damit er stehen bliebe, hatte ich auch schon längst verloren.

So waren wir auch wieder einmal im Frühherbst, mit Bogen und Pfeil ausgerüstet, durch die große Wiese streifend hinter dem Wohnlager Barth-Stein auf der Suche nach Hasen. Mein Freund aus der Nachbarschaft und ich jagten unsere Hasen in der Nähe des Hechtgrabens, als ein olivgrüner Geländewagen mit rotem Stern an der Seitentüre auf der mit grobem Katzenkopf gepflasterte Chaussee aus Richtung Barth-Stein näher kam. Auf unserer Höhe hielt der Jeep an, mir war richtig angst und bange geworden. Zwar ist es in der Barther Gegend nie zu Übergriffen auf Kinder gekommen. Als die fremden russischen Soldaten bei uns auftauchten und neben uns anhielten, überkam mich aber doch das Fracksausen. Im Auto saßen drei Offiziere und ein einfacher Rotarmist als Fahrer. Der kurbelte das Fenster herunter und rief uns in seiner Sprache etwas zu, was wir aber nicht verstehen konnten. Sein gekrümmter Zeigefinger als Zeichen von Schießen und sein „Utka ping-ping“ ließ uns ahnen, worum es gehen sollte. Der Offizier neben dem Soldaten gab uns mit einer entsprechenden Geste zu verstehen, wir sollten zum Fenster auf seine Seite kommen. Auch er kurbelte das Fenster herunter, rief „dawai, dawai“ und bedeutete uns, ebenfalls mit gekrümmtem Zeigefinger, ähnlich wie die Hexe im Märchen mit Hänsel und Gretel, näher zu kommen. Nun ja, was blieb uns anderes übrig als der Aufforderung nachzukommen. Und so standen wir mit weichen Knien vor dem Auto und hofften, dass die Russen uns nichts antäten. Das taten sie dann auch nicht, sie waren recht freundlich. Sie sprachen auch recht gut deutsch, und gaben uns zu verstehen, wir sollten einsteigen. Das ließ bei mir nun aber das Herz noch tiefer in die Hosentasche rutschen. Was wollen die von mir? Führen sie Böses im Schilde? Obwohl sich alle drei Offiziere ausgesprochen freundlich zeigten, schien es mir doch wenig verlockend, in den Jeep einzusteigen.

Wir krabbelten schließlich aber doch zu den Iwans ins Auto und ab ging die Russenpost. Im Auto lagen mehrere Waffen mit langem Lauf, es waren Jagdflinten. Ein Offizier fragte, ob wir wüssten, wo hier viele Wildenten seien, sie wollten „ping-ping" machen, also Enten schießen. Wo sich in dieser Jahreszeit Wildenten und Wildgänse aufhielten, das wussten wir von unseren häufigen Hasenjagden her natürlich bestens und zeigten in die Richtung nach Bresewitz. Dort, rechts von der Chaussee am Schilfgürtel am Bodden hockten sie häufig, so auch an besagtem Tag. Na, die Iwans freuten sich, stellten ihr Fahrzeug am Straßenrand unter einem Baum ab und hießen uns aussteigen.

Tja, wir durften nun den Weg zurück nach Barth-Stein laufen. aber wir hatten jeder zwei Stangen "Bärendreck", also Lakritze, bekommen. Mein Freund hatte noch wichtig tun wollen und rief den

Russen zum Abschied „Do Swidanja!“ zu. Die freuten sich wirklich, dass sich so ein deutscher Steppke in russischer Sprache von ihnen verabschiedete. Während unseres Heimweges hörten wir dann etliche Male, wie die Iwans auf ihre „Utkas" schossen.“

Am nächsten Tag war es im Ort Gesprächsthema, dass sich die Russen am Abend zuvor nach ihrer Entenjagd im Dorf-Konsum, der sich direkt vor der Gastwirtschaft befand, mit hochprozentigem Wodka eingedeckt hatten. Der wurde dann gleich an Ort und Stelle ausgetrunken, danach veranstalteten sie eine Randale im Dorf. Das Ende vom Lied war, bald darauf soll das russische Rollkommando vorgefahren sein und die betrunkenen Iwans wurden wie nasse Mehlsäcke auf die Ladefläche geworfen. So etwas war aber wirklich nur sehr selten der Fall.

Die erlegten Enten werden sich nach solchem Tohuwabohu wahrscheinlich irgendwo in einem Pruchtener Kochtopf wiedergefunden haben.

 Die Jungens, aber auch etliche der Mädels, haben sich auch noch mit ganz anderen Dingen die Zeit vertrieben. Was gab es hier auch nicht für aufregende Abenteuer, in so einem großen Wohnlager mitten im Wald. Da wurden im Wald Erdhöhlen gebaut, Vogelnester ausfindig gemacht, noch nicht flügge Vogelkinder mit nach Hause genommen.

Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, wie viele Krähen in den Bäumen am Lager Barth-Stein ihre Nester hatten! Mit einem Knüppel haben wir an die Baumstämme geklopft, und wenn ein Nest besetzt war, flog der erschreckte Vogel aus dem Nest davon. Einige Jungs waren mutig, sie kletterten auf den betreffenden Baum und holten die Eier herunter. Die wurden, wenn sie noch nicht bebrütet waren, in die Pfanne gehauen.

Spannender aber war die Sache mit den Erdhöhlen. Die wurden teils direkt unter einem dicken Baum unter den Wurzelstock gebuddelt. Platz hatte darin meistens nur der „Besitzer“, der seinen Bau sorgfältig tarnte. Andere Jungens taten das Gleiche. Und jeder suchte nach der Höhle eines anderen Jungen und zerstörte diese dann, wenn er eine ausfindig gemacht hatte. So gab es einen ständigen Kampf zwischen den „Höhlenkindern“, der aber nie bösartig wurde.

Fiete erinnert sich: „Erst viel später, als Erwachsener dann, ahnte ich, wie gefährlich diese Spielchen in Wirklichkeit waren, Jan. So eine Höhle in sandigem Erdreich unter einem Baum hätte ja auch mal in sich einsacken und mich oder einen anderen der Jungs darunter begraben können. Hilfe wäre nicht zu erwarten gewesen, wir waren beim Höhlenbauen meistens alleine damit beschäftigt.“

 

Ziegenmilch und Schafskäse
Die zwei Jahre, die Fiete der Pruchtener Schule verbrachte, sind bei ihm in bester Erinnerung bis heute, Fiete denkt noch immer voll Wehmut an diese Zeit von 1954 bis 1956 zurück.
„Ich weiß“, meint er, „es gibt Zeitgenossen, die ihre Schuljahre am liebsten in die hinterste Schublade ihres Gedächtnisses verbannen möchten.“
Überhaupt waren seine eineinhalb Jahre in Barth-Stein, wo er mit den Eltern nach der Übersiedlung aus dem Schwäbischen in die „Zone“ zunächst wohnte, die für ihn interessanteste und am nachhaltigsten in der Erinnerung haften gebliebene Zeit. Aber auch das hat Fiete nicht vergessen: Rund um Pruchten gab es damals Felder, auf denen eine Frucht wuchs, die ihm völlig fremd war. Einen ungewohnten, ja geradezu unangenehmen Geruch nahm er dort wahr, den er auch nach so vielen Jahrzehnten noch immer zu verspüren glaubt. Gemeint sind Wruken, auch Steckrüben genannt, die zwischen Barth-Stein und Pruchten auf kleinen Feldern häufig angebaut wurden. Aus der Schulküche kam, wie sollte es anders sein, schon in den ersten Tagen seiner Pruchtener Schulzeit ein Essen auf den Tisch, das man als Wrukeneintopf kennt, Fiete kannte das bis dahin noch nicht.
„Ich bekam das Essen beim besten Willen nicht runter. Meine neuen Klassenfreunde dagegen mampften mit großem Appetit, und einige ließen sich noch einen Nachschlag geben.“
Bei Fiete durfte in all den Jahren danach nie ein Wrukenessen auf den Tisch gebracht werden. Dagegen ist ihm die Erinnerung an die Hörspiel-Nachmittage nach der Schule bei Tante Lemmy noch immer lieb. Wenn der Schulbus, auch Affenkasten genannt, die Rasselbande nachmittags wieder in Barth-Stein abgeliefert hatte, machten sich die Kinder nicht gleich an die Hausaufgaben.
„Wir, das heißt ich, Charlotte und deren Bruder Horst, trafen uns regelmäßig in der Wohnung von Onkel Karl und Tante Lemmy mit deren Kindern Erika, Kurt und Bernd. Wir waren alle in einem ungefähr gleichen Alter. So, wie viele andere Kinder in deren zu Hause auch, hockten wir dann gemeinsam vor dem alten Radiogerät, das allgemein Goebbelschnauze hieß. Einen Fernseher hatte in unserem Bekanntenkreis ja noch niemand.“
Von Montag bis Freitag übertrug der Deutschlandsender täglich ab vierzehn Uhr ein Hörspiel, speziell für Schulkinder gemacht.
„Darauf waren wir jeden Tag gespannt und lauschten mit großem Interesse diesen Geschichten. Tantchen freute es, dass ihre Sprösslinge, Erika, Kurt und Bernd sich mit den Kindern aus der Nachbarschaft so gut verstanden und dadurch weniger Dummheiten anstellten.“
Der Onkel war auf Arbeit in der „Pommerschen“, wie das Landmaschinenwerk damals genannt wurde, und Tantchen war für die Deutsche Post unterwegs. Sie trug die Briefe, Päckchen und Pakete, aber auch die Zeitungen aus. Auch das Auszahlen von Geld per Postanweisungen gehörte zu ihren Aufgaben.
Tantchen war also Briefträgerin. Heute heißt das Postzusteller/in. Postzusteller liefern aber keine Pakete mehr aus und für die Zeitungen sind auch andere „Vertriebsunternehmen“ zuständig. Eine Briefträgerin hat ihre Briefe tatsächlich „getragen“, ein Post-Dienstfahrrad, oder gar ein Dienstauto, das war undenkbar. In einer großen schwarzen, schweinsledernen Umhängetasche, die an einem breiten Gurt über der Schulter hing, schleppte Tantchen das Postgut zu ihren Kunden. Und trotzdem hatte sie noch Zeit für einen kleinen Plausch am Gartentor, manchmal nahm sie sogar eine Einladung zu einer Tasse Kaffee an. Denn eine solche Einladung ließ vermuten, hier musste ein Päckchen aus dem Westen angekommen sein, in dem auch der „gute Jakobs-Kaffe“ drin war. Na, da ließ sich Tantchen nicht durch das Briefeaustragen abhalten, so viel Zeit musste sein!
Weitere Aufgaben als Briefträgerin waren noch das monatliche Kassieren der Gebühren für den Rundfunk sowie für das Zeitungs-Abo. Als Beleg für das bezahlte Abo von Zeitung und Rundfunk diente eine Quittung in Kleinformat auf gelbem Papier. Darauf war quer die Mahnung „Der RIAS lügt, die Wahrheit siegt!“ aufgedruckt. RIAS war das Kürzel für „Rundfunk im amerikanischen Sektor“, ein Sender, den die Funktionäre der SED wie den Leibhaftigen fürchteten und verdammten.
Onkelchen hatte sich am Waldrand einen größeren Stall mit Scheune errichtet. An diesen Stall erinnert sich heute noch Klaus Inveen. Klaus ist der Sohn eines im Jahr 1952 aus Barth-Stein nach Australien ausgewandertes Ehepaar.
Onkelchen hielt sich viele Jahre hindurch mehrere Schafe und Ziegen. Platz zum Antütern der Viecher und zum Futtermähen war genügend vorhanden. Heute sind diese Flächen mit allerlei Schuppen und Gartenhäuschen verbaut und eingezäunt.
Ihre Arbeit als Briefträgerin brachte es mit sich, dass Tantchen bereits am früheren Nachmittag zu Hause war. Also war sie für das Versorgen der Tiere und das Melken zuständig. Sie butterte auch selbst die Milch ihrer Ziegen und Schafe. Die Kinder mussten da mit einspringen und mithelfen.
„Meiner Tante Luise in Merklingen habe ich desöfteren beim Buttern geholfen. Daher kannte ich das schon. Bei Tante Luise wurde der Rahm in einem Schlagbutterfass bearbeitet, bei Tantchen Lemm in Barth-Stein dagegen wurde gestampft. Doch Butter aus Schaf- oder Ziegenmilch, das war etwas Neues“, meint Fiete, „Schafe und Ziegen sah man bei den Bauern im Schwabenländle keine. Demzufolge war mir auch die Milch und die daraus gemachte Butter völlig fremd. Ich hatte sofort eine Abneigung gegen deren eigenartigen Geruch und Geschmack. Ich muss aber so ehrlich sein, die Erdnussbutter, die wir in Merklingen dort manchmal von den Amis bekamen, mochte ich auch nicht. Die Sanella, diese bekannte Margarine, tat ich mir lieber auf´s Brot.“
Zu Tantchen Lemmy und Onkelchen Karl hat Fiete noch etwas anzumerken.
„Die beiden kannten sich schon aus dem gemeinsamen Sandkasten in der Sundischen Straße, sie besuchten in Barth die gleiche Schule und saßen auch im selben Klassenzimmer. Ist ja eigentlich nichts Besonderes, doch sie waren sich gleich von Anfang recht zugetan. Mit den Jahren kam das Gefühl des Verliebtseins ins Spiel. Daraus wurde Liebe, die Verlobung und baldige Heirat waren für sie eine selbstverständliche Konsequenz. Tantchen und Onkelchen pflegten eine gesunde Lebensweise, wozu wohl auch die Ziegenmilch und die Schafbutter beigetragen haben mochten, und wurden über neunzig Jahren alt.

 

Der „Wilde Mann“

Für eine Episode zu Barth-Stein bzw. Tannenheim wurden passende Fotos benötigt, zum Beispiel Bilder von den ehemaligen „Gemeinschaftsgebäuden“ von 1940 bis 1945 im heutigen Zustand.

Bei der Spurensuche im heutigen Barther Ortsteil Tannenheim gab es auch Überraschendes. Ich habe Menschen getroffen, mit denen ich als Zwölfjähriger hier, im damaligen Lager Barth-Stein, Spiele gespielt habe, die heutigen Kindern längst nicht mehr bekannt sind. Auch bat mich eine ältere Dame zu einer Tasse Kaffee in ihre Wohnung. Ich muss gestehen, mir war nicht mehr bewusst, wie beengt unsere Wohnverhältnisse in Barth-Stein damals waren. Doch viele der heutigen Bewohner haben sich ein schönes Umfeld geschaffen. Mit viel Grün und mit vielen gepflegten, bunt blühenden Blumenbeeten vor oder auch hinter den Wohngebäuden. Bedauerlich ist, dass manche Ecke leider recht verwahrlost aussehen. Schuld daran mag das Gerücht sein, viele der Gärten und und andere Flächen im Bereich des Ginsterweges sollten beräumt werden, um neue Gebäude errichten zu können.*

Gefunden habe ich auch noch etwas anderes, nämlich die frühere Kulturbaracke im heutigen Ginsterweg. Diese Baracke war im November 1951 auf Grund des Stadtwirtschaftsplanes als Kulturraum eingerichtet worden.

Haushaltsmittel für die Einrichtung und für die laufende Unterhaltung stehen aber nicht zur Verfügung“, wie seitens der Stadtverwaltung in einer Beschlussvorlage vorsorglich betont wurde. Und weiter in der Vorlage: „Der Kulturraum wurde bisher nicht von der Abteilung Kultur und Volksbildung verwaltet. In der letzten Zeit treten verschiedentlich Parteien und Organisationen an uns heran und bitten, den Kulturraum benutzen zu dürfen. Aus diesem Grunde ist es erforderlich, zu klären, wer für die Verwaltung verantwortlich ist.“

Der Stadtrat beschloss auf seiner Novembersitzung, dass noch im Jahre 1951 der Kulturraum nun doch der Grundstücksverwaltung angegliedert werden soll. Die Kosten selbst sind von den einzelnen Veranstaltern selbst zu tragen, und somit war die Verantwortlichkeit geregelt. Für das Jahr 1952 sollte eine Neuregelung erfolgen, welches auch im Januar 1952 geschah.

Aus der Beschlussfassung:

"... dem Dezernat Kultur und Volksbildung die Verwaltung des Kulturraumes in Barth-Stein zu übertragen. Nach der Haushaltsbesprechung mit dem Rat des Kreises Stralsund, Dezernat Finanzen, stellte sich heraus, dass keine Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden können. Um die notwendigen Kosten übernehmen zu können, machen wir folgenden Vorschlag: Die FDJ kann wegen Mangel an geeigneten Räumen in Barth-Stein Versammlungen nur in beschränktem Maße durchführen. Es wäre angebracht, diesem Zustand abzuhelfen, indem der Kulturraum als Jugendzimmer der FDJ zur Verfügung gestellt wird. Die Finanzierung der notwendigen Anschaffungen und sonstigen Ausgaben müsste dann aus dem Kapitel 833-Jugendheim-Jugendzimmer erfolgen. Um das Kapitel 833 von anderen Ausgaben zu entlasten, wird ferner vorgeschlagen, das Jugendheim am Sportplatz, das nur noch zum Umkleiden für die Sportler und als Trainingsraum für die Boxstaffel ausgenutzt wird, aus dem Kapitel 833 herauszulösen und, da es nicht mehr als Jugendheim zu betrachten ist, dem Kapitel 854-Sportstätten anzugliedern.“

Dem Kulturraum war jedoch keine all zu lange Lebensdauer beschieden. Bereits im Sommer 1954 wurde die Einrichtung geschlossen um einer anderen Art „Kultur“ Platz zu machen. Das Inventar wurde dem Internat der Oberschule im Waldweg 2 überlassen. Das Protokoll dazu verdeutlicht, wie bescheiden die Ausstattung eines solchen Kulturraumes nach heutigen Maßstäben aussah.

3 Stck. Tische, 25 Stühle, 6 Bänke, 3 Plaketten (….blumen), 1 Besen, 1 Kohlenschaufel, 1 Toilettenbürste, 5 Vasen, 2 Ascher, 25 Kleiderbügel, 1 Eimer“.

Bis zur Schließung des Kulturraumes bot der Landfilm hier in regelmäßigem Turnus Kino an. Der Eintritt bei Kinderfilmen betrug fünfundzwanzig Pfennige. Mein erstes Erlebnis in einer solchen Vorführung war im Sommer 1954 der unvergessene DEFA-Film „Der kleine Muck“.

Doch bereits im November des gleichen Jahres übernahm dann die Konsum-Genossenschaft Barth und Umgegend eGmbH diese Räumlichkeiten um darin eine Gaststätte betreiben zu können.

Die Konsum-Genossenschaft begründete ihr Vorhaben, den Kulturraum in eine Kneipe umzufunktionieren, folgendermaßen:

Um der Bevölkerung von Barth-Stein die Möglichkeit zu bieten eine Gaststätte zur Verfügung zu haben, beantragt die KG Barth die pachtweise Übernahme des jetzigen Kulturraumes in Barth-Stein zur Errichtung einer Gasstätte.“

Um dem Ansinnen ein jener Jahre entsprechendes gesellschaftspolitisches Gewicht zu verleihen, musste natürlich die Partei mit ins Spiel gebracht werden:

Es ist von vornherein klar, dass auch weiterhin der Raum der Partei und anderen Organisationen für Versammlungszwecke zur Verfügung steht.“

Folgender „Vertrag zwischen dem Rat der Stadt Barth, Abteilung Volksbildung, vertreten durch den Kollegen Bürgermeister Rewoldt und der Konsumgenossenschaft Barth, vertreten durch Kollegen Kausche“ besiegelte das Ende des kulturellen Treffpunktes für die Menschen in Barth-Stein:

§ 1

Ab 1. 9. 1954 übernimmt die Konsumgenossenschaft Barth das bisherige Jugendzimmer in Barth-Stein zur weiteren Nutzung als Gaststätte.

§ 2

Der Rat der Stadt Barth übergibt der Konsumgenossenschaft die dort lagernden Brennstoffvorräte (50 Ztr. Torf) gegen Erstattung des Selbstkostenpreises.

§ 3

Die Konsumgenossenschaft verpflichtet sich, den Raum für Versammlungen und Veranstaltungen der Parteien und Massenorganisationen zur Verfügung zu stellen.

§ 4

Wegen Übernahme der Rechtsträgerschaft ist mit der Grundstücksverwaltung ein besonderer Vertrag abzuschließen.“

Die Kneipe ist auch heute noch bei vielen Einwohnern von Tannenheim unter dem Begriff „Wilder Mann“ im Gedächtnis. Diesen Namen hat sie ganz bestimmt nicht vom Bürgermeister Rewoldt, auch nicht vom damaligen Konsum-Boss Kausche bekommen. Vielmehr dürfte der Volksmund hier der Namensschöpfer gewesen sein.

Wilder Mann? Ja, es war eben eine wilde Zeit mit vielen Menschen, die infolge der Kriegswirren, Flucht oder Vertreibung aus ihrer gewohnten Lebensbahn geworfen worden waren. Aus Ostpreußen, Hinterpommern, Sudeten oder Schlesien kamen sie, suchten zunächst einen Unterschlupf um vermeintlich bald wieder in ihre Heimatorte zurückkehren zu dürfen. Das war, wie wir wissen, ein großer Trugschluss. Aus Notbehelf und vermeintlich vorübergehender Bleibe wurde zwangsläufig dauerhaft eine neue Heimat. Aber das verlief nicht in jedem Fall reibungslos.

Zwar waren sie alle Deutsche, doch der Ostpreuße hat eine andere Mentalität als der aus den Sudeten Gekommene. Ach der einheimische Pommer tickt anders als der aus Schlesien vertriebene Barther Neubürger. Sie alle mussten sich in das neue Milieu einleben, mussten mit anders Denkenden und Fühlenden zurecht kommen.

Vielen gelang das nicht gleich auf Anhieb, sie ließen dann in der Barth-Steiner Kneipe ihrem Frust freien Lauf und ließen mächtig Dampf ab. Da die „wilden Männer“ in dieser „wilden Zeit“ so relativ häufig „wilde Sau“ spielten, bürgerte sich mit der Zeit der Begriff „Wilder Mann“ ein.

Eine Begebenheit, es mag so Anfang des Jahres 1955 gewesen sein, hatte mich, das elfjährige Kind, reichlich geschockt. Vor der Baracke Nummer sieben war eines späten Abends lautes Schreien und Gekreische zu vernehmen. Geräusche die eindeutig auf eine Schlägerei schließen ließen, hallten durch die ansonsten ruhige Gegend. Mehrere Leute, nicht nur Männer, schlugen ganz offensichtlich auf einen Menschen ein. Wir Kinder lauschten verängstigt diesen Vorgängen da draußen und getrauten uns nicht vor die Türe, selbst die Fenster hielten wir geschlossen. Die Prügelei wollte und wollte aber auch kein Ende nehmen. Manchmal war für kurze Zeit Ruhe, so dass wir dachten, es ist endlich vorbei, da begann der Lärm erneut. So ging das schier endlos durch den Abend.

Tags darauf war das Vorgefallene natürlich das große Gesprächsthema bei den Einwohnern. Es hatten sich mehrere Bewohner nach dem Besuch im „Wilden Mann“ auf einen Nachbarn vor dessen Wohnung gestürzt und ihn in dieser Schlägerei derart zugerichtet, dass er nur knapp dem Tod von der Schippe gesprungen war. Er erlitt durch die Schläge und Tritte dauerhafte Schäden am Gehirn.

Diese Kneipe gibt es schon längst nicht mehr, doch den Namen „Wilder Mann“ kennt wohl jeder Barth-Steiner.“

 

Das Unglück in der Kläranlage Barth-Stein

Heute Ferienwohnung in Barth-Tannenheim, einst Kläranlage in Barth-Stein.

Als sehr viele Barther noch (zwangsläufig) einen „Donnerbalken“ benutzten, verfügten die Wohnungen im damaligen Bereitschaftslager Barth-Stein bereits sämtlich nicht nur über fließendes Wasser, sondern auch über Wasserklosetts.

In der Baubeschreibung von 1940 zur Errichtung des Lagers heißt es: „Das Lager wird mit Wasser von den Städtischen Wasserwerken gespeist. Der Anschluss befindet sich an der Reichsstraße 195.“

Und alle Wohnungen waren mit Toiletten mit Wasserspülung ausgestattet. Diese Abwässer flossen jedoch nicht ungeklärt bei der berüchtigten Stintenklappe in das Barther Hafenbecken, ein modernes Klärwerk sorgte hier für klare Verhältnisse.

Zitat aus der Baubeschreibung: „Die Abwasseranlage erfolgt über ein Kanalisationssystem, das in den Straßen liegt. Im Norden des Geländes wird eine mechanische und biologische Kläranlage errichtet. Das geklärte Wasser fließt über einen Vorfluter in die Barthe.“

Der Abflussgraben zur Barthe hin ist bis heute noch vorhanden. Wie man sieht, die biologische Abwasserbehandlung haben also nicht die heutigen Grünen erfunden.

Mit der Kläranlage in Barth-Stein ist jedoch auch eine äußerst tragische Begebenheit verbunden. Sie ist mir seit 1954 bekannt. Lange hielt ich sie für ein Gerücht, aber eine ältere Dame aus Tannenheim hat sie mir vor etwa einem Jahr bestätigt. Auch ein ehemaliger Barth-Steiner Einwohner, den es vor mehr als sechzig Jahren nach Australien verschlagen hat, erinnert sich noch recht intensiv daran. Er schrieb mir: „In den 40er Jahren, wenn ich in Barth-Stein war, sind wir Kinder auch immer die Leiter an der damals noch aktiven Kläranlage hoch geklettert. Aber das hat dann plötzlich aufgehört. Soviel ich mich erinnere, war das 1948 oder 1949, nachdem zwei Kinder dort auch wieder einmal hochgeklettert sind und alleine dort spielten. Einer ist in die Kläranlage reingefallen und versunken bevor sein Freund Hilfe finden konnte.“

Die ältere Dame bestätigte das mit geringen Unterschieden und schilderte mir den Hergang des Unfalles so: „Diese Geschichte mit dem kleinen Mädchen, das da in die Kläranlage gestürzt ist, ist traurig aber wirklich passiert. Die Kinder haben dort gespielt und ein Mädchen fiel hinunter in die Kläranlage. Sie hätte nicht ihr Leben verloren, wenn sofort Hilfe geholt worden wäre. Aber die anderen Kinder sind in ihrer Angst davon gelaufen und haben zunächst niemandem etwas gesagt. Als die Erwachsenen dann davon erfuhren, war das Mädchen schon tot.“

Es war die Zeit kurz nach Kriegsende, in der es entweder keine entsprechenden Vorschriften zur Vermeidung solcher Unfälle gab, oder diese sehr lasch gehandhabt wurden.

Im Frühjahr 1956 bezogen die Eltern eine größere Wohnung in der Stadt. Fiete´s neues „Revier“ war jetzt das Hafenviertel. Im letzten Sommer vor seiner Lehrzeit ist die Erzählung

 

Hallo Gepäckträger

angesiedelt. Fiete und Jan sitzen am Barther Hafen auf ihrer Klönbank. Sie beobachten interessiert und auch amüsiert das Treiben der Urlauber beim Schiffsanleger. Dabei fällt Fiete eine Story aus dem Jahr 1956 ein und bringt das Gespräch auf ein interessantes Thema und fragt:
„Weißt du noch, was wir damals für eine Dampferfahrt rüber nach Zingst bezahlt haben, Jan?“
Mit damals meint er seine Schulzeit, in den 1950er Jahren.
„Ich glaube, das waren wohl so um die fünfundachtzig Pfennige bis nach Zingst. Mit dem Bus kostete es eine Mark und zehn.“
„Heute zahlst du fast zehn Euro, umgerechnet sind das zwanzig Mark! Westmark! Und für eine Fahrt mit dem Dampfer bis nach Prerow musste man eins sechzig zahlen. Was sind das bloß für böse Zeiten geworden“, erbost sich Fiete.
Ja, die so genannten guten alten Zeiten! Dabei vergessen unsere beiden Helden, dass der Reeder mit diesen Preisen wohl schwerlich kostenmäßig über die Runden gekommen wäre, wenn der Staat nicht kräftig Subventionen über den Tisch geschoben hätte.
Und da kommt die Frage „weißt du noch wie der Dampfer damals hieß.“
„Ja, weiß ich, Walter war der Name. Aber weißt du denn auch, dass es zwei Dampfer gab, die damals von Barth nach Zingst und nach Prerow fuhren?“
„Nee, sag bloß, zwei Dampfer? Wie hieß denn der andere?“
„Das war Onkel Fritz, der war wohl etwas kleiner als Walter. Bei Walter passten nämlich 140 Leute rauf.“

Reeder der Schiffe war Walter Krusemark. Er betrieb auch einen Kohlehandel und den Hafenumschlag.
Wenn nun Urlauber mit der Bahn in Barth ankamen und zu ihren Quartieren auf die Halbinsel wollten, mussten sie irgendwie weiterbefördert werden. Die Bahnlinie endet in Barth, denn die Darßbahn nach Zingst und Prerow war 1946 stillgelegt und die Anlagen als Reparationsleistung für die Sowjetunion demontiert worden.
Bis Mitte der 1950er Jahre existierte noch keine zuverlässig, funktionierende Infrastrukur wie es heute der Fall ist. Die Buskapazitäten waren noch völlig unzureichend, auch für die damaligen bescheidenen Verhältnisse. In der Sundischen Straße gab es das eingesessene, privat geführte Busunternehmen Schütt noch aus alten Zeiten. Zwei Busse hatte das Unternehmen. Der eine Omnibus fuhr mit einem Anhänger, der einen separaten Zustieg hatte. Beide Busse waren von taubenblauer Farbe und trugen Namen: „Heimat“ und „Heimatland“.
Daneben existierte auch schon ein volkseigenes, also schon nicht mehr privates, Busunternehmen. Für beide Firmen galten verbindliche Fahrpläne. Die Anzahl der Abfahrten war, bedingt durch die viel zu wenig vorhandenen Fahrzeuge ziemlich dürftig. Dazu kam noch, dass die VEB-Busse nicht immer zu den angegeben Zeiten fuhren. Ausfälle waren an der Tagesordnung. Ob es an einer Unzuverlässigkeit des Personals lag, oder ob technische Mängel dafür verantwortlich waren, das entzieht sich heutiger Kenntnis.
Diese volkseigenen Busverbindungen wurden von vielen Leuten gemieden, wenn es sich einrichten ließ. Eine Fahrt mit dem „Privatbus“ dagegen bevorzugten die meisten Leute. Für manche galt wohl das Fahren mit dem VEB auch als unanständig. Da war es sehr hilfreich, dass noch die beiden Fahrgastschiffe „Walter“ und „Onkel Fritz“ zwischen dem Barther Ost-Hafen und den Ostseebädern Zingst und Prerow fuhren. Die Dampfer hatten außerdem eine viel größere Kapazität zur Beförderung der Urlauber als die wenigen und schon recht klapprigen Omnibusse.
Also, um nach Zingst oder nach Prerow in die Urlaubsquartiere zu kommen, nutzten die Bahnankömmlinge gerne die Dampferverbindung über den Barther Bodden. Diese Seereise war für die Berliner oder Sachsen auch wiederum ein zusätzliches Erlebnis vor dem eigentlichen Urlaubsziel.
Nur, die Sache hatte da ein Problem. Wie kommt der Urlauber, der mit Koffern und Taschen bepackt ist, zum Hafen runter? Das sind immerhin anderthalb bis zwei Kilometer!

Hier nun kam Fiete zum Zuge, und zwar im doppelten Sinne des Wortes mit seiner Geschäftsidee.

Bis zum Frühjahr 1956 wohnten wir in Barth-Stein und ich besuchte die Zentralschule in Pruchten“, erzählt Fiete. „Dann bezogen die Eltern eine Wohnung in der Barther Hafenstraße. Für mich war das mit einem Schulwechsel verbunden. Ab dem 1. September ging es in die Fritz-Reuter-Schule an der Papenstraße. Die letzten Wochen des alten Schuljahres musste ich bis dahin aber in Pruchten absolvieren. Das bedeutete, einige Wochen lang nach Unterrichtsende den Weg von Pruchten nach Barth unter die Füße zu nehmen, den Heimweg also häufig per pedes zu bewältigen! Denn ein Bus fuhr nicht immer gerade zur passenden Zeit. Und sich auf den Bus-Fahrplan zu verlassen, war auch immer eine ungewisse Angelegenheit.“

Hier in Barth kam Fiete sofort eine Idee, um mit einer Dienstleistung, wie man das heute nennen würde, den bedauernswerten Urlaubern am Bahnhof einerseits behilflich zu sein und sich andererseits etwas Geld zu verdienen.

Die Leute asteten mit ihrem schweren Gepäck durch die ganze Stadt bis runter in den Hafen. War bestimmt nicht angenehm für die Urlaubers. Die wollten sich hier doch erholen, und dann so was!“

Jan kann den Leuten die damalige Verärgerung auch heute noch richtig nachfühlen.
„Stell dir das mal vor, im Sommer bei vierzig Grad Hitze, mit Gepäck und vielleicht noch mit kleinen Kindern an der Hand! Und weit und breit kein Gepäckträger, kein Helfer mit Transportgerät in Sicht! Die taten mir richtig leid.“

Aber Fiete wäre nicht Fiete gewesen, wenn ihm da nicht eine Abhilfe eingefallen wäre. Er mauserte sich quasi zum Jungunternehmer, zum Kapitalisten, wenn auch nur zu einem ganz kleinen und ganz

bescheidenen. Dafür aber zu einem überaus sehr hilfreichen! Doch ganz selbstlos war er mit seiner Idee auch nicht.
„Ich habe mir Vaters Handwagen geschnappt und bin damit zum Bahnhof gezuckelt, habe mich dort auf dem Vorplatz hingestellt und wenn die Leute dann rauskamen und ratlos und hilfesuchend in die Runde guckten, dann habe ich gefragt, ob ich ihnen für fünfzig Pfennige pro Gepäckstück helfen könne. Vom Zug bis zum Dampfer runter, für nur fünfzig Pfennige!“
„Das war aber ein schöner Zug von dir.“

Was meinst du, wie die sich erst über mich gewundert und dann aber gefreut haben. Am Hafen gab es manchmal noch einen Groschen extra dazu. Und so habe ich der Menschheit eine Wohltat erwiesen, habe im Sozialismus marktwirtschaftlich Vorbildliches geleistet und habe damit den Grundstock für meinen heutigen Wohlstand gelegt. Dies war mein erster und gleichzeitig auch letzter Versuch, in der Marktwirtschaft, diesen Begriff kannte damals noch niemand, durchzustarten.

Den Satz weiter oben, vom Wohlstand, sollte man so verstehen, wie er von mir gemeint war: Ganz sicher sehr launig. Denn ich habe es auch nur bis zu einem ganz normalen, unterdurchschnittlichen Durchschnittsrenter gebracht.“
Was die Dampfer „Walter“ und „Onkel Fritz“ anbelangt, da ist zu fragen, wo sind sie abgeblieben. Verkauft? Verschrottet? Oder klamm und heimlich spurlos im Bermuda-Dreieck verschollen gegangen? Walter lebt, fährt immer noch als strahlend weißes Schiff über die Gewässer und heißt jetzt „Kieler Sprotte“. Von Onkel Fritz ist allerdings keine Spur mehr zu finden."

Den Satz weiter oben, vom Wohlstand, sollte man so verstehen, wie er gemeint war: Ganz sicher sehr launig.

Denn ich habe es auch nur bis zu einem ganz normalen, unterdurchschnittlichen Durchschnittsrenter gebracht.“

Mit der Gepäckträgergeschichte endet Fiete´s Kindheit.

 

Lehrlingskollektiv und FDJ
Im Jahr 1957 eröffnete ihm der Vater, dass er einen Lehrvertrag für einen Metallberuf in einem Metallbetrieb zu unterschreiben habe. Das schmeckte ihm überhaupt nicht, er hatte vielmehr eine Neigung zum Holzberuf. Tischler wäre er gerne geworden. Aber die Eltern hatten entschieden, ohne dass die eigentliche Hauptperson gefragt wurde. Vater war Metaller und dessen Vater auch, also hatte Fiete diese Tradition weiterzuführen. So kam es, dass er im VEB Landmaschinenbau Barth die Finessen der Metallbearbeitung kennenlernen durfte. Das hieß in erster Linie, mit den verschiedensten Feilenarten über Oberflächen aus Stahl und Eisen zu kratzen. Aber schon bald zeigte sich, Fiete hat ein großes Manko im handwerklichen Geschick.

Hier machte er auch seine ersten Erfahrungen mit der Politik und der FDJ, in die er bereits während der achten Klasse aufgenommen worden war. Mit der verflixten Politik hatte er anfangs seine liebe Not. Bei politischen Gesprächen innerhalb des Lehrlingskollektivs eckte er besonders in der FDJ-Gruppe immer wieder an. Sein Freund Jan wusste bisher aber nichts davon, dass Fiete gelegentlich mit politischen Äußerungen aufwartete, die bei gewissen Mitarbeitern bzw. Funktionären absolut keine Begeisterung auslösten und er deshalb folgerichtig schief angesehen wurde. Nicht etwa weil er gegen die SED oder sonst etwas hetzen wollte, nein, sondern weil er einfach dies und das in seinem neuen Umfeld noch nicht richtig einzuordnen verstand.

Und Fiete legt los: „Hör mir bloß auf mit der FDJ! Hab ja viel gelernt in der Ausbildungszeit. Die Jungs in der Werkstatt und in der Berufsschule waren auch alle wirklich prima Kumpels, aber der FDJ-Macker, na ...!“

Was war denn mit dem? Ich glaube, den kenne ich. Heißt er nicht Kugelbiss? Bisschen großkotzig war der schon, das stimmt, aber ansonsten konnte man doch mit ihm klarkommen?“

Na ja, es war gerade die Zeit einer Wahl, ob Volkskammer- oder Kommunalwahl, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß aber noch, wie ich mich damals über die Wahlplakate aufregte und auch im Lehrlingskollektiv mit meiner Meinung nicht hinterm Berg hielt. Die Plakate forderten ´Wählt die Kandidaten der Nationalen Front`! So ein Quatsch, muss ich wohl bei einer der allmorgendlichen Zeitungsschauen in der Lehrwerkstatt geschimpft haben, wen sollte ich denn sonst wählen? Andere Kandidaten und Parteien gibt es hier doch gar nicht! Schließlich kannte ich Wahlen noch aus meiner Zeit in Baden-Württemberg. Dort traten mehrere Parteien selbständig mit unterschiedlichen Aussagen und Forderungen in der Öffentlichkeit auf. Wählt KPD, Liste 5! Wählt CDU! Wählt SPD! usw. So kannte ich den Wahlkampf, der allerdings hier in meiner neuen Heimat so ganz anders war. Ich war der Ansicht, und sagte das auch so, dass dieses ja überhaupt kein richtiger Wahlkampf sei, so ganz ohne Kandidaten- und Parteienauswahl. Womit ich zwar wohl richtig lag, es aber in dieser Zeit und in dieser Umgebung nicht in aller Öffentlichkeit hätte ausposaunen dürfen.

Auch sprach ich immer vom Ostzonen-Sport, was nicht so gut aufgenommen wurde. Dabei war das meinerseits lediglich ein Missverständnis. In der Ostsee-Zeitung, die meine Eltern hier abonniert hatten, stand oben auf der Sportseite „OZ-Sport”. OZ, das hieß in meinem Verständnis damals eben Ost-Zone. Erst viel später wurde mir in der FDJ-Gruppe verdeutscht, dass das “OZ-Sport” in diesem Falle „Ostsee-Zeitung Sport” bedeutet.

Dem FDJ-Macker wurde das natürlich zugetragen, ich musste antanzen zur „persönlichen politisch-klärenden“ Aussprache. Und was machte ich da? Anstatt die Klappe zu halten und reuige Einsicht zu mimen, beharrte ich auf meiner Meinung. Das war natürlich dumm von mir, aber ich dachte, ich dürfte sagen, was ich davon halte. Der FDJ-Macker war fassungslos über solche Impertinenz!

Er drohte mir in der Runde der Anwesenden Konsequenzen an, so dass ich meine antisozialistischen Einstellungen noch bereuen würde.

Doch, siehe da, es hatte keine Folgen für mich. Da musste wohl jemand mit Einfluss gewesen sein und sozusagen meinen Schutzengel gespielt haben. Auch als ich mir noch eine weitere Eskapade leistete, kam ich mit einem blauen Auge davon. Ich hatte nämlich den FDJ-Gruppensekretär mit Schimpfworten wie Kommunistenschwein und Ostzonenverteidiger belegt.“

Das hast du wirklich gesagt? Ist ja nicht zu fassen. Ein paar Jahre früher hättest du dafür eine Fahrkarte nach Sibirien bekommen, ohne Rückfahrt. Du hattest aber Sachen drauf, du.“

Du hast gut schnacken, bist in die hiesigen Umstände hineingewachsen, ich kam aber aus einer anderen Welt, politisch meine ich. Ich wusste damals überhaupt noch nicht, was ich mit diesen Ausdrücken eigentlich von mir gab. Nur, warum ich auf diesen Mitlehrling und Funktionär unserer Lehrlingsgruppe derart aggressiv losging, das werde ich dir mal verraten: Eine Gruppe von Lehrlingen des 2. und des 3. Lehrjahres, darunter auch ich, durfte im Oktober 1958 für mehrere Tage nach Leipzig reisen, um die 1. Zentrale Messe der Meister von Morgen (MMM) zu besuchen. Mit diesem Jugendwettbewerb MMM wurden, wie so vieles in der DDR, vordergründig ideologische Ziele verfolgt. Organisiert von der FDJ fanden die MMM von 1958 bis 1990 jährlich statt. Ziel war es, bei der sozialistischen Jugend das Interesse für Technik und Wissenschaft zu steigern und so neuen Ingenieurs-Nachwuchs zu schaffen. Die ersten Veranstaltungen fanden auf Schul- bzw. Betriebsebene statt. Hier konnte man sich für die Kreis-, Bezirks- und Republikebene qualifizieren.

So weit ich mich erinnern kann, war mein Lehrbetrieb auch mit einigen Exponaten in Leipzig vertreten. Unsere Lehrlingsgruppe sollte dafür ein Modell anfertigen und mit zur Messe nehmen. Das hat aber nicht geklappt, wurde nicht fertig zum Termin.“

Was habt ihr Mini-Meister denn gebastelt für diese Messe“, kam es von Jan in einem etwas lästerlichen Ton, denn er weiß, sein Freund hat zwei linke Hände.

Ein Schrotmühlen-Modell haben wir gebaut. Kennst du so etwas überhaupt?“

Doch, kenne ich. Onkel Otto wohnt auf dem Dorf, in Rawenshagen. Er hat eine ganze Menge Viehzeugs, für das er auch heute noch mit so einem alten Gerät Getreide schrotet. Wenn ich mich nicht irre, steht auf einem Typenschild sogar VEB Landmaschinenbau Barth drauf.“

Echt? Vielleicht habe ich an dem Ding damals selber mitgebaut!?“

Zum Fertigungsprogramm von 1958, also zu Fietes Lehrzeit im VEB LMB Barth, gehörten noch weitere Maschinen und landwirtschaftliche Geräte, wie Ackerwalzen, Rübenschneider und Kettendüngerstreuer. Später kamen dann Tellerdüngerstreuer hinzu. Auch die Fertigung einer Neuentwicklung zur Flachsentsamung wurde gestartet. Die Montage dieser neuartigen Maschinen wurde zum Teil den Lehrlingen des dritten Lehrjahres übertragen. Mit ihr lässt sich das Flachsstroh mit zwei Bindungen schnell und gleichmäßig bündeln. Die Flachsentsamung war bis dahin reine Handarbeit und demzufolge eine ziemlich zeitraubende Angelegenheit.

Erstaunlich, dass die Fertigung solch einer Neuentwicklung euch Lehrlingen anvertraut wurde“, äußert Jan, womit er wohl recht hat.

So erstaunlich war das wohl aber gar nicht, wenn man bedenkt, dass der Flachsentsamer zunächst lediglich in einer Kleinstserie gebaut wurde. Das waren nur so etwa sechs oder sieben dieser Geräte, war also nicht geeignet für einen Betrieb, in dem sonst nur in Taktstraßen Großserien durchgezogen wurden.

Schließlich war noch in der Perspektive die Produktion eines Großflächen-Teller-Düngerstreuers "Blumberg" vorgesehen. Aber da war ich schon in anderer beruflicher Tätigkeit woanders.“

Was hatte es nun aber mit deinem FDJ-Macker, auf den du vorhin so sauer warst, auf sich?“

Also, da war Folgendes: In der Nähe des Leipziger Hauptbahnhofes hatten wir während unseres Aufenthalts zur MMM in einer Pension in der Gellertstraße Quartier bezogen. Der FDJ-Macker und ich hatten ein Zimmer gemeinsam zugewiesen bekommen. Darin war ein großes Doppelbett, in dem wir schliefen. Und da wollte mir dieser Fatzke unter der Bettdecke in ziemlich unsittlicher Manier nahekommen. Dem habe ich aber heimgeleuchtet, sage ich dir! Darüber reden konnte ich danach mit niemandem, die Angelegenheit war mir derart unangenehm und zuwider. Auch dann, als ich vor dem Kollektiv Rede und Antwort stehen musste zu meinen oben angeführten Beschimpfungen, brachte ich es nicht über mich, die Nacht im Leipziger Bett zur Sprache zu bringen. Wir haben uns beide mit der Zeit dann aber wieder ausgesöhnt. Es ergab sich dann sogar ein fast freundschaftliches Verhältnis, es kam nicht mehr zu irgendwelchen Unstimmigkeiten oder gar Streitereien.“

Im dritten Lehrjahr schloss sich Fiete der Kabarettgruppe im FDJ-Klubhaus, dem heutigen HdW, in der Bahnhofstraße an. In dieser Gruppe wirkte auch besagter ´Macker` mit.

Hier haben wir in unserer Freizeit die Texte gepaukt und die Bühnenszenen eingeübt und geprobt.

Zur Truppe gehörten noch drei weitere Mitglieder. Das waren Mädels, ebenso wie wir auch noch Lehrlinge, aber aus anderen Betrieben. An den Wochenenden ging es über die Dörfer, wo wir dann mit unseren Programmen auftraten. Auf diese Weise fanden wir doch noch zueinander, er und ich.“

Ein Bühnenprofi ist aber jedenfalls nicht aus dir geworden? Reichte deine Begabung nicht dafür? Stell dir vor, du hättest eine große Karriere, vielleicht sogar in Hollywood, machen können. Mann, da könnte ich richtig stolz auf meinen heutigen Angelfreund Fiete Stint sein!“

"Na du erst, meinst du, ich würde dann noch mit dir in deinem alten Kahn hier hocken und die verdammten Brassen aus dem Barthe-Wasser holen? Nein, ich habe kein Talent für das Mimen auf der Bühne und hatte auch gar keinen ernsthaften Bock darauf. Aber ein Mädel aus der Truppe, die Loni war das, die war sehr zielstrebig und hat später Schauspiel studiert und hatte noch während ihres Studiums ihre erste Hauptrolle bei der DEFA, mit keinem Geringeren als Manne Krug an der Seite."

"Respekt, mit wem du in deinem Leben schon so zu tun hattest. So viel ich weiß, warst du Jahre später sogar mit einem General befreundet."

"Mit dem General bleib mir bloß vom Acker!"

Die Soldaten-Episode kann man in einer meiner Geschichten hier auch nachlesen. Aber befreundet? Nein, das genaue Gegenteil trifft da wohl eher zu! Doch etwas anderes ist Fiete des Erwähnens wert. Im Zusammenhang mit den Kabarett-Auftritten hat sich für ihn eine ganz tolle Freundschaft ergeben.

"Bei einer der Veranstaltungen, es war im Kulturhaus der LPG in Trinwillershagen, trat der Chor der Barther Oberschule mit seinen Darbietungen auf. In diesem Chor sang eine besonders hübsche und attraktive Abiturienten, die es mir angetan hatte. Aber lange Rede, kurzer Sinn, sie und ich schlossen eine Freundschaft, die tatsächlich die Bezeichnung Freundschaft verdient.

Jan, fast sechzig Jahre Jahre später trafen wir uns zufällig wieder. Das gab natürlich eine schier endlose Fragerei ´weißt du noch`? Dabei erinnerten wir uns auch an eine Begebenheit auf der Insel Oie, diesem kleinen, romantisch gelegenen Eiland im Barther Bodden."

In der Episode "Sigurlina" wird ein kleiner Einblick in diese Sommerfreundschaft aus dem Jahre 1959 gewährt. Doch zuvor abschließend noch ein Wort zu meinem einstigen Widersacher und späteren Beinahe-Freund: Dieser FDJ-Macker hat dann Barth in Richtung Süden der DDR verlassen. Wo er heute wohnt, ist mir leider unbekannt. Aber vielleicht liest er ja diese Zeilen, erinnert sich an das hier Geschilderte und sendet ein Lebenszeichen. Würde mich aufrichtig freuen.“

 

Herr Knubbel - Der Unterwachtmeister droht: „Ich werde dir Moses lernen!“

Fiete hat seinem Freund Jan soeben eine Story aufgetischt, die Jan ihm nicht so richtig abkaufen will. Es ist die Geschichte von der Probefahrt seines Onkels Fritz, die vor vielen Jahren im Zingster Strom in einer Katastrophe endete.

Noch während er erzählt, beobachten sie, wie sich bei einem recht steif aus Nordost blasenden Wind ein Dampfer seinen Weg durch die harte Bodden-See sucht. Er kommt von drüben, aus Zingst. Der Kapitän muss aufpassen, dass er sein Schiff bei diesen Windverhältnissen gefahrlos durch den Molenkopf bugsiert bekommt. Denn die Seitendrift kann für das Schiff bei dieser kräftigen Brise im engen Fahrwasser problematisch werden. Es klappt aber wie immer bestens, der Käpt´n macht das routiniert und lässt das Typhon mit dumpfem Brummen ein Signal tuten, damit die an Bord befindlichen Passagiere wissen, wir sind glücklich im Hafen gelandet. Und für die an der Pier wartenden Leute heißt es jetzt, fix die Koffer aufnehmen und sich in der Warteschlange vor der Gangway einen möglichst vorderen Platz zu sichern.

Jan stupst Fiete an, macht ihn mit einer Kopfbewegung auf einen in der Schlange stehenden, schon recht betagten Herrn mit grauemBürstenschnitt, aufmerksam. Dieser Mann hält sich trotz seines Alters betont aufrecht, in strammer Haltung, wie ein altgedienter General. Eine drahtig-sehnige Erscheinung, das Kreuz durchgedrückt und das Kinn energisch nach oben gerichtet. Besonders markant an seinem Gesicht ist aber die Nase. Sie hängt etwas weit über die Oberlippe hinaus und ist

stark gekrümmt, man nennt so etwas Hakennase. Auch Fiete betrachtet jetzt den Mann interessiert. Besonders die erwähnte Nase erregt seine Aufmerksamkeit, kommt sie ihm doch seltsam bekannt vor.

Was ist mit dem, kennst du ihn?“

Ja“, sagt Jan, „das ist Bruno, die Nase ist sein Markenzeichen, die macht ihn unverwechselbar. Sonst hätte ich ihn vielleicht gar nicht wiedererkannt.“

Richtig! Jetzt kommt er mir auch bekannt vor! War der vor Jahren nicht hier in der Stadt bei der Polizei? Der hat mir 1957 beim Dammtor aufgelauert, um mir einen Strafzettel zu verpassen.“

Fiete erzählt seinem Freund daraufhin eine Geschichte aus seinen Anfangstagen als Lehrling.

Bruno war damals ein sogenannter Volkspolizist. Er war ein Mensch, der seine Polizeiuniform mit Leidenschaft trug und der tiefsten Überzeugung war, die Weltordnung nähme ohne ihn einen üblen Verlauf. In der Wichtigkeit für unsere Stadt wähnte er sich noch weit vor Hans Rewoldt, unserem damaligen Bürgermeister. So jedenfalls sah sich Bruno selbst, wenn er in seiner Uniform mit den Unterwachtmeister-Rangabzeichen und dem ledernen Tschako würdevoll durch die Straßen patrouillierte. Und wenn ihn die Leute immer wieder so komisch anglubschten, dann war er wohl der Meinung, sie tun das aus lauter Respekt vor seiner Person und seiner grasgrünen Polizei-Kluft.“

Eine nicht zu übersehende Erscheinung ist dieser Mensch, etwa eins neunzig groß. Doch nicht das war es, womit er die Blicke auf sich lenkte. Man konnte einfach nicht an ihm vorbei gehen, ohne ihm ins Gesicht zu schauen. Seine Nase, dieser ungewöhnlich große, markante Zinken war und ist das Ziel des allgemeinen Interesses. Die Leute nannten ihn, was er auch wusste, seines Zinkens wegen einfach nur „Knubbel“. Hören durfte er das allerdings nicht. Da konnte er fuchsteufelswild ausrasten.

Als ich Mitte der 1950er Jahre meine Lehre begann, rang sich mein Vater schweren Herzens dazu durch, mir seinen Drahtesel zu überlassen“, erzählt Fiete, „immerhin war es ein Fahrrad der Marke Patria WKC. Das hatte er aus dem Westen mitgebracht. Für dieses Geschenk war ich ihm wirklich sehr dankbar, denn von der Werftstraße bis zum VEB Landmaschinenbau galt es doch ein schönes Stück Fußweg zurückzulegen. Da kam mir das Fahrrad sehr gelegen. Mein Lehrbetrieb hieß noch vor wenigen Jahren PEG Pommersche Eisengießerei, von allen nur Pommersche genannt. Erinnerst du dich noch daran, wie früher der Eichgraben und die Trienseestraße gepflastert waren?“

Aber ja, ich weiß das noch sehr gut. Da hättest du dir bei dem Knüppelpflaster im Dunkeln damals sämtliche Beine brechen können, wenn du vom Gehweg runter gegangen wärst. Mit einem Auto hat sich da niemand durch getraut, wäre für die Federn und Stoßdämpfer absolut tödlich gewesen. Die reinste Katastrophe. Aber wer hatte da schon ein Auto?“

Mit dem Fahrrad wollte Fiete bei seinem morgendlichen Weg zur Pommerschen nicht auf dem sehr schmalen Gehweg fahren, denn zu dieser Stunde kamen ihm die Werftler entgegen, die zur Arbeit in der Bootswerft wollten. Am rechten Straßenrand gab es an den Gärten entlang einen unbefestigten Wegstreifen, der bei trockenem Wetter gut zu befahren war. Zumindest bis zur Schlosserei Fuhljahn. Das letzte kurze Stück musste er aber wieder auf das Knüppelpflaster ausweichen.

Schon damals war der Eichgraben, genau wie heute noch, eine Einbahnstraße, in die von der Hafenstraße her nicht rein gefahren werden durfte. Das wusste Fiete. Aber, sagte er sich aus alter Gewohnheit, hier kommt ja sowieso kein Fahrzeug durch. Und so befuhr er mit der größten Selbstverständlichkeit regelmäßig frühmorgens diesen Weg in verbotener Richtung. Womit er nicht gerechnet hatte, passierte aber doch einmal. An der Ecke Eichgraben/Breitscheidstraße stand vor dem Frisörladen Bründel ein Volkspolizist. Es war dieser Bruno mit dem Superzinken!

Nichts Böses ahnend wollte ich über die Straße fahren und rauf auf den Bleicherwall. Dass ich den Eichgraben wie an allen Tagen zuvor in der verkehrten Richtung benutzt hatte, das kam mir überhaupt nicht zu Bewusstsein. Da erschallte lautstark der polizeiamtliche Befehl HALT, ABSTEIGEN!! Gegenüber auf der anderen Straßenseite standen beim Bäcker Ewert Otto Kromerich und Luden Karl die nach ihrer Nachtschicht darauf warteten, dort ein paar Brötchen kaufen zu können. Die guckten, vom Halt-Ruf aufgeschreckt, interessiert zu Bruno hin und warteten gespannt, was hier wohl geschehen sei.

Ich hatte schon fast den Bleicherwall erreicht, blieb jetzt aber erschrocken stehen, stieg vom Rad und blickte mich zu dem Polizei-Menschen um. ´Komm her`, befahl er. Wenn ein Volkspolizist einen zu sich befahl, hieß das, du hast etwas Schlimmes ausgefressen! Also zeigte ich ihm eine schuldbewusste Miene, ohne mir wirklich einen Vers darauf machen zu können, was der Superzinken von mir wollte. Aber sicher ist sicher dachte ich mir, und diese reuige Miene kostet mich ja nichts.“

Natürlich wusste Fiete nicht, was der Polizei-Piesepampel Bruno an seinem Verhalten auszusetzen hatte. Er befürchtete nur, dadurch zu spät in die Pommersche anzukommen, wenn ihn dieser Mann mit dem Tschako weiter hier aufhielte.

Denn wenn ich verspätet in der Werkstatt eingetroffen wäre, hätte ich gleich von zwei Seiten Feuer bekommen. Und zwar nicht nur vom Ausbilder, sondern auch vom Pförtner Kniebsel. Der Kniebsel, das kann ich dir sagen, Jan, das war ein Despot wie er im Buche steht. Morgens hatte man sich im Betrieb auf einer Stempelkarte mittels Stechuhr sein Eintrudeln dokumentieren zu lassen. Zum Feierabend dann wieder das gleiche Prozedere.

Die Stechuhr, auch Stempeluhr genannt, war in dem Eingang, durch den wir Lehrlinge gehen mussten, dauerhaft außer Betrieb. Gemunkelt wurde, der Kniebsel habe bei der BGL (Betriebsgewerkschaftsleitung) durchgesetzt, dass das Ding nicht wieder in Betrieb genommen würde. Er hatte aus irgendwelchen Gründen ganz offensichtlich einen ziemlichen Rochus auf uns Lehrlinge und wollte uns durch die stillgelegte Stechuhr zwingen, mit der Karte bei ihm an sein Kabuff-Schiebe-Fensterchen zu treten. Er wollte, dass wir uns ganz persönlich von ihm die Ankunftszeit handschriftlich eingetragen bekamen. Kniebsel lag wohl sehr daran, die Jungs absolut unter Kontrolle zu haben.

Hatte ich mich nun doch einmal verspätet, was ja immer passieren kann, so versuchte ich mich in gebückter Haltung am Eingang vorbei zu mogeln und durch den hinteren Eingang in die Lehrwerkstatt zu kommen.“

Das machst du aber nicht mit mir“, sagte sich der Kniebsel wohl, der das durch sein vorderes Fenster natürlich mitbekommen konnte, humpelte zum Ausbildungsleiter und petzte mit hämischem Gegrinse.

Dann führte er mich zurück an den Kasten mit den Karten und trug die Zeit ein. Das passierte auch mit anderen zu spät gekommenen Mitlehrlingen nicht anders, beinahe täglich. Und so hegten und pflegten beide Seiten ihre tiefgehende Abneigung gegeneinander.“

Wie ging das nun aber weiter mit deiner Eichgraben-Einbahnstraße“, drängelt Jan.

Ich wurde schließlich darauf hingewiesen, eine Einbahnstraße heiße so, weil man sie nur in einer bestimmten Richtung befahren darf. Da fiel bei mir der Groschen, und ich sagte, das würde ich einsehen und auch nie wieder tun. Aus lauter Beflissenheit gab ich ihm mein großes Pionierehrenwort und hätte ihm um ein Haar sogar noch den Pioniergruß gezeigt! Bei so viel reuiger Einsicht meinerseits durfte ich nach ein paar weiteren pseudo-pädagogischen Worten vonseiten der uniformierten Staatsmacht wieder auf das Rad steigen und weiterfahren.“

Keine Strafe? Bist glimpflich davongekommen“, sagt Jan. „Wie bist du denn später gefahren, den Stadtwall entlang?“

Nein, ist Fiete nicht.

Ich sagte mir, der hat mich zufällig mal erwischt, deswegen muss ich doch nicht gleich einen weiten Umweg in Kauf nehmen. Also benutzte ich weiter den Eichgraben in der verbotenen Fahrtrichtung. Aber zur Vorsicht stieg ich am nächsten Morgen und auch noch an ein paar weiteren Tagen auf Höhe der Schlosserei Fuhljahn vom Rad und schob es bis zur Straße hin.
Der Aufpasser war nicht zu sehen! Muss also nicht absteigen, meinte ich und nahm nach ein paar Tagen meine Tour im Eichgraben in alter Weise wieder auf. Dann gab es erneut einen großen Schreck: Der Aufpasser hatte wohl genau so gedacht wie ich.

Der Bengel wird sich bestimmt in Sicherheit wiegen, wenn ich für einige Zeit nicht hier beim Eichgraben auf Posten stehe“, war wohl auch Bruno´s Logik.

Ich komme da also wieder so gegen halb sieben meinen Eichgraben hochgepest und sehe zu spät,

dass der olle humorlose Fiesling wieder dort herum lungert und am Frisörladen Stellung bezogen hatte. Die Falle schnappte ganz folgerichtig und verdientermaßen zu. Bruno deutete auf das Verkehrszeichen an der Hauswand, auf dem der Pfeil in die entgegengesetzte Fahrtrichtung zeigte, und meinte, wer nicht hören kann muss eben fühlen. Dann zückte er einen Strafzettelblock aus seiner schwarz-ledernen Kartentasche und sagte grienend: Eine DM als Strafe!

Nur deswegen hatte er sich also schon so früh auf die Lauer gelegt. Nur um einem kleinen unschuldigen Lehrling das Geld aus der Tasche zu ziehen! Bei meinem Lehrlingsgeld von fünfundfünfzig DM im Monat tat das weh.“

Eine Mark? Ist doch eine Klackssache, Rosi musste vorige Woche zehn Euro berappen, nur weil sie mit dem Fahrrad auf dem Gehweg gefahren ist. Das sind zwanzig DM, umgerechnet!“

Da kam aber noch etwas. Fiete sagte nämlich: „Ja, ich weiß jetzt, dass ich hier nicht mehr langfahren darf. Mache ich niemals nicht wieder, Herr Knubbel!“

Dass Knubbel gar nicht Knubbel hieß, das wusste Fiete ja nicht, er hatte das immer nur von anderen Barthern so sagen gehört. Jetzt riss seinen Mund ganz weit auf und wollte wie ein ostpreußischer Rittergutsinspektor losbrüllen. Doch da geschah ihm ein Missgeschick. Vom Oberkiefer löste sich seine Zahnprothese und klappte nach unten. Drei Zähne hingen da dran. Oh wie peinlich für ihn, ein Hüter des Gesetzes und Vertreter der Staatsmacht darf doch nicht solch einen lächerlichen Anblick bieten. Zumal er gerade im Begriffe ist, einen Gesetzesbrecher in die Schranken zu weisen. Nach einer Schrecksekunde hinderte Bruno seine verrutschten Beißerchen an einem weiteren Fluchtversuch und beförderte sie mit einer energischen Geste wieder an ihre angestammte Position zurück.

Jetzt ging es aber los. Bruno schnappte förmlich nach Luft bei dem Namen Knubbel, und brüllte jetzt wie ein angestochener Ochse los: „Was erlaubst du dir da, du Flegel, was heißt hier Herr Knubbel? Ich bin für dich ein Polizei-Unterwachtmeiste, Herr Zieslkopp. Na warte, ich werde dir Moses lernen!“

Von seiner kleineren Schwester, die in Vogelsang die Oberschule besuchte, hatte er mal gehört, dass man einen „Flegel“ Mores lehren muss. Doch bei seiner Volksschulbildung konnte Bruno das nicht so richtig einordnen. Kraft seiner Wassersuppe hielt er für Fiete noch eine besonders perfide Überraschung bereit.

Ich musste am folgenden Sonnabend zur Verkehrserziehung bei der Polizei antanzen. Die Polizeiwache befand sich damals im nördlichen Seiteneingang des Rathauses, noch immer Landratsamt genannt, wo heute das Stadtarchiv seine Räumlichkeiten hat. Ich staunte, der Raum war voll von weiteren Verkehrssündern.

Eigentlich hätte ich nach der „Schulung“ eine Eins plus bekommen müssen, so gut konnte ich den Genossen Volkspolizisten die Verkehrsregeln erklären.“

Fiete hat künftig aber doch lieber die Hafenstraße und den Stadtwall benutzt.

Der Dampfer hatte mit Zinken-Bruno Knubbel an Bord in der Zwischenzeit abgelegt und war schon fast auf der anderen Boddenseite angelangt. Die beiden Freunde schnappten sich ihre Fahrräder und fuhren nach Hause. Natürlich nicht durch Einbahnstraßen in falscher Richtung.

 

Der Eichgraben

Warum heißt die Straße „Eichgraben“ eigentlich Eichgraben. Plätscherte hier in früheren Jahren wirklich ein Wasserlauf? In der Chronik der Stadt Barth erwähnt Wilhelm Bülow auf Seite 374 einen darauf schließen lassenden Vorgang.

„1852: In diesen und den folgenden Jahren wurde besondere Aufmerksamkeit den Straßen der Stadt zugewendet. ...Der Eichgraben wurde ausgefüllt, die dadurch entstandenen Gärten wurden ausgemessen und den anliegenden Hausbesitzern auf 10 Jahre für eine Pacht von 4 Pfennigen für die Geviertrute* gegeben; später sollte die Stadt darüber freie Verfügung haben. Die Einnahmen aus diesen Gärten wurden den Repräsentanten zuerkannt; dafür sollten sie auch die in der Sache nötigen Schritte tun. Der Weg vom Fischertor bis zum Eichgraben wurde als Spazierweg geebnet, mit Bäumen bepflanzt und durch eine Einfriedung geschützt.“

(*In Preußen hatte die Quadratrute bzw. Geviertrute nach der Maß- und Gewichtsordnung vom 16. Mai 1816 14,1846 m²).

Auffallend ist, dass die Straße bei Bülow nicht einfach als „Eichgraben“ Erwähnung findet, sondern von dem Eichgraben gesprochen wird. Was sich bis in die neuere Zeit so erhalten hat. Aus meiner Zeit in den 1950er Jahren kenne ich den Eichgraben als eine Straße mit einem unzumutbaren Pflaster. Es war nicht nur äußerst holperig und buckelig, es sackte stellenweise am Rand ab, es hing sozusagen schief in Richtung der Gärten. Das Ganze erweckte den Eindruck, als sei die Straße auf einem moorigen Untergrund errichtet worden.

Eine weitere Beobachtung aus jener Zeit könnte die Schlussfolgerung zulassen, dass der Wasserlauf, sofern es hier einen solchen tatsächlich gegeben haben sollte, in das Hafenbecken des Dampfsägewerkes Gustav Wiegels führte.

An dem Ende der großen Halle des ehemaligen Sägewerkes, in der eine Dampfmaschine ihren Dienst versah, gab es eine Bodensenke. Bis etwa 1957 waren auf dem Werftgelände Kinder zu beobachten, wie sie gefährlich über eine schmale, aus Holz bestehende Wand balancierten, die etwa etwa einen Meter aus dem Wasser ragte. Diese Wand war die Absperrung eines ehemaligen Grabens. Das Wasser des Hafenbeckens reichte bis zur Absperrung, dahinter war eindeutig erkennbar, dass dort ein Wasserlauf einmal aus Richtung Hafenstraße/Eichgraben hierher geführt haben musste. Den Graben hatte man nach und nach mit allerlei Abfällen, wie Hobelspänen, aufgefüllt. Die Senke war noch einige Meter zur Hafenstraße hin erkennbar, bis auf Höhe der Mechanischen Werkstatt des „VEB (K) Bootsbau und Reparaturwerft Barth“, ab 1965 „VEB Schiffbau- und Reparaturwerft Barth“. Stieg bei länger anhaltendem Ostwind der Bodden stärker an, so stand der Weg in der Werft in diesem Bereich gelegentlich unter Wasser, wenn auch nur geringfügig.

Als der Betriebsleiter Bruno Felgenhauer eine betonierte Ringstraße um die betrieblichen Bauten errichten ließ, wurde die Senke mit Boden angefüllt und das Geländeniveau damit angehoben. Von dem bis dahin noch zu erahnende restliche Grabenlauf, mitsamt der hölzernen Absperrung, war danach nichts mehr erkennbar. Bei Baggerarbeiten in der Folgezeit gab es dann einen Durchstich zwischen den beiden Werfthafenbecken. Eine kleine Insel entstand und die Uferbefestigung erhielt eine richtige Kaimauer. Damit waren die letzten Spuren des Grabenzulaufes endgültig verschwunden.

 

Emmes

Eine weitere Sache aus dem ersten Lehrjahr ist auch noch erwähnenswert. Da war der Mitlehrling Emmes, mit dem sich Fiete von Beginn an bestens verstand. Emmes ließ sich scheinbar durch nichts aus dem Gleichgewicht bringen. Er war lebemslustig, harmlosen Streichen nie abgeneigt und lachte über jede Kleinigkeit. Also ein guter Kamerad, dem eigentlich niemand etwas nachtragen kann.

Sie kannten sich schon aus der gemeinsamen Zeit in der Fritz-Reuter-Schule. Klassenzimmer ganz oben, mit freiem Blick auf Bootswerft, Borgwall und und Bodden. Erst zu Beginn seines letzten Schuljahres kam Fiete an diee Schule. Doch schon bald kamen sich Emmes und Fiete näher, sie wohnten beide in der Hafenstraße. Ihr Hobby, das Fotografieren, ließ sie rasch Freunde werden. Und Fiete konnte sehr viel Praktisches für sein Hobby dazulernen. Emmes betrieb die Fotografie

nämlich schon länger als Fiete. Und vor allem befasste er sich tiefgründig mit der Materie, während sich Fiete lediglich als Sonntagsknipser produzierte. Er bekam eines Tages das Angebot, seinen Klassenkameraden in dessen elterlicher Wohnung zu besuchen.

"Wenn du Lust hast, zeige ich dir in meinem Labor wie man einen Film entwickelt. Wir können auch Fotoabzüge machen."

Fiete sagte sofort zu und ist seit jenem ersten Besuch ein Amateur-Fotograf mit Leib und Seele. Das Labor erwies sich allerdings als ein bescheidenes Provisorium, eingerichtet im fensterlosen Bad. Ein Vergrößerungsgerät gab es nicht, nur einen Belichtungskasten, mit dem sich Kontaktkopien bis zur Göße von sechs mal neun Zentimetern anfertigen ließen.

Nach Beendigung der Schule begannen beide im gleichen Betrieb eine Lehre. Die Fotografie konnten sie jetzt im FDJ-Klubhaus in der Bahnhofstraße unter kundiger Anleitung eines Erwachsenen im Fotozirkel ernsthaft betreiben. Sie hockten aber auch häufig in der unteren Etage in dem kleinen Raum, hinten links, und spielten Schach. Dabei kam einem der beiden die geniale Idee, einen Rundfunksender zu fragen, ob dieser ihnen Briefpartner vermitteln könnte. Die Frage war zu beraten, an wen wenden wir uns am besten? Deutschlandsender (DDR)? Natürlich wurde dieser Gedanke verworfen, sie wollten mit Jugendlichen aus dem Ausland in Verbindung kommen.

Vielleicht Говорит Москва (Radio Moskau), mit der Chance, an eine Ludmilla in Krasnojarsk oder an einen Wolodja in Jasnaja Poljana zu geraten?

"Ach nee", meinteEmmes, "mit Komsomolzen möchte ich doch lieber nicht. Das würden meine Eltern auch gar nicht erlauben. Außerdem ist es bei mir mit der russischen Sprache nicht weit her."

Bei Fiete sah es mit русский язык (russische Sprache), noch flauer aus, hatte er doch nie solchen Fremdsprachunterricht. Die rettende Idee hatte er dann am nächsten Tag während der Geschichtsstunde in der Berufsschule.

"An den Österreichischen Rundfunk werde ich schreiben, was hälst du davon?"

Davon hielt Emes sehr viel, dort wird doch auch deutsch gesprochen!

Und so kam es, dass ein Brief aus Barth auf die Reise nach Wien geschickt wurde. Mit der naiven Bitte, ihnen bei der Suche nach Briefpartnern behilflich zu sein. Um es den ostdeutschen Lehrlingen Emmes und Fiete auf diesem Wege zu ermöglichen, Verbindungen zu gleichaltrigen Briefpartnern in Österreich zu bekommen. Eine Antwort aus Wien kam tatsächlich in Barth an. Aber leider mit ablehnender Botschaft. Der Rundfunksender würde keine Briefpartner vermitteln, teilte man mit.

Die nächste verrückte Idee ließ nicht lange auf sich warten. Für junge Leute in der DDR der 1950er Jahre war es ein ganz großes Ärgernis, dass sie sich hier keine Nietenhosen (heute heißen sie Blue Jeans) kaufen konnten. Die Dinger, damals gehandelt wie Goldstaub, trugen nur diejenigen, die Westverwandte hatten, oder wenn Erwachsene sie von einer nicht ganz legalen Einkaufstour aus Westberlin mitbrachten. Emmes und Fiete hätten auch so gerne welche gehabt. Was also tun, fragten sie sich und kamen in ihrer Verzweiflung auf einen etwas bizarren Gedanken. Es war kurz vor Weihnachten 1957, da meinte einer der beiden, sie könnten doch an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer, schreiben. Mit der bittenden Frage, ob ihnen nicht Nietenhosen geschickt werden könnten. Denn Adenauer und auch dieser Minister sprachen häufig und gerne von "unseren lieben Brüdern und Schwestern in der Sowjetzone". Da müssten die doch so viel Mitleid haben mit zwei "Zonen-Brüdern" aus Barth, dass denen gehofen werden müsse. Auf solche verrückten Ideen kamen sie tatsächlich und hofften auf verständnisvolle offene Ohren in Bonn. Hosen bekamen nicht, der Minister hatte vermutlich zu wenig Geld in der Kasse. Auch eine Antwort erhielten sie nicht. Das zwei Groschen für das Porto hätte doch aber vorhanden sein müssen! Da blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiterhin die unbeliebten Schlabberhosen aus dem HO-Warenhaus zu tragen.

Im Juli 1958 gab es nach dem ersten Lehrjahr den ersten Jahresurlaub, zwölf popelige Tage waren das damals. Man traf sich danach wieder in der Lehrwekrstatt, war stolz darauf, jetzt das zweite Lehrjahr zu sein, zog den neuen Blaumann an und erzählte sich beim Umziehen am Spind die Urlaubsabenteuer. Vieles von dem, was da so aufgetischt wurde, war nicht unbedingt glaubhaft. Diejenigen Jungs, die schon ein oder zwei Jahre älter waren als Fiete, prahlten mit

Liebeserlebnissen, bei denen den Jüngeren fast die heißgelaufenen Ohren abgefallen wären. Neidvoll lauschte Fiete, was die Kameraden da am abendlichen oder sogar am nächlichten Zingster Strand alles an Abenteuern bestanden haben wollten. Er selbst konnte nicht mitreden, er musste immer schon beizeiten, das heißt spätestens um einundzwanzig Uhr, daheim sein. Er war für die Mädels auch noch nicht so interessant, mit seinen fünfzehen Jahren.

Nach dem ersten Jahresurlaub fehlte einer aus dem Lehrlings-Kollektiv. Emmes war nicht da! Am nächsten Tag fehlte er wieder, ohne dass die Eltern dem Betrieb Bescheid gegeben hätten. Heiner, er hielt sich auch häufig im FDJ-Klubhaus auf, erzählte, Emmes und dessen Eltern seien gleich am Sonnabend vor dem Urlaubsbeginn mit viel Gepäck mit dem Zug verreist und seien noch nicht wieder in Barth angekommen. Dass kein Unglück dahinter steckte, erfuhren die Lehrlinge am drtitten Emmes-Fehltag. Der Ausbildungsleiter holte die Jungs nach hinten in den Unterrichtsraum und erklärte mit strenger Stimme, der fehlende Lehrling käme nicht wieder in den Betrieb, er sei mit den Eltern nach Westdeutschland verschwunden. Punkt, mehr erfuhr die Gruppe nicht. Na gut, war der allgemeine Tenor, warum auch nicht? Mancher gäbe etwas darum, wenn seine Eltern das auch täten. Schade, sagte Fiete, der war so ein lustiger Typ, mit ihm hat es immer Spaß gemacht, nicht nur in der Werkstatt, sondern auch in der Freizeit.

Keine zwei Wochen später lag in Fietes elterlichem Briefkasten Post mit einer Bundespost-Briefmarke drauf, adressiert an ihn. Emmes hatte ihm geschrieben. Das war eine Überraschung, und eine tolle dazu! Emmes war im Saarland in Wadgassen gelandet. Fiete hat sich ein Loch in den Hintern gefreut, dass er ausgerechnet ihm geschrieben hat. Den nächsten Tag konnte er kaum erwarten, um den anderen im Lehrlings-Kollektiv voller Stolz diese Neuigkeit über den abtrünnigen Freund erzählen zu können. Die Jungs hörten aufmerksam zu. Fiete gab ihnen den Brief, damit sie es selber lesen konnten, was der Kamerad mitzuteilen hatte. Einigen war das völlig schnuppe, dass ihr ehemaliger Kamerad nun im Westen lebte, die meisten aber wollten noch mehr erfahren. Fragen waren zu hören, wie mag es ihm denn gehen, dort, so weit weg von der Heimat Barth, dem Bodden und der Ostsee. Und ob er seine Lehre dort weitermachen könne.

Fiete blieb einige Zeit lang in Briefverbindung mit Emmes, und konnte eines Tages berichten, eine Lehre habe Emmes zwar nicht aufnehmn können, aber einen Arbeitsplatz habe er bekommen. Jetzt arbeitete er in einer Maschinenfabrik als Fräser und verdiente bereits gutes Geld. Bei Fiete schlich sich der Gedanke ein, ob er nicht auch ...? Aber nein, ihm fehlte dafür der Mumm, er blieb in Barth und brachte seine Lehre im VEB Landmaschinenbau treu und brav zuende.

Ein bisschen Ärger bekam er auch noch mit dem FDJ-Sekretär. Ihm wurde verübelt, dass er den Emmes-Brief vorgelesen hatte und auch in der Folge die Jungs auf dem Laufenden hielt.

Der Kontakt ins Saarland schlief aber bald ein und von Emmas, dem lustigen Freund, kam kein Lebenszeichen mehr an.

 

Die Reise nach Schweden im Jahre 1959

Kannst du dir das vorstellen“, fragte Fiete, „unser Ausbilder wollte nach unserer Rückreise zur Messe aus Leipzig eines Morgens während der üblichen Zeitungsschau in der Lehrwerkstatt von der Gruppe wissen, ob jemand mit nach Schweden mitfahren wolle. Stell dir das mal vor! Von Barth in der DDR nach Skandinavien, nach Schweden reisen!“

Von Jan kommt dann prompt die argwöhnische Antwort. „Ach nööh? Jetzt verarschst du mich aber mal wieder. So was gab´s damals ja wohl nicht“, sagt er denn auch. „Von unserem Städtchen Barth über die Grenze, über die Ostsee, von der DDR nach Schweden!? Du machst doch jetzt Witze, machst dich lustig über´n alten Opa?“

Nein, Fiete wollte seinen Freund überhaupt nicht verulken, es war wirklich so. Der Hintergrund für eine so ungewöhnliche Reisemöglichkeit war folgender. Die Deutsche Reichsbahn ließ 1958/59 auf der Rostocker Neptunwerft ein neues Fährschiff für die Linie Sassnitz-Trelleborg bauen. Diese Fährverbindung wird auch Königslinie genannt. Kiellegung für die „Sassnitz“ wurde 1957 vollzogen, Stapellauf war 1958 und die Indienststellung erfolgte dann am 22. Juni 1959. Für die ersten Fahrten nach Trelleborg gab es vermutlich noch zu wenig Passagiere, so dass die Fähre wohl

nicht ausreichend ausgelastet war. Oder die Behörden in der DDR wollten sich weltoffen geben und ließen aus Prestigegründen bei der Jungfernfahrt der „Sassnitz“ Bürger der DDR als Touristen ins westliche Ausland nach Schweden reisen. Und zwar mit offiziellem Geldumtausch DM-Ost in Schwedische Kronen sowie Landgang in Trelleborg. Auch Fiete erhielt nun ein solches Angebot, und so kam es zu dieser Reise nach Schweden im Jahre 1959.

Wer Interesse an dieser Reise habe, solle sich nur melden", erzählt Fiete, „das Weitere würde dann schon erledigt werden. Einzige Bedingungen waren, derjenige, der mitfahren wollte, musste mindestens 16 Jahre alt sein und eine schriftliche Zustimmung der Eltern vorlegen.

Beileibe nicht alle aus der Gruppe wollten mit nach Schweden. Ich war allerdings sofort mit von der Partie, habe sofort zugesagt, und mein damaliger bester Kumpel aus der FDJ-Gruppe natürlich auch. Ich war Gott sei Dank gerade vor wenigen Monaten sechzehn geworden. Die Eltern hörten mich zunächst etwas ungläubig an. Sie meinten, da wir erst vor Kurzem aus dem Westen in die DDR gekommen sind, würde man mich bestimmt nicht ins westliche Ausland fahren lassen. Doch dann gaben sie mir ihren Segen dazu.

Ein Reisepass wurde beantragt und eine gewisse Summe DM-Ost zum Umtausch für Schwedenkronen eingezahlt. Wie viel, das weiß ich nicht mehr. Das war´s dann auch schon. Eiligst ließ ich beim Fotografenmeister Friedrich in dessen Atelier am Barther Markt Passbilder anfertigen. Der Reisepass lag dann bald vor, der Reisetermin war bekannt und zum Reiseantritt fuhr die Lehrlingsgruppe gemeinsam nach Sassnitz zur gleichnamigen Schwedenfähre.

Auf der Fähre fühlte ich mich fast wie in meiner alten Heimat in Süddeutschland. Hier gab es keine HO- oder Konsumwaren, keine Zigaretten der Marken Salem, Casino oder Turf. Westzeitungen und Westzeitschriften gab es auch zu kaufen. Diese trugen natürlich andere Titel als jene aus unserem Barther Postzeitungsvertrieb. Es war eben der Westen, wenn auch nur auf einer bescheidenen kleinen Fläche.

Gegen vierzehn Uhr legte das Schiff ab. Während der Überfahrt herrschte schönstes Wetter. Niemand musste auf die Idee kommen, über die Reling zu gucken um zu spucken und die Fische zu füttern. Voller Spannung beobachteten die Jungs, aber auch die anderen Passagiere, dann das Anlegen im Trelleborger Hafen. Und sofort ging es runter vom Schiff, durch den Hafen Richtung Ausgang zur Stadt hin. Mit meinem zwei Jahre älteren Mitlehrling hatte ich verabredet, dass wir beim Bummeln durch die Stadt zusammen bleiben wollten. Denn wir waren hier in einem fremden Land, beherrschten auch nicht die Landessprache. Da fühlt man sich als junger Mensch zu zweit sicherer und auch erwachsener.

Noch keine zwei Straßen vom Hafen entfernt waren wir, da kamen zwei radfahrende hübsche junge Schweden-Mädels daher, klingelten frech und hielten an. Nur, weshalb fahren die denn alle auf der falschen Straßenseite? Sind sie aber gar nicht! In Schweden galt damals noch das Linksfahrgebot! Darauf waren wir natürlich nicht gefasst.

Wenn man jung ist und etwas erleben möchte, dann ist alles viel unkomplizierter als Jahre später. Und so kam es, dass wir, die beiden Jungs aus Barth ruck-zuck bei den beiden Mädels mit auf den Fahrrädern saßen und uns von ihnen durch Trelleborg fahren ließen!

Das eine der Mädels sprach etwas deutsch, das andere dagegen beherrschte unsere Sprache perfekt

Sie lotsten uns in eine Tagesbar, bestellten alkoholfreie Getränke und bezahlten diese auch. Wir haben unsere paar Kronen krampfhaft in der Hosentasche festgehalten, denn wir wussten ja nicht, wie das hier mit den Preisen so ist. Und die Mädels wussten auch, dass wir aus Ostdeutschland kommen und arme Schlucker sind. Kurz darauf erlebten wir, dass zumindest das Mädel mit den guten deutschen Sprachkenntnissen aus begütertem Hause stammte. Denn inzwischen saßen wir bereits auf den Sofas im Hause dieses Mädels. Deren Eltern kamen die Treppe herunter, schauten kurz rein, sagten mit schwedischem Akzent Guten Abend und gingen wieder rauf.

Es war ein großes Haus in einer großen, parkähnlichen Anlage. Die Inneneinrichtung wirkte richtig luxuriös und machte auf uns gewaltig Eindruck, so dass wir anfangs recht gehemmt waren. Und, was mich am meisten beeindruckt und interessiert hat, das war die Schallplattensammlung im Wohnzimmer. Der Renner jener Jahre, heiß begehrt aber unerreichbar für die Jugend in der DDR:

ELVIS! Elvis Presley, die Legende bis heute! Hier lagen diese Platten im Schrank. Das Mädel sagte, ich könne mir einige davon aussuchen und mit nach Deutschland nehmen.

Als sie einige Platten aufgelegt hatte, bemerkte ich nämlich zu ihr, dass in meinem Elternhaus eine Fernsehtruhe mit eingebautem Plattenspieler steht. Und ich Dämel habe ihr Angebot nicht angenommen, habe dankend nein gesagt. Weil ich Angsthase befürchtete, bei der Einreise in Sassnitz könnte der Zoll die Sachen beschlagnahmen. Ich hätte es doch aber zumindest drauf ankommen lassen können, nicht wahr?

Die Passagiere, also auch ich und mein Freund, mussten Mitternacht wieder an Bord sein. Die beiden Schwedinnen versprachen, uns rechtzeitig zum Hafen zu bringen. Und wir beiden Schwedenfahrer aus Barth waren dann pünktlich wieder auf dem Schiff. Die anderen der Lehrlingsgruppe übrigens auch. In Sassnitz hat uns dann kein Aas kontrolliert, ich hätte die Elvis-Platten also durch den Zoll bekommen, konstatiere ich heute lachend im Rückblick.

Die Schwedenkronen habe ich natürlich dort in Trelleborg unter Beratung der beiden Mädels ausgegeben. Für den Vater Zigaretten „Chesterfield“, „Texas“ und „Pall Mall“, eine kleine Dose Kaffee für die Mutter und etwas Krimskram. Für eine Nietenhose, heute heißt das Jeans, hätte es nicht ganz gereicht. Mir ist in Erinnerung geblieben, dass man dort aus Automaten an der Straßenecke für drei Kronen eine Dose mit Kaffee ziehen konnte. In Barth dagegen konnte man in der Dammstraße bei der HO oder in der Fischerstraße im Konsum Kaffee-Ersatz, auch Muckefuck genannt, kaufen. Kurz und gut, diejenigen aus der Lehrlingsgruppe, die nicht nach Schweden mitgefahren sind, haben sich doch mächtig gewaltig geärgert. Ob es danach noch weiterhin diese Reisemöglichkeit gab? Ich glaube nicht.“

Gut zwei Jahre nach diesem Schwedentrip wurde die Mauer errichtet, und das Reisen in westliche Länder war dann für DDR-ler grundsätzlich nicht mehr möglich!

 

Mit Sigurlina auf der Insel Oie
Wie das in der DDR so üblich war, boten die volkseigenen Betriebe den Mitarbeitern, und ganz besonders auch den Lehrlingen, viele Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. Begeistert trat Fiete gleich zu Beginn seiner Lehre dem betrieblichen Fanfarenzug der FDJ bei. Anfangs entlockte er einer Chorfanfare die ersten Töne. Später, als er das dann recht gut beherrschte, vertraute ihm der Leiter des Zuges eine Ventilfanfare an. Geübt wurde zunächst abends in der Lehrwerkstatt, später dann im großen Speise- und Kultursaal des Betriebes.
Sie hatten viele Auftritte in der Öffentlichkeit. Und zwar nicht nur zu den Aufmärschen zum 1. Mai, der in der DDR offiziell als „Kampftag der internationalen Arbeiterklasse“ propagiert wurde und zum 7. Oktober, dem „Tag der Republik“, sondern auch bei völlig harmlosen Anlässen, in anderen Orten des Kreises und des Bezirkes. Gern gesehene Musikanten waren sie immer und von den Leuten wurden sie stets freundlich aufgenommen.
Weiterhin konnten sich Mitglieder des FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) unter anderem per Vertrag vom Betrieb ein Paddelboot für das jeweils laufende Jahr in Nutzung geben lassen. Material, wie Farben, Lacke oder Dichtungsmittel, erhielt man unentgeltlich. Im Frühjahr 1958, noch im ersten Lehrjahr, hatte sich Fiete ein solches Boot geben lassen und fuhr auch noch die folgenden zwei Jahre damit über den Bodden. Er legte großen Wert darauf, dass es sich auch immer in einem recht ordentlichen Zustand befand. Der Lehrbetrieb gab hilfreiche Unterstützung dafür.
Jahrzehnte später, im Jahr 2010 war es, rief Jan wieder einmal seinen Freund Fiete an und sagt und kurz und bündig, wie es seine Art so ist, er käme gleich vorbei, um ihn abzuholen. Er wolle mit ihm oben am Fuchsberg fischen gehen.
„Ist gut“, meint Fiete, „dann mal los, ich warte!“
Jan kommt also angefegt, und beide gehen runter zum Seglersteg beim Westhafen. Mit Jan´s Dampfer geht es über´n Barther Bodden, um den Fuchsberg rum und rein in die Barthe. Auf der Bresewitzer Seite wird das Boot festgetütert. Wobei der „Dampfer“ ja nur ein lütter Angelkahn ist, auf dem sich mal gerade zwei Männer halbwegs ungestört umdrehen können.
Nach nicht einmal drei Stunden geht es schon wieder zurück Richtung Barth. Da meint Fiete:
„Lass uns mal rüber zur Oie fahren, früher habe ich da einige Male mit einer Freundin mit dem Boot angelegt. Mal gucken, wie es da heutzutage aussieht.“
„Nee, mach kein Zeugs nicht“, sagt Jan als der Besonnenere von den beiden, „das ist ein Vogelschutzgebiet, da darfst du nicht rauf. Nicht mal am Ufer darf ich da festmachen!“
Aber Fiete will davon nichts wissen, es sei doch weit und breit kein Schwanz zu sehen. Er möchte partout auf die Oie. Na, Jan kann es ihm dann aber doch noch ausreden, und sie fahren dran vorbei, nach Barth zurück.
„Pass bloß auf, dass du den Hungerstein nicht rammst“, meint Fiete etwas ängstlich. Da der Wind seit einigen Tagen aus Ost bläst und das Wasser etwas höher steht, ist vom Hungerstein nichts zu sehen, so dass Jan aufpassen muss. Sein Freund kann nicht schwimmen, daher seine Besorgnis vor einer „Strandung“. Obwohl das Wasser hier an dieser Stelle nur knapp bis über die Knie reichen dürfte.
Fiete brennt aber noch etwas anderes auf der Seele. Zunächst druckst er herum, und schließlich sagt er zu Jan, er wolle nicht gleich nach Hause gehen, nachdem sie angekommen sind, er habe ihm erst noch was zu erzählen. Na so etwas aber auch, Kumpel Fiete und von sich aus etwas erzählen? Das passiert nicht alle Tage, da ist Jan sofort hellhörig. Sie marschieren gleich in die Garage. Dort steht immer der Bierkasten. Zunächst herrscht bei Fiete sozusagen erst einmal Funkstille. Jan wartet geduldig, aber gespannt darauf, dass Fiete endlich loslegen möge. Er kennt ihn ja lange genug. Der wird jetzt erst einige „na ja“ und „so ist das eben“ von sich geben, und dann geht’s los.
Jetzt hat sich Fiete dazu durchgerungen, seine Beichte abzulegen und fängt an:
„Na ja, also, mir kamen da bei der Oie so Erinnerungen an meine früheste Jugendzeit. Und die Sache mit der Oie war so: Als Lehrling damals hatte ich mir 1958 ein Paddelboot zugelegt.
So eins noch richtig aus Holz, wie du es heute gar nicht mehr kriegst. Unten mit blauer Farbe gestrichen, oben mit orangefarbenem Deck, und richtig mit einem Namen dran. Natürlich der meiner Freundin. Ich hatte nämlich schon eine richtige Freundin, Sigurlina heißt sie, sehr gut sah sie aus, hatte gerade das Abi gebaut und besaß eine außerordentlich attraktive Figur. Am Seglersteg guckten die anderen dann immer ein bisschen neidisch. Da war ich natürlich jedes Mal der King und ganz stolz auf meine schöne Begleiterin. Aber, um das hier zwischen uns beiden gleich zu regeln, diese Freundschaft war völlig harmlos! Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass ich diese Erlebnisse mit meiner ersten Freundin bis heute über so viele Jahre nicht vergessen habe. Es ist eine Erinnerung an eine für mich ganz besonders schöne Zeit.
Ja also, das war dann so, was soll ich sagen? Wir sind etliche Male über´n Bodden rüber zur Oie gesegelt. Denn inzwischen hatte ich mir ein Segel besorgt. Das Paddeln bis zur Oie war eigentlich kein Problem für mich, aber mit Segel war´s doch bequemer. Außerdem habe ich natürlich bemerkt, wie meine Siggi, wie Sigurlina allgemein genannt wurde, immer rüber linste, wenn eins der größeren Segelboote an uns vorüber fuhr. Ich will nicht sagen, dass ich da eifersüchtig wurde, aber so einen kleinen Stich hat es mir doch jedes Mal versetzt. Aber nun hatte ich auch ein Segel. Zwar nur ein mickrig kleines, aber als junger Lehrling sah ich das noch nicht so verbissen eng.
Drüben auf der Oie war es richtig romantisch. Ruhe herrschte, keine Menschenseele außer meiner Siggi und mir. Dafür viele Kühe und noch viel mehr Vögel, die hier ihre Nester hatten und mit der Brut beschäftigt waren.“
Auf der etwa 68 ha kleinen Insel gibt es viele seichte Wasserflächen und ein natürliches Grabensystem, das mit dem Bodden und dem Zingster Strom verbunden ist. Etwa auf der Hälfte der Oie wird die Vegetation durch regelmäßiges Überfluten bestimmt, so dass sich hierdurch Salzweiden bilden konnten. Ein etwas höher gelegener Moränenkern bildet sozusagen die Inselmitte, der nur gelegentlich von Hochwasser erreicht wird. Die Gräben bzw. Wasserrinnen nennt man Priele.
„Weißt du eigentlich, Jan, dass Kühe äußerst neugierige Geschöpfe sind, wusstest du Stadtmensch das? Wenn wir bei der Insel ankamen und an Land gingen, dann trotteten sie immer gleich auf uns zu und versetzten meine Freundin anfangs in Angst. Sie kannte ja den Umgang mit so großen, frei umher laufenden Tieren nicht. Das war schon ziemlich beklemmend für sie. Aber auch für mich traf  das zu, zumal diese Biester keine Scheu vor uns zeigten und immer näher kamen. Ich geb´s ja zu, Jan, mich überkam doch ein ziemlich mulmiges Gefühl. Für mich war das nun aber eine Gelegenheit, den Helden zu mimen. Ich schnappte die beiden Paddel und stürmte nun wild entschlossen auf die Herde los! Was mache ich, wenn die Kühe stehen bleiben, oder gar gegen mich Front machen, dachte ich doch recht verunsichert?“
Verunsicherung oder Bange haben, das durfte er, der Beschützer dieses einmaligen Mädels natürlich nicht zeigen. Aber die Viecher trampelten sofort davon. Stolz schaute er zu Siggi hin, bewundernd schaute diese auf ihren heldenhaften Paddelboot-Kapitän zurück.
Mit blanken Augen guckt Fiete dem Freund ins Gesicht, so, als habe er diese Schlacht gerade eben noch einmal siegreich bestanden.
„Die Kühe blieben zwar gleich wieder stehen, drehten sich zu uns um, doch nun wusste ich, dass sie mehr Schiss vor mir hatten als ich vor ihnen.“
Von nun an konnte er mit seiner Freundin unbesorgt an Land gehen und über das kleine Eiland ströpern und es erkunden. Unendlich viele Vogelnester gab es im kurzgehaltenen Gras auf dem Boden der Insel. Die Kühe machten stets einen Bogen drum herum. Eine interessante Beobachtung! So viele unterschiedliche Vogelarten, so viele Gelege und dann die vielen kleinen jungen Vogelküken.
„Das habe ich danach so nie wieder erleben dürfen“, sagt Fiete.
Er ist jetzt richtig in Fahrt geraten und lebt förmlich auf in der Erinnerung an die Erlebnisse jenes Sommers in seiner Jugendzeit. Jan wundert sich nicht nur über Fiete´s Begeisterung, nein er hat sich darüber auch gefreut. Denn auch er ist einer jener Typen, die die Natur respektieren, achten, lieben und sie bewahren möchten.
Auf der Oie stand damals so eine Art Bauerngehöft. Unten waren Stallungen sowie Räume für Futter und Gerätschaften, oben befand sich eine Wohnung. Da das Gebäude schon recht lange unbewohnt war und die Fenster alle offenstanden, nisteten in der Wohnung jede Menge Schwalben. Das Haus hatte zwischen den Wohnräumen und der Stallung eine Durchfahrt, wohl um einen Pferdewagen dort abzustellen.
Diese Durchfahrt“, erinnert sich Fiete, „hatte jemand, vermutlich einer jener Vogelschützer, an den Wänden mit Bildern, Gemälde möchte ich nicht dazu sagen, farbig verschönert. Ich weiß nicht, ob das Gebäude noch vorhanden ist. Obwohl die Oie recht klein ist, habe ich später da nie darauf geachtet oder danach Ausschau gehalten.“
Die Barther Oie ist auch heute ein Vogelschutzgebiet, niemand durfte sich hier in dieser einmaligen Umgebung ansiedeln. Kühe sind ebenfalls noch auf der Insel, halten für die Vögel das Gras kurz und verhindern eine Versteppung dieser Landschaft.
Fiete hatte 1958 mit seiner Plaste-Kamera Pouva Start ein paar Fotos gemacht. Zwei davon, allerdings von der Qualität her kaum vorzeigbar, hat er noch gefunden. Er zeigte sie seinem Freund aber trotzdem.
Das ist die Geschichte, die Fiete Stint seinem Freund Jan Hollerbusch unbedingt noch erzählen wollte.


Das Wiedersehen nach 58 Jahren
Ist die Insel-Geschichte, die Fiete seinem Freund Jan unbedingt noch erzählen wollte, zu Ende? Nein, Jan Hollerbusch hakte einige Tage später nach und wollte von Fiete wissen, weshalb die sommerliche Romanze mit der schönen Sigurlina keine Fortsetzung gefunden hatte, und bekommt folgende Geschichte zu hören.
Im Sommer des Jahres 2018 hat Fiete mit einem Fahrgastschiff eine Boddenfahrt von Barth nach Zingst unternommen und hielt gezielt Ausschau nach der Insel Oie. Nun fiel ihm ein am östlichen Inselrand stehendes zweistöckiges Haus auf. Zwei Menschen nahmen gerade ein Bad im Bodden und gingen zum Haus zurück. Es handelte sich wohl um Mitarbeiter der Vogelschutzwarte Hiddensee, die hier einen sehr einsamen, aber sehr schönen Dienst machen. Ob das Haus wohl an der gleichen Stelle errichtet wurde, an der 1959 die damalige Ruine des Bauerngehöftes stand?
„Deine Sommerfreundschaft von 1959 hat einen etwas ungewöhnlichen Namen“, ist Jan´s neugierige Frage, „wie war der doch noch gleich?“
„Sigurlina, heißt sie.“
„Noch nie gehört,“
„Das ist ein Name aus dem Isländischen. Sigurlina´s Großvater Thorleifur stammte nämlich aus Island, ganz weit oben am Polarkreis. Raufarhöfn heißt jener gottverlassene Ort auf der Halbinsel Melrakkaslétta und ist das nördlichste Dorf auf Island.“
Siebenundzwanzigjährig wanderte Thorleifur aus Raufarhöfn 1897 nach Deutschland aus und fand in Hamburg eine neue Heimat. Dort hatte er, nachdem er sich einen deutschen Nachnamen hatte eintragen lassen können, seine Hedwig geheiratet und 1920 kam sein Stammhalter Jon Erik zur Welt. Der wiederum ist dann 1940 im Reichsarbeitsdienst zu den Flugzeugwerken Walther Bachmann nach Barth zur Arbeit in der Rüstungsindustrie verpflichtet worden.
Wenn sich der unfreiwillige Neu-Barther Jon Erik und dessen Freunde im Schützenhaus zum Tanzen trafen, fiel ihm bald ein Trio junger Damen auf. Sie schienen unzertrennlich zu sein. Immer hockten sie zusammen in der gleichen Ecke, musterten die jungen Männer an den Tischen im Saal, tuschelten miteinander und kicherten sich hinter vorgehaltener Hand unentwegt albern an. Es waren Barther Gewächse namens Betty, Annaliesa und Henny. In den Pommerschen Industriewerken, kurz PIW genannt, haben sie gearbeitet, waren ebenfalls dienstverpflichtet. Und zwar in den Hallen NL3 und NL4.
Eine jede der drei jungen Damen hatte ihre ganz spezielle Marotte. Zum Beispiel Betty: Kam ein Kavalier auf sie zu, um sie zum Tanze zu bitten, ging ihr Blick zuerst in Richtung Schuhe. Waren diese nicht blitzeblank geputzt, gab es unweigerlich einen Korb. Bei Annaliesa hatten nur Uniformträger vom Fliegerhorst eine Chance. Der Dienstgrad musste mindestens der eines Feldwebels sein. Und Henny ließ sich bevorzugt von blonden und blauäugigen Bewerbern auf das Parkett führen. Es durfte auch ein Zivilist sein.
Die attraktive Betty hatte es dem Jon Erik besonders angetan, und erfuhr bei ihr wohlwollende Sympathien. Ein Jahr darauf haben sie geheiratet. Als deren erste Tochter 1942 geboren wurde, bestand Opa Thorleifur darauf, dass dieses Kind, also seine Enkelin, einen typisch isländischen Vornamen bekommen solle. Und so wurde die Kleine auf Sigurlina getauft.
„Mir gefällt der Name“, meint Fiete.
„Ja, warum auch nicht, vermutlich heißt kein zweites Mädel aus unserer Gegend so. Hat sie mal
darüber gesprochen, weshalb ihr Opa damals seine isländische Heimat verlassen hat?“
„Ja, sie hat einige Male vage Andeutungen gemacht, denn ganz Genaues wusste sie auch nicht. Ich glaube, das hing mit den Heringen zusammen.“
„Aha, wie denn das?“
„Ja, siehst du, als Opa Thorleifur noch ein kleiner Junge, so um 1875 herum könnte das gewesen sein, da blieben vor der nordöstlichen Küste Islands immer öfter die großen Heringsschwärme aus. Warum das so war, weiß man nicht. Die Armut hielt dadurch endgültig Einzug in die auch ansonsten schon ziemlich kärglichen Hütten des Landstriches auf der Halbinsel Melrakkaslétta.“
„Das sind fast Parallelen zur heutigen Situation bei uns an der Ostsee. Die Bestände des Herings, und überhaupt die Fische werden hier auch von Jahr zu Jahr immer mickriger.“
„Wir beide mussten die Erfahrung auch schon machen bei unseren Angeltouren vor Kühlungsborn.“
„Der Tilly, dieser Minister in der Landesregierung, will unsere Fangmengen rationieren,“ wird jetzt Jan geradezu fuchtig.
Nur mit dem Unterschied, dass Thorleifur und die Männer dort oben am nördlichen Polarkreis ohne ausreichende Heringsschwärme ihre Familien nicht mehr ernähren konnten. Das könnte wohl der Grund gewesen sein, dass Thorleifur im Jahre 1897 seine alte isländische Heimat verlassen musste und in Hamburg eine neue fand.
Sigurlina und ihre beste Freundin begaben sich im August 1959 in Fietes Begleitung zum Barther Polizeirevier, um Reisegenehmigungen für eine geplante Fahrt zu Verwandten in Hamburg abzuholen.
„Ich wartete derweil vor dem Haus auf der Treppe“, erinnert sich Fiete. „Die Mimik der beiden sagte, als sie wieder aus dem Polizeihaus rauskamen, alles, ohne etwas sagen zu müssen: Anträge behördlich abgelehnt! Sie durften nicht mit polizeilicher Billigung in den Westen fahren. Und ungenehmigt rüber zu fahren, das wollten sie nicht riskieren.“
Der Beamte hatte ihnen die Auskunft gegeben, dass neuerdings eine Bestimmung in Kraft sei, nach der Jugendliche keine Reisegenehmigung nach Westdeutschland mehr erhalten können. Erst sechzig Jahre später verriet Sigurline Fiete die eigentliche Absicht, die sich hinter dieser geplanten Westreise verbarg.
Das Leben musste trotzdem weitergehen, die schulfreien Wochen gingen zu Ende und Sigurlina nahm in Leipzig nach dem wunderschönen Sommer ein Studium auf. Fiete blieb recht bedrückt zurück und setzte seine Lehre ohne seine angebetete Freundin fort. Etliche Briefe schrieben sie sich noch, dann trat Funkstille ein.
„Es gab beim Eichgraben unverhofft noch einmal eine zufällige Begegnung. Sigurlina war mit dem Fahrrad unterwegs zum Bahnhof, um einen Koffer abzuholen. Ich, hocherfreut über diese unverhoffte Begegnung, war ihr natürlich sofort behilflich. Auf dem Weg zum Bahnhof erklärte sie mir dann den Grund für das abrupte Ausbleiben ihrer Briefe: Sie hatte sich auf der Uni in einen Kommilitonen verliebt und sich dann auch mit ihm verlobt.
Es mussten erst einige Tage und schlaflose Nächte vergehen, bis sich die aufwallenden Gefühle der bitteren Enttäuschung beruhigt hatten. Doch man ist ja noch so jung, andere hübsche Mädels zum Anbändeln gab es ja auch noch. Und doch wich der Sommer 1959 nie aus meinem Gedächtnis, obwohl ich danach nie wieder ein Lebenszeichen von Sigurlina erhielt.
Hat sie ihr Studium mit Erfolg abgeschlossen, wo ist sie danach geblieben und was macht sie heute? Diese Fragen beschäftigten mich immer mal wieder, wenn ich an ihrem Elternhaus vorüberging. Die Erinnerungen an jenen Sommer verblassten zwar mit der Zeit, aber sie wichen nie völlig aus meinem Hinterstübchen.“
Fiete selbst hatte währenddessen eine wenig geglückte Soldatenzeit hinter sich gebracht, auch eine Familie gegründet und war beruflich vorwärts gekommen.
„Als ich im Jahr 1997 beruflich mit dem Internet erste Bekanntschaft machte, kam mir der Gedanke, den Versuch zu unternehmen, auf diesem Wege eventuell etwas über Sigurlina in Erfahrung bringen zu können. Zwar war mir ihr jetziger Familienname nicht bekannt, aber mit ihrem Geburtsnamen könnte ich unter Umständen weiterkommen bei meiner Suche, meinte ich.
Tatsächlich, nach längerem Recherchieren im Internet, Googeln nennt man das ja, fand ich eine entsprechende Homepage, und ich erfuhr, Sigurlina hatte nach ihrem Studium und einigen Berufsjahren in einer Klinik die Genehmigung zu ihrer Ausreise aus der DDR bekommen und lebt seitdem im Nordwesten Deutschlands. Doch in Kontakt kam ich nicht mit ihr, ich traute mich ganz einfach nicht zu diesem Schritt.“
Aber es gibt Zufälle, die man nicht für möglich halten sollte. Es war im Sommer 2017. Auf dem Gehweg in der Hauptstraße des Städtchens schob Fiete nichtsahnend sein Fahrrad gerade durch die Menge, da überkam ihn ganz heftiges Herzklopfen: Sigurlina, seine Freundin aus dem Sommer des Jahres 1959, die er all die Jahre hindurch im Herzen behalten und seit einigen Jahren im Internet gesucht hatte, kam ihm entgegen. Er kannte ihr heutiges Aussehen von einem Foto her, das ein Lokalblatt zusammen mit einem Beitrag über sie veröffentlicht hatte. Sigurlina ahnte natürlich nicht, welcher Fahrradschieber da gerade vor ihr stehenblieb und sie ansprach.
„Das Erstaunen war auf ihrer Seite groß, als ich sagte: Ich bin der Fiete Stint, erinnern Sie noch? Und auf der Stelle gab es kein weiteres „Sie“ mehr, es war, als hätten wir uns erst vor wenigen Tagen zum letzten Mal gesehen. Der zweite Satz, den ich bei dem Wiedersehen nach beinahe sechzig Jahren von Sigurlina zu hören bekam, war, „Fiete, bist du glücklich?“
Die Fragen „weißt du noch, damals...?“ wollten kein Ende finden.“
Auf die Begebenheit von 1959 vor dem Polizeirevier der verkorksten Westreise nach Hamburg wegen kam Sigurlina von sich aus zusprechen. Daran hatte Fiete nie wieder gedacht. Sie und ihre damalige Freundin wollten die Reise dazu nutzen, der DDR den Rücken zu kehren.
„Die Zulassung zum Studium in Leipzig war eigentlich mehr eine Art zur Tarnung, das sollte uns weniger verdächtig machen, abhauen zu wollen.“
Zu jener Zeit vor dem Mauerbau haben sich ja recht viele aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis und Freunde in Richtung Bundesrepublik abgesetzt.
„Dass auch meine Sigurlina solches still und heimlich geplant hatte, das kam für mich nun aber doch reichlich überraschend,“ schließt Fiete seinen Erlebnisbericht.
Jetzt halten beide Verbindung per Telefon und Internet, hin und wieder treffen sie sich in der kleinen Stadt am Bodden.

 

Die Stintenklappe

Schellt bei Fiete das Telefon, dann meldet er sich mit „Guten Tag, hier Friedrich Fischer“. Zeigt sein Display einen ihm bekannten Anrufer an, so meldet er sich aber mit „Hallo, hier ist Fiete!“

Das bewog Jan einmal zu der Frage: „Fiete, du hast dich heute am Telefon mit Friedrich Fischer gemeldet. Ich denke du heißt Fiete Stint?“

Fiete´s Antwort: „Man nennt mich nur Fiete Stint. Das ist mein Spitzname. Mit richtigem Namen kennt mich vermutlich überhaupt kein Barther. Sogar du weißt es nicht besser, und wir kennen uns doch schon seit recht langer Zeit. Für alle bin ich schon seit vielen Jahren, eigentlich schon seit meiner Lehrzeit, nur der Fiete Stint.“

Ach nee“, staunt Jan, „so was aber auch, was es doch nicht alles so geben tut!“

Ja, in Wirklichkeit heiße ich nicht Fiete Stint, sondern Friedrich Fischer.“

Wie ist denn das passiert?“

Das hat mit dem Barther Hafen zu tun. Da bin ich früher als Kind, und auch später noch in meiner Jugendzeit immer angeln gegangen. Und zwar an der Stintenklappe, weil ich doch kein Boot nicht hab. Dort haben die Fische gebissen wie verrückt, sage ich dir. Das war bei der Fischfabrik, du weißt doch, die Fischmatsch. Genau unter dem Rohr, aus dem das Getreide vom Silo in die Lastkähne runter rauschte, habe ich immer geangelt.“

Weil in späteren Jahren kein Getreideumschlag auf Schiffe im Hafen mehr stattfand, wurde diese Anlage nicht mehr benötigt. Sie wurde stillgelegt und demzufolge auch nicht mehr instand gehalten. Die Metallrohre, Konsolen und Halterungen gammelten vor sich hin und verrotteten so nach und nach. Bis der Zeitpunkt kam, an dem das durchgerostete Metall keine ausreichende Stabilität mehr hatte und die ganze Stellage abstürzte. Da saß nun unglücklicherweise gerade ein Angler genau darunter. An dessen Namen kann sich Fiete noch erinnern. Die schwere Last fiel auf ihn und der Mann verlor sein Leben.

Die Kähne waren manchmal über hundert Meter lang, solche Dinger lagen damals im Barther Hafen“, erzählt Fiete weiter.

Nana, wirklich?“

Vielleicht waren sie auch ein bissel weniger groß, aber groß waren sie schon. Musste mir glauben.“

Jan weiß, manchmal flunkert sein Freund etwas, wie das bei Anglern angeblich vorkommen soll.

Da schwabbelten auf engstem Raum Tausende und Abertausende Fische rum, man hätte da eigentlich gar nicht untergehen können wenn man reingefallen wäre. So viele Fische waren das da.“

Natürlich ist das nun doch maßlos übertrieben. Aber damit will Fiete ja nur deutlich machen, dass sich an der Stintenklappe so derartig große Mengen an Fischen versammelt hatten, wie es sonst eigentlich nirgendwo der Fall ist.

Meistens waren das kleine Stinte, aber auch größere Plötzen und auch Plieten habe ich da gefangen. Manchmal sprangen massenhaft Stinte hoch aus dem Wasser, dann hat nämlich ein größerer Barsch zwischen ihnen geräubert.“

Wenn in der Fischmatsch die großen Bratpfannen in Betrieb waren mit den Heringen darin im Öl und sie mit Essigtunken in die Gläser abgefüllt wurden, dann zog der Duft durch den ganzen Hafen, bis rüber zur Burg und zum Kaufmannsladen Bölkow an der Ecke Trebin/Reifergang. Bei Bölkow

haben sich die Kinder neue Angelhaken und anderes Angelzeugs kaufen können.

Der Haken kostete damals zehn Pfennige, glaube ich. Jedenfalls roch das herrlich nach frischem Brathering, da lief dir das Wasser im Munde zusammen!“

Jan bleibt da nichts weiter übrig, als seinem Freund zu glauben.

Ja, aber was hat denn das nun alles mit deinem Spitznamen zu tun?“

Ganz einfach: Weil ich dort doch fast jeden Tag an der Stintenklappe geangelt habe und ich mit richtigem Namen auch noch Fischer heiße, kam irgend so ein Dussel auf den Gedanken, mich Stint zu nennen. Passte doch, ständig an der Stintenklappe zu angeln musste ja irgendwann zu Stint führen. Andere haben das gehört und schon war ich bei allen nur noch der Stint!“

Hat er dich denn gewurmt, dieser Spitzname?“

Das nicht, habe mich ja auch dran gewöhnt. Nur, ich heiße richtig auch nicht Fiete, sondern Friedrich! Es werden ja viele Friedriche Fiete genannt.“

Das auch noch“.

Jan versucht mit einem nicht ganz ehrlich klingenden tröstlichen Tonfall ihn sein Mitgefühl spüren zu lassen.

Worauf der Begriff Stintenklappe zurückzuführen ist? An eben dieser Stelle entleerte sich die Stadt mittels eines großkalibrigen Rohres. Ihre ungeklärten Abwässer flossen hier in das Hafenbecken. Auch die „Fischmatsch“ genannte Fischfabrik, direkt am Hafen gelegen, handelte derart verantwortungslos. Das hier einströmende ungeklärte städtische Schmutzwasser, mit allem was so aus Haushalten, Toiletten, Industriebetrieben etc., lockte folgerichtig Unmengen von Fischen an, vor allem die Stinte, eine kleine Lachsart. Ein scheinbares Paradies auch für Angler, sie drängten und stritten sich manchmal regelrecht um einen günstigen Platz bei diesem Rohr. Deshalb wurde diese Stelle Stintenklappe genannt.

Obwohl es hier schon lange keine Stintenschwärme mehr gibt, denn die Abwässer landen nun in einer modernen Kläranlage, werden dort gereinigt um dann schließlich in die Barthe eingeleitet zu werden, hat sich der Name Stintenklappe bis heute gehalten.

Die Fische waren damals durchweg krank, sie hatten alle einen Bandwurm und waren deshalb ungenießbar. Das Angeln im Hafen wurde eines Tages auch verboten, denn das Wasser verdreckte immer mehr. Das gehört nun aber der Vergangenheit an.

Friedrich Fischer hat aber seinen Spitznamen weg und wird ihn wohl nicht mehr ablegen können, der Fiete Stint.

 

Mieke und die Matscherei

Doch warum sagen die Barther eigentlich Matsch oder Fischmatsch“, möchte Jan gerne wisssen? „Das war doch so ein wunderschöner Bau, die Matsch, zumindest das Hauptgebäude war ein einmaliger Anblick für Barther Verhältnisse. Da passte der Name Matsch überhaupt nicht dazu.“

Das schlossartige Gebäude am Osthafen ließ sich 1894 der aufstrebende Unternehmer Friedrich Wilhelm Krüger als Wohnhaus errichten. Es wurde auch „das Schloss am Meer“ genannt. Die direkt am Krügerschen Wohnhaus anstoßenden Fabrikanlagen entstanden zeitgleich und gingen 1895 in Betrieb.

Im einstigen VEB Fischverarbeitung Barth (VEB seit 1956) wurde bis 1993 gearbeitet. Dann wurde die Fabrik verkauft, sie verfiel und 1999 zerstörte ein Brand das Gebäude. Der Abriss erfolgte im Jahr 2006.

Anfangs der 60er Jahre marschierten viele Mitarbeiter der Bootswerft, ich war auch einer davon, zum täglichen Mittagessen hierher“, erinnert sich jetzt Fiete an die alte Zeit von damals.

Die Werft hatte keine eigene Küche, einen geeigneten Raum auch nicht, um sich das Essen in Thermokübeln anliefern zu lassen. Doch es gab eine Anordnung, dass Werktätige täglich mit einer warmen Mahlzeit zu versorgen seien.“

Man nannte diese betriebliche Sozialpolitik im offiziellen Sprachgebrauch Arbeiterversorgung. Wobei dieser Begriff ja nicht korrekt ist, denn nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Angestellten und leitenden Mitarbeiter waren in die Versorgung mit einbezogen. Das System der Arbeiterversorgung.war bereite zur Zeit vor der Gründung der DDR, also in der sowjetischen Besatzungszone, eingeführt worden. Grundlage dafür bildete der Befehl Nummer 234 der Sowjetischen Militäradministration vom 9. Oktober 1947.

Nach der Mahlzeit in der Matsch-Kantine pilgerten wir wieder zur Werft und an unsere Arbeit zurück und weiter ging es mit der Malocherei“

Das war doch aber keine richtige Mittagspause, wenn ihr während dieser Zeit jeden Tag hin- und wieder zurücklaufen musstet.“

Ja, es nahmen nach und nach auch immer weniger Kollegen den Weg in Kauf und hockten lieber auf der Werkbank und mampften ihre Stullen. So wie der Hinrich Godehanns, von dem ich schon erzählt habe, der häufig seine Riesenkoteletts auspackte und die Kollegen der Brigade neidisch gucken ließ.“

Um den Küchenfrauen in der Matsch aber Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sie bemühten sich Tag für Tag um eine akzeptable Pausenversorgung. Das halbe belegte Brötchen kostete zwischen 20 und 30 Pfennigen, die Tasse Bohnenkaffee 50 Pfennige. Mittags gab es meistens zwar nur einfache Wahlessen, aber die kosteten in der Regel auch nur bis zu 90 Pfennige pro Portion. Der Nachschlag war sogar kostenlos. Den Rest zahlte der Betrieb.

Jetzt weiß ich aber noch immer nicht, was es mit der Bezeichnung Matsch auf sich hat. Das klingt doch irgendwie nach einem unsauberen Gematsche mit den Fischen“, meint Jan, „da könnte einem doch der Appetit vergehen“.

Der Begriff Matsch oder Fischmatsch ist aber alles andere als etwas Unseriöses. Ein Blick in die „Chronik der Stadt Barth“ von Wilhelm Bülow ist hier sehr hilfreich. Denn dort schreibt Bülow auf Seite 392 folgendes:

1861 „schien eine neue Erwerbsquelle sich der Stadt Barth eröffnen zu wollen in der Herstellung von Herings=Konserven. Schon längst war es bekannt, daß man gebratene Heringe in Essig für lange Zeit genießbar erhalten konnte, wenn man sie luftdicht in kleinen hölzernen Fässern verschloß. Nun gelang es dem schon früher genannten Heinr. Häfcke, der bis dahin eine Leihbibliothek hatte, eine Weinsoße zu erfinden, in welcher die Heringe, wenn sie einfach gereinigt mit dieser in Gefäße von Blech verpackt wurden, sich schön frisch und sehr schmackhaft erhielten.

In kurzer Zeit hatte er auswärts viele Kunden; sein Geschäft blühte empor und brachte ihm reichen Gewinn. In seinen Geschäftsreklamen, an denen er es sich nicht fehlen ließ, pflegte er „Barth an der Ostsee“ als Ort des Geschäfts zu nennen, und seit dieser Zeit wurde die Stadt oft und sogar amtlich so bezeichnet. Seine Erfolge reizten natürlich auch andere unternehmungslustige Leute zur Nachahmung, und so entstanden denn in kurzer Zeit viele Häuser, in denen man sich mit der „Matscherei“ (so nannte man hier das Einlegen der Heringe) beschäftigte.“

Matscherei oder Matsch ist also, wie Bülow es schildert, ganz einfach die Bezeichnung für einen Vorgang bzw. eine Tätigkeit beim Bearbeiten und Verarbeiten von Fischen. Man darf das aber nicht verwechseln mit einer gelegentlich praktizierten Praxis in der Herstellung von Pressfisch, der unter Umstanden als Fischfilet serviert werden könnte. Da werden Fischreste vom Filetieren in Tanks gesammelt und kommen in einen Separator. Der löst die Gräten vom Fleisch, auch die Köpfe bleiben übrig. Was der Separator danach ausspuckt, ist auch eine Art Fischmatsch. Allerdings ist dieses Zeugs kaum jemandem zuzumuten, auch wenn es gesundheitlich unbedenklich sein sollte.

Igittigitt“, stöht jan, „das stelle ich mir vor wie Lungenhaschee.“

So ähnlich kannst du dir das vorstellen, nur der Geruch ist natürlich ein anderer,“ feixt Fiete.

Das kann man essen, ohne dass man daran stirbt? Mich würgt es,“ ist Jan´s Reaktion.

Ist doch alles nur halb so schlimm. Es gibt entsprechende Kochrezepte, wie Fischmatsch kultiviert auf den Teller gebracht werden kann. Fischmatsch ist nicht nur in Barth ein bekanntes Wort, in ganz Norddeutschland kennt man es.

Ich habe gelesen, dass das, was einst als kreative Resteverwertung für Seemänner erfunden wurde, heute als regionale Spezialitäten gehandelt wird. In Schleswig-Holstein zum Beispiel kannst du im Restaurant „Lecker Fischmatsch mit dicker Rübe“ auf der Speisekarte entdecken. Das ist aber nicht unbedingt der gleiche Fischmatsch, wie ich dir eben von dem Separator erzählt haben. Aber der Begriff Fischmatsch ist doch an der Küste etwas ganz Normales.“

Bleiben wir noch etwas bei der Chronik von Bülow und verfolgen, was uns der Chronist zur Barther „Matscherei“ sonst noch überliefert hat: „Alle sind wieder eingegangen, nur das große F.W. Krügersche Geschäft ist in die Höhe gekommen und jetzt noch in Blüte, während auch das von Häfcke mit dem Tode seines Gründers aufhörte. Friedr. Wilh. Krüger war Anfang der 70er Jahre Schlächtermeister in der Dammstraße; er betrieb aber nebenbei die Matscherei (vielleicht schon seit 1861). Diese machte er dann zu seinem Hauptgeschäft und verlegte es nach der Langen Straße Nr. 5 – 1880 waren Häfcke und Krüger noch Konkurenten; auf der Ausstellung erhielten beide Auszeichnungen, der erste die Bronzene Medaille, der zweite eine ehrenvolle Anerkennung. Beide wurden Hoflieferanten.“ […] Die Fabrikate werden teils in Deutschland und den sonstigen europäischen Ländern abgesetzt, teils auch gehen sie über See, namentlich nach den Tropenländern. Der Gründer hatte seine beiden Söhne, Otto und Emil Krüger, in seinem Geschäft. Emil ist im 39. Jahre am 19.3.1908 gestorben; etwa 2 Monate später, am 29.5.1908, starb im 79. Jahre der Vater als Königl. Preuß. Hoflieferent. Seit seinem Tode ist noch jetzt Otto Krüger der Inhaber des Geschäfts.“

Angefangen hatte die Fabrik 1861 mit zwei Arbeiterinnen. Um die Jahrhundertwende waren es dann schon 100. Natürlich litten auch die Betriebe in Barth unter den Auswirkungen des 1. Weltkrieges. Die Fischkonservenfabrik erholte sich jedoch schnell und hat sich im großen Konkurrenzkampf im Nahrungsmittelbereich „Fisch“ durchgesetzt. Der 2. Weltkrieg machte alles wieder zunichte. Die Fischkonservenfabrik war hoch verschuldet. Sie begann die Nachkriegszeit als Offene Handelsgesellschaft F-W. Krüger. Umfangreiche Regierungsaufträge sicherten trotz Verschuldung die Zukunft. 1953 siedelten die Besitzer Otto Krüger und F.W. Krüger jun. in die Bundesrepublik über, die Stadt Barth übernahm nun den Betrieb, der am 12.Dezember 1956 als VEB Fischverarbeitung Barth in das Handelsregister eingetragen wurde.

Apropos Matscherei“, nimmt Jan den Faden wieder auf und fragt seinen Freund Fiete, „erinnerst du dich eigentlich noch an Mieke?“

Nee, wer ist denn das?“

Du warst doch ganz früher mal in Barth-Stein zu Hause? Dort wohnte auch eine Frau, die in der Barther Fischmatsch gearbeitet hat. Mieke nannte man sie. Ist wohl eine Abwandlung von Marie oder Maria. Aber jeder kannte sie nur als Mieke.“

Maria? Im Lateinischen bedeutet das "Die von Gott geliebte", also einen schönen Namen hatte deine Mieke. Was hat Mieke denn hier gemacht in der Matsch?“

Ach, mein Gott, sie hat die Küt geschaufelt.“

Küt? Sind das nicht die Abfälle, die beim Ausnehmen von Fischen anfallen?“

Küt sind die Fischabfälle, die es zu entsorgen sind. Keine angenehme Arbeit für die damit Beschäftigten. Die Küt ist glitschig, sie stinkt zum Himmel und es krabbeln, besonders bei warmem Wetter, Unmengen von Maden darin herum. Das war die Arbeit, die Mieke zu verrichten hatte. Vor dem Gebäude, zur Hafenseite hin, standen große stählerne Bottiche, die durch Mieke per Schaufel mit der Küt befüllt wurden. Auch spezielle Anhänger, die mit Traktoren oder LKW abgeholt wurden, standen dafür bereit. Da diese Fahrzeuge lediglich notdürftig äußerlich gereinigt wurden, benötigt man nicht allzu viel Fantasie, um sich deren Aussehen und deren Geruch vorzustellen. Doch Mieke, angetan mit einer grauen Igelitschürze und mit Kopftuch, hatte, völlig unbeeindruckt von solch misslichen Arbeitsbedingungen, immer ein gutmütiges Lächeln im Gesicht, war guter Laune und freundlich zu jedermann.

Küt ist ein Ausdruck, der vermutlich im Schlachtergewerbe und Schlachthaus seinen Ursprung hat. In mancher Stadt findet man entsprechende Straßennamen (in Kiel die Küterstraße, in Rostock den Küterbruch) oder auch Stadttore deren Name auf das Gewerbe der Küter hinweist (Kütertor in Stralsund). Küter, oder auch Kuttler, sind ausgebildete Fleischer (in Süddeutschland Metzger) mit Spezialisierung auf Darm- und Innereienbearbeitung. In Niedersachsen werden die Schlächter, die nur das Vieh anderer Hauswirte schlachten, Küter genannt.

Und dann sind da noch „Sandkasten-Küter“.Das sind die Kinder, die so gerne in in der Modder gatschen, wer kennt das nicht aus der eigenen Kleinkindzeit? Mutter schimpft dann immer, du sollst nicht so gatschen. Viele sagen aber auch kütern, statt gatschen. Meine Opa sagte in seinem ostpreußischen Dialekt dazu „Jungelken, tu dir nich so bekleetern“.

In diesem Zusammenhang trifft das zu“sagt Fiete zu Jan, „was du eingangs sagtest, dass die Matscherei bezüglich des Einlegens der Heringe, wie etwas Unsauberes klingt. Aber Matschen ist eben nicht gleich Matschen, wie du siehst.“

 

Fiete´s Lehrbetrieb

hieß VEB Landmaschinenbau Barth: Dessen Geschichte reicht bis in das Jahr 1872 zurück. In jenem Jahr wurde in Barth durch Wilhelm Kobes eine Maschinen-Fabrik gegründet. Der erste Standort der Maschinen-Fabrik befand sich in der Langen Straße.

1874 hat Kobes dann hinter der Navigationsschule eine neue Maschinenfabrik errichtet, zu der nun auch eine Eisengießerei gehörte. Die Firma hieß jetzt Maschinenfabrik und Eisengießerei. Am 4. Mai 1874 erfolgte der erste Abstich in der Gießerei. Zur Erinnerung daran wurde eine gusseiserne Tafel angefertigt und in der Fabrik angebracht. Ob diese Tafel noch existiert?

Beliefert wurden anfangs in erster Linie die Schiffswerften mit den von ihnen benötigten Eisenteilen. Die landwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland bewirkte aber eine Umstellung der Produktpalette hin zu Geräten und Maschinen für die Agrarwirtschaft.

Aufgrund ungenügenden Kapitals musste Kobes 1880 seine Maschinenfabrik und Eisengießerei verkaufen. Die neuen Eigner waren Schlör und Salchow. Franz Schlör wurde später alleiniger Firmeninhaber. Doch auch ihm mangelte es schließlich an nötigem Kapital, so dass er 1890 an die Pommersche Eisengießerei und Maschinenfabrik AG Stralsund (PEMAG) verkaufen musste. Neben den Erzeugnissen der Gießerei waren seit den 1880er Jahren nun Landmaschinen der Schwerpunkt des Barther Unternehmens. Dazu gehörte zum Beispiel der Schlör´sche Kunstdüngerstreuer.

1884 hatte Franz Schlör in Barth eine neuartige Düngerstreumaschine erfunden, bei welcher über dem oben

offenen und in Führungen vertikal verschiebbaren Düngerkasten sich eine schnell rotierende, mit radialen Zähnen besetzte Walze befindet, die den Dünger von der Oberflüche des Düngerkastens abstreicht und nach hinten auswirft. Die Ausstreumenge wird durch die Geschwindigkeit bestimmt, mit welcher der Kasten sich während der Fahrt nach aufwärts bewegt.Diese Erfindung hatte sich Schlör 1885 unter D. R. P. Nr. 34385 vom 26. Juli 1885 patentieren lassen.

H. Grundke, Ingenieur in Berlin, ist in einer damaligen Bewertung voll des Lobes zu diesem Düngerstreuer: „In der Betrachtung interessiert uns nur das Neue in den maschinellen Einrichtungen. Die im Jahre 1888 in Breslau von der oben genannten Gesellschaft vorgenommene Prüfung von Düngerstreuern hatte die Aufmerksamkeit besonders auf die Schloer'sche Maschine gelenkt, indem die Preisrichter dieser Maschine den ersten Preis zuerkannten und das Urtheil abgaben, dass diese Maschine von den zur Prüfung gestellten (16 Stück) die einzige war, welche mit vollkommener Sicherheit durch eine Drehprobe an der stehenden Maschine das Einstellen auf jede Düngermenge so genau gestattete, als es bei dem Unterschiede zwischen zwei auf einander folgenden Zahnräderpaaren möglich ist. Dieser günstige Erfolg bewirkt, dass dasselbe System, welches der Schloer'schen Maschine zu Grunde liegt, von verschiedenen anderen Fabrikanten ebenfalls ausgebildet worden ist, wobei dabei aber mit mehr oder weniger Glück die Fehler derselben zu vermeiden gesucht wurden..“ [1]

Doch man musste auch damals schon stets der Konkurrenz einen Schritt voraus sein um wirtschaftlich mithalten zu können, die Technik wurde ständig verbessert und weiter entwickelt. So veränderte die Firma W. Siedersleben und Co. in Bernburg den Antrieb an dieser Maschine, indem er statt der Zahnstange eine Schraube ohne Ende anwendete, „welche von den Laufrädern der Maschine aus mittels Zahnräderübersetzung und dem Schneckengetriebe angetrieben wird. Der Zweck dieser Veränderung ist darin zu suchen, den unvermeidlichen toten Gang beim Zahnstangenantrieb mit in diese eingreifende Zahnräder zu umgehen und eine langsamere Bewegung des aufsteigenden Düngerkastens zu ermöglichen. Die Schraubenspindeln greifen bei ihrer Drehung in die Räder, die hier also die Stelle der Mutter vertreten. Um dies aber zu erreichen, ist die Welle durch Sperrrad und Klinke festgestellt. Beim Beginn des Ausstreuens ist auch hier eine Regulierung nötig, bis die Streuwalze sich eine concave Bahn gearbeitet hat. Das geschieht von Hand und zwar durch einen auf der Welle lose sitzenden Handhebel, an welchem eine Schubklinke sitzt, die in das oben erwähnte Sperrrad eingreift. Dadurch wird die Welle nach oben gedreht, die Schraubenräder wälzen sich dabei an den feststehenden Spindeln s wie an einer Zahnstange hinauf und heben den Boden auf die erforderliche Höhe. Alsdann wird das weitere Heben des Bodens, wie oben angegeben, eingeleitet. Soll der Kastenboden nach Erschöpfung des Inhalts wieder abwärts bewegt werden, so löst man die Sperrklinke, welche die Welle feststellt, aus, und der Boden geht durch seine eigene Schwere abwärts (D. R. P. Nr. 41445 vom 5. Oktober 1886).“ [2]

Überreste einer Sämaschine der Firma Siedersleben und Co. sind noch in der Nähe von Rostock in einem Bombentrichter zu finden.

 

Die Eisengießerei und Maschinenfabrik

Der erste Standort der Maschinen-Fabrik befand sich in der Langen Straße. Schon 1874 hat Kobes dann hinter der Navigationsschule eine neue Maschinenfabrik errichtet, zu der nun auch eine Eisengießerei gehörte. Am 4. Mai 1874 erfolgte hier der erste Abstich. Zur Erinnerung daran wurde eine gusseiserne Tafel angefertigt und in der Fabrik angebracht. Ob diese Tafel noch existiert? Beliefert wurden anfangs in erster Linie die Schiffswerften mit den von ihnen benötigten Eisenteilen. Die landwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland bewirkte eine Umstellung der Produktpalette hin zu Geräten und Maschinen für die Agrarwirtschaft.

Aufgrund ungenügenden Kapitals musste Kobes 1880 seine Maschinenfabrik und Eisengießerei verkaufen. Die neuen Eigner waren Franz Schlör und Salchow. Schlör wurde später alleiniger Firmeninhaber. Doch auch ihm mangelte es schließlich an nötigem Kapital, sa dass er 1890 an die Pommersche Eisengießerei und Maschinenfabrig AG Stralsund (PEMAG) verkaufen musste. Neben den Erzeugnissen der Gießerei waren seit den 1880er Jahren nun Landmaschinen der Schwerpunkt des Barther Unternehmens. Dazu gehörte zum Beispiel der Schlör´sche Kunstdüngerstreuer.
Am 19. März 1928 richtete ein Geoßbrand erhebliche Schäden in der Fabrik an.

1884 erfand Franz Schlör in Barth eine neuartige Düngerstreumaschine bei welcher über dem oben offenen und in Führungen vertikal verschiebbaren Düngerkasten sich eine schnell rotierende, mit radialen Zähnen besetzte Walze befindet, die den Dünger von der Oberflüche des Düngerkastens abstreicht und nach hinten auswirft. Die Ausstreumenge wird durch die Geschwindigkeit bestimmt, mit welcher der Kasten sich während der Fahrt nach aufwärts bewegt.Diese Erfindung hatte sich Schlör 1885 unter D. R. P. Nr. 34385 vom 26. Juli 1885 patentieren lassen.

H. Grundke, Ingenieur in Berlin, ist in einer damaligen Bewertung voll des Lobes zu diesem Düngerstreuer: „In der Betrachtung interessirt uns nur das Neue in den maschinellen Einrichtungen. Die im Jahre 1888 in Breslau von der oben genannten Gesellschaft vorgenommene Prüfung von Düngerstreuern hatte die Aufmerksamkeit besonders auf die Schloer'sche Maschine gelenkt, indem die Preisrichter dieser Maschine den ersten Preis zuerkannten und das Urtheil abgaben, daſs diese Maschine von den zur Prüfung gestellten (16 Stück) die einzige war, welche mit vollkommener Sicherheit durch eine Drehprobe an der stehenden Maschine das Einstellen auf jede Düngermenge so genau gestattete, als es bei dem Unterschiede zwischen zwei auf einander folgenden Zahnräderpaaren möglich ist. Dieser günstige Erfolg bewirkt, daſs dasselbe System, welches der Schloer'schen Maschine zu Grunde liegt, von verschiedenen anderen Fabrikanten ebenfalls ausgebildet worden ist, wobei dabei aber mit mehr oder weniger Glück die Fehler derselben zu vermeiden gesucht wurden..“ [1]

Doch man musste auch damals schon stets der Konkurrenz einen Schritt voraus sein um wirtschaftlich mithalten zu können, die Technik wurde ständig verbessert und weiter entwickelt. So veränderte die Firma W. Siedersleben und Co. in Bernburg den Antrieb an dieser Maschine, indem er statt der Zahnstange eine Schraube ohne Ende anwendete, welche von den Laufrädern der Maschine aus mittels Zahnräderübersetzung und dem Schneckengetriebe angetrieben wird. Der Zweck dieser Veränderung ist darin zu suchen, den unvermeidlichen toten Gang beim Zahnstangenantrieb mit in diese eingreifende Zahnräder zu umgehen und eine langsamere Bewegung des aufsteigenden Düngerkastens zu ermöglichen. Die Schraubenspindeln greifen bei ihrer Drehung in die Räder, die hier also die Stelle der Mutter vertreten. Um dies aber zu erreichen, ist die Welle durch Sperrrad und Klinke festgestellt. Beim Beginn des Ausstreuens ist auch hier eine Regulierung nötig, bis die Streuwalze sich eine concave Bahn gearbeitet hat. Das geschieht von Hand und zwar durch einen auf der Welle lose sitzenden Handhebel, an welchem eine Schubklinke sitzt, die in das oben erwähnte Sperrrad eingreift. Dadurch wird die Welle nach oben gedreht, die Schraubenräder wälzen sich dabei an den feststehenden Spindeln s wie an einer Zahnstange hinauf und heben den Boden auf die erforderliche Höhe. Alsdann wird das weitere Heben des Bodens, wie oben angegeben, eingeleitet. Soll der Kastenboden nach Erschöpfung des Inhalts wieder abwärts bewegt werden, so löst man die Sperrklinke, welche die Welle feststellt, aus, und der Boden geht durch seine eigene Schwere abwärts (D. R. P. Nr. 41445 vom 5. Oktober 1886).“ [2]

Überreste einer Sämaschine der Firma Siedersleben und Co. sind noch in der Nähe von Rostock in einem Bombentrichter zu finden. 

Ein Inserat in den „Wöchentlichen Anzeigen für das Fürstenthum Ratzeburg“ aus dem Jahr 1886 dürfte in diesem Zusammenhang interessant sein.

Dünger-Streumaschinen, Schlör´s wie auch Hampel´s Patent, stehen bei mir auf Lager

Schlör´scher Düngerstreuer, 2,35 Meter breit: 350 Mark

Hampel´scher Düngerstreuer, 2,50 breit: 205 Mark , 3 Meter breit: 225 Mark, und 3,75 Meter breit: 260 Mark.

Auf der internationalen Düngerstreumaschinen-Concurrenz in Hundisburg (vom 11. bis 14. Mai 1886) erhielten die beiden obigen Maschinen den ersten Preis von 1000 Mark, und zwar jede 500 Mark

Hauptniederlage beider Düngerstreumaschinen bei

Ludw. Warncke, Mölln in Lbg.“

Das Ende des Zweiten Weltkrieges brachte recht einschneidende Veränderungen mit sich. 1945 erfolgte unter der der Obhut der Treuhandverwaltung zunächst die Stilllegung und die Demontage der Anlagen. Doch schon ein Jahr später nahm man in der Gießerei den Betrieb wieder auf. Der neue Name lautete jetzt „Landmaschinenfabrik Barth“.

Aber bis 1948 gehörte der Betrieb weiterhin zur Pommerschen Eisengießerei Stralsund. Die Reparatur von Landmaschinen und Traktoren bildeten dabei den Schwerpunkt der Tätigkeiten.

Als die „Landmaschinenfabrik Barth“ 1948 der VVB (Vereinigung Volkseigener Betriebe) Maschinenbau und Metallwaren Mecklenburg zugeordnet wurde, änderte sich der Name erneut. Dieser lautete jetzt „VEB Landmaschinenwerke Barth (LMW)“.

Ein neues Fertigungsprogramm wurde 1949 aufgelegt. Etwa 200 Beschäftigte produzierten Ackerwalzen, Rübenschneider, Häckselmaschinen, später dann auch Drillmaschinen, Bodenbearbeitungsgeräte sowie Kettendüngerstreuer und Tellerdüngerstreuer.

Das Fertigungsprogramm wurde weiterhin stetig erweitert, auf einschlägigen Ausstellungen und Messen konnten die neuen Barther Konstruktionen besichtigt werden.

Auf einige der damaligen bewährten Maschinentypen darf hier kurz eingegangen werden.

Futtermuser F 152, Anbaudüngerstreuer D 344, Flachsentsamungsmaschine K 175,

die selbstreinigende Rübenzerkleinerungsmaschine Typ F 146, die sich durch ihre hohe Mengenleistung und die vorzügliche Qualität der Reinigungs- und Zerkleinerungsarbeit in den damaligen landwirtschaftlichen Großbetrieben durchgesetzt hat.

Die damals üblichen Steinschrotmühlen in Holzbauweise wurden in einer

Stahlkonstruktion gefertigt, wodurch sich Stabilität und Lebensdauer der Geräte wesentlich erhöhten.

Neben den Ketten-Düngerstreuern wurden Teller-Düngerstreuer entwickelt, und zwar in den drei Varianten: D 344 als Anbau-Düngerstreuer, D 010 als Anhänge-Düngerstreuer, D 315 als Gespannmaschine.

Bei diesem Konstruktionsprinzip wird der Dünger von den Tellern nach außen zu den

Streufingern getragen, die ihn dann in einem fein verteilten Schleier gleichmäßig auf den Acker ausbringen.

Die Dosierung wird dabei durch die Drehbewegung und Geschwindigkeit der Teller und durch die Schieberöffnungen reguliert. Hervorzuheben ist auch die leichte Reinigung, Wartung und Pflege der Maschinen. Alle drei Ausfübrungen werden in der Standard-Arbeitsbreite von 2,5 m geliefert. Die Streumenge ist von 70 bis 2500 kg/ha einstellbar. In der Perspektive ist die Produktion des neuen Großflächen-Teller-Düngerstreuers "Blumberg" ebenfalls im VEB Landmaschinenbau Barth vorgesehen.

Als eine Besonderheit kann die Fertigung der Flachsentsamer gegen Ende der 1950er Jahre angesehen werden. Die zeitraubende Handarbeit beim Flachsentsamen wurde durch zwei Neuentwicklungen beseitigt. Bei der 1957 neu in die Fertigung aufgenommenen Flachsentsamungsmaschine J175 besteht die Riffelvorricbtung aus vier sägezahnartig gekerbten Walzenpaaren. Die oberen Walzen sind nicht parallel zu den unteren angeordnet, sondern steigen schräg nach der Bedienungsseite zu an. Die Samenkapseln können so auf der engen Seite leicht von den Stängeln abgelöst werden, ohne dabei die Stängel zu beschädigen. Es war vorgesehen, die Maschine noch mit einer Spreuabsaugung auszustatten.

Die Stundenleistung der Maschine betrug bei etwa 1,4 kW Kraftbedarf rund 500 kg.

Als Zusatzgerät für die K 175 wurde die automatische Flachsbündelmaschine E 925

gefertigt. Mit ihr ließ sich das Flachsstroh mit zwei Bindungen schnell und gleichmäßig bündeln.

Anfang der 1950er Jahre wurde das Unternehmen dem zentral geleiteten Landmaschinenbau „VVB Land-, Bau- und Holzbearbeitungsmaschinen LBH“) unterstellt und hieß nun bis 1971 „VEB Landmaschinenbau Barth“. Bis auf fast 900 Mitarbeiter stieg bis dahin die Belegschaft an, die jetzt entsprechend der landwirtschaftlichen Anforderungen Mineraldüngerstreuer fertigten.

1967 fiel die Entscheidung, den VEB Landmaschinenbau Barth für Aufgaben der Zulieferung zum Schiffbau der DDR umzustrukturieren. Damit kam das Aus für die über so viele Jahrzehnte währende, äußerst erfolgreiche Tradition der Fertigung landwirtschaftlicher Erzeugnisse in der kleinen Boddenstadt Barth. Die Landmaschinenproduktion wurde Ende der 1960er Jahre eingestellt und in andere Betriebe verlagert. Der wohl allerletzte Firmenname hieß „VEB Schiffsanlagenbau Barth SAB“, nach der Wende „Schiffsanlagenbau Barth (SAB) GmbH “.

Im November 2015 konnte man in der Zeitung lesen: „Schiffsanlagenbau meldet Insolvenz an“.

Wenn dann eines Tages die letzten Ruinen dieses vor 146 Jahren gegründeten Unternehmens abgetragen sein werden, bleibt zumindest eine bleibende Erinnerung an jene Zeit, in der aus Barth landwirtschaftliche Geräte und Maschinen in alle Gegenden Deutschlands gingen: Eine Straße mit dem Namen „Blaue Wiese“ gibt es kein zweites Mal in Deutschland, und darf deshalb mit Fug und Recht den Begriff als Barther Alleinstellungsmerkmal beanspruchen.

Blaue Wiese? Ist ja eigentlich ein Widerspruch in sich. Eine Wiese hat doch grün und nicht blau zu sein?

Die fertigen Geräte, wie zum Beispiel Rübenschneider, die im Mittelbau montiert wurden, mussten auf den Versand vorbereitet werden. Da zwischen dem Mittelbau und dem Versandboden ein Höhenunterschied von etwa einem Meter bestand, überbrückte man diesen mittels Hebebühne.

Als dann sowohl infolge der Anzahl, als auch durch die Größe der in der Taktstraße produzierten Maschinen wegen des innerbetrieblichen Platzmangels nicht mehr im Hofs abgestellt werden konnten, nutzte man eben eine große, südlich an das Firmengelände angrenzende Wiese, als Lagerplatz. Da die hier abgestellten Düngerstreuer alle mit einer kräftigen dunkelblauen Farbe versehen waren, erschien die Wiese dem Betrachter hierdurch als eine große blaue Fläche. Man nannte diesen Lagerplatz darum allgemein nur als die „blaue Wiese“. Diese Bezeichnung wurde letztlich beim Bau von Barth-Süd als Straßenname übernommen und erinnert uns nun an eine große industrielle Barther Zeit, die leider Vergangenheit ist.

[1] Handbuch zur Geschichte der Naturwissenschaft und der Technik Seite 806

[2] Polytechnisches Journal

 

SAB Barth

Anfang der 1950er Jahre wurde das Unternehmen dem zentral geleiteten Landmaschinenbau „VVB Land-, Bau- und Holzbearbeitungsmaschinen LBH“) unterstellt und hieß nun bis 1971 „VEB Landmaschinenbau Barth“. Bis auf fast 900 Mitarbeiter stieg bis dahin die Belegschaft an, die jetzt entsprechend der landwirtschaftlichen Anforderungen Mineraldüngerstreuer fertigten.

1967 fiel die Entscheidung, den VEB Landmaschinenbau Barth für Aufgaben der Zulieferung zum Schiffbau der DDR umzustrukturieren. Damit kam das Aus für die über so viele Jahrzehnte währende, äußerst erfolgreiche Tradition der Fertigung landwirtschaftlicher Erzeugnisse in der kleinen Boddenstadt Barth. Die Landmaschinenproduktion wurde Ende der 1960er Jahre eingestellt und in andere Betriebe verlagert. Der wohl allerletzte Firmenname hieß „VEB Schiffsanlagenbau Barth SAB“, nach der Wende „Schiffsanlagenbau Barth (SAB) GmbH “.

Im November 2015 konnte man in der Zeitung lesen: „Schiffsanlagenbau meldet Insolvenz an“.

Wenn dann eines Tages die letzten Ruinen dieses vor 146 Jahren gegründeten Unternehmens abgetragen sein werden, bleibt zumindest eine bleibende Erinnerung an jene Zeit, in der aus Barth landwirtschaftliche Geräte und Maschinen in alle Gegenden Deutschlands gingen: Eine Straße mit dem Namen „Blaue Wiese“ gibt es kein zweites Mal in Deutschland, und darf deshalb mit Fug und Recht den Begriff als Barther Alleinstellungsmerkmal beanspruchen.

Blaue Wiese? Ist ja eigentlich ein Widerspruch in sich. Eine Wiese hat doch grün und nicht blau zu sein?

Die Düngerstreuer mussten vor dem Versand zwischengelagert werden. Sowohl die Anzahl, als auch die Größe der produzierten Maschinen konnten nicht mehr innerhalb des Betriebes abgestellt werden, der Platz dafür war schlicht nicht mehr vorhanden. So nutzte man eben eine große, südlich an das Firmengelände angrenzende Wiese, als Lagerplatz. Da die hier abgestellten Düngerstreuer alle mit einer kräftigen dunkelblauen Farbe versehen waren, ergab sich hierdurch eine große blaue Fläche. Man nannte diesen Lagerplatz allgemein nur als die blaue Wiese. Diese Bezeichnung wurde letztlich beim Bau von Barth-Süd als Straßenname übernommen und erinnert uns nun an eine große industrielle Barther Zeit, die leider Vergangenheit ist.

 

1945 - Demontage und Wiederaufbau

Das Ende des Zweiten Weltkrieges brachte recht einschneidende Veränderungen mit sich. 1945 erfolgte unter der der Obhut der Treuhandverwaltung zunächst die Stilllegung und die Demontage der Anlagen. Doch schon ein Jahr später nahm man in der Gießerei den Betrieb wieder auf. Der neue Name lautete jetzt „Landmaschinenfabrik Barth“. Aber bis 1948 gehörte der Betrieb weiterhin zur Pommerschen Eisengießerei Stralsund. Die Reparatur von Landmaschinen und Traktoren bildeten dabei den Schwerpunkt der Tätigkeiten.

Als die „Landmaschinenfabrik Barth“ 1948 der VVB (Vereinigung Volkseigener Betriebe) Maschinenbau und Metallwaren Mecklenburg zugeordnet wurde, änderte sich der Name erneut. Dieser lautete jetzt „VEB Landmaschinenwerke Barth (LMW)“.

Ein neues Fertigungsprogramm wurde 1949 aufgelegt. Etwa 200 Beschäftigte produzierten Ackerwalzen, Rübenschneider, Häckselmaschinen, später dann auch Drillmaschinen, Bodenbearbeitungsgeräte sowie Kettendüngerstreuer und Tellerdüngerstreuer.

Das Fertigungsprogramm wurde weiterhin stetig erweitert, auf einschlägigen Ausstellungen und Messen konnten die neuen Barther Konstruktionen besichtigt werden.

Auf einige der damaligen bewährten Maschinentypen darf hier kurz eingegangen werden.

Futtermuser F 152, Anbaudüngerstreuer D 344, Flachsentsamungsmaschine K 175,

die selbstreinigende Rübenzerkleinerungsmaschine Typ F 146, die sich durch ihre hohe Mengenleistung und die vorzügliche Qualität der Reinigungs- und Zerkleinerungsarbeit in den damaligen landwirtschaftlichen Großbetrieben durchgesetzt hat.

Die damals üblichen Steinschrotmühlen in Holzbauweise wurden in einer

Stahlkonstruktion gefertigt, wodurch sich Stabilität und Lebensdauer der Geräte wesentlich erhöhten.

Neben den Ketten-Düngerstreuern wurden Teller-Düngerstreuer entwickelt, und zwar in den drei Varianten: D 344 als Anbau-Düngerstreuer, D 010 als Anhänge-Düngerstreuer, D 315 als Gespannmaschine.

Bei diesem Konstruktionsprinzip wird der Dünger von den Tellern nach außen zu den

Streufingern getragen, die ihn dann in einem fein verteilten Schleier gleichmäßig auf den Acker ausbringen.

Die Dosierung wird dabei durch die Drehbewegung und Geschwindigkeit der Teller und durch die Schieberöffnungen reguliert. Hervorzuheben ist auch die leichte Reinigung, Wartung und Pflege der Maschinen. Alle drei Ausfübrungen werden in der Standard-Arbeitsbreite von 2,5 m geliefert. Die Streumenge ist von 70 bis 2500 kg/ha einstellbar. In der Perspektive ist die Produktion des neuen Großflächen-Teller-Düngerstreuers "Blumberg" ebenfalls im VEB Landmaschinenbau Barth

vorgesehen.

Als eine Besonderheit kann die Fertigung der Flachsentsamer gegen Ende der 1950er Jahre angesehen werden. Die zeitraubende Handarbeit beim Flachsentsamen wurde durch zwei Neuentwicklungen beseitigt. Bei der 1957 neu in die Fertigung aufgenommenen Flachsentsamungsmaschine J175 besteht die Riffelvorricbtung aus vier sägezahnartig gekerbten Walzenpaaren. Die oberen Walzen sind nicht parallel zu den unteren angeordnet, sondern steigen schräg nach der Bedienungsseite zu an. Die Samenkapseln können so auf der engen Seite leicht von den Stängeln abgelöst werden, ohne dabei die Stängel zu beschädigen. Es war vorgesehen, die Maschine noch mit einer Spreuabsaugung auszustatten.

Die Stundenleistung der Maschine betrug bei etwa 1,4 kW Kraftbedarf rund 500 kg.

Als Zusatzgerät für die K 175 wurde die automatische Flachsbündelmaschine E 925

gefertigt. Mit ihr ließ sich das Flachsstroh mit zwei Bindungen schnell und gleichmäßig bündeln.

 

Fabrikant Wilhelm Kobes

1826 geboren, verheiratet mit Elisabeth Kobes, geb. Wallis, hatte mehrere Kinder, darunter auch den Sohn Wilhelm Kobes. Eine seiner Töchter hieß Maria Wilhelmine Auguste Kobes.

Kobes gründete am 30. Oktober 1871 den Barther Verschönerungsverein. Ziel und Aufgabe war, das Gelände der Alten Burg, den ältesten Teil der Stadt, in freundliche, öffentliche Parkanlagen umzugestalten. Bis dahin befand sich hier eine Kiesgrube.

Die Arbeiten dafür wurden im März 1872 aufgenommen, und zwar nach den Entwürfen des Potsdamer Hof-Gartendirektors Jühlke.

Jühlke war gebürtiger Barther und erhielt später die Ehrenbürgerschaft seiner Geburtsstadt verliehen.

Aus Anlass des ersten Sedanstages pflanzte der Verschönerungsverein am 2. September 1872 am Eingang zu den Anlagen eine Friedenseiche, die prächtig gediehen ist. Sie steht auch heute noch und kann bewundert werden.

Beim Kessel der Burganlage ist ein Steinberg mit Wegen darum herum zu sehen, der noch im ursprünglichen Zustand erhalten sein soll. Dort befand sich eine Grotte mit Bänken und Tischen, damit sich die Besucher der Anlagen unter Schatten spendenden Bäumen erholen konnten. Auch zwei Teiche entstanden. In ihnen schwammen zur Freude der Besucher Goldfische.

Der Kaufmann, Fabrikant und Vorsitzender des Barther -verschönerungsvereins, Wilhlm Kobes starb am 12. Januar 1885 im Alter von neunundfünfzig Jahren.

Zu seinen Ehren pflanzte man im Kessel der Alten Burg eine Linde und errichtete 1896 unter dieser „Kobeslinde“ einen Gedenkstein. Beide sind nicht mehr vorhanden

PS: In der Dammstraße 24 lebte laut Adressbuch von 1938 eine verwitwete Frau Johanna Jühlke. Sie führte in den 1960er Jahren meines Wissens in der Kohlenhandlung von Walter Krusemark die Bürogeschäfte. War diese Frau Jühlke mit dem Hof-Gartendirektor Jühlke verwandt, oder sogar eine Nachkommin desselbigen?

 

Pomaden-Theo 1946

Fiete und Jan, diese schier unzertrennlichen Freunde, sitzen wieder einmal auf ihrer Klönbank bei der Ballastkiste am Barther Hafen und schwadronieren über den Teufel und die Welt, wie es so schön heißt. Und so kommt die Frage nicht überraschend: Fiete, sage mal, du warst doch im Gegensatz zu mir richtig bei den Soldaten. Du hast da aber noch nie drüber geredet.“

Warum fragst du gerade heute danach. Da möchte ich mich nämlich nicht so gerne drüber ausbreiten.“

Na gut, wenn er das lieber nicht erzählen will, dann hat er wohl seinen Grund dafür, denkt Jan. Und so gucken die zwei Freunde erst mal wieder gelangweilt den Möwen zu und den jungen Frauen um so interessierter hinterher.

Aber Fiete fängt dann doch zu reden an, über seine Soldatenzeit. Dabei holt er ganz weit aus, bis ins Jahr 1946, als er selbst noch im "Westen" lebte. Aber Tante Erna, sie wohnte in der Pohlstraße, hatte ihm eine Geschichte erzählt, die ihm im Gedächtnis hängen geblieben ist, weil sie ihm so lustig erschien.

Im Haus Nummer 5, unmittelbar am Waldrand gelegen, wohnte seit Mai 1946 die vierköpfige Familie Knopfe aus Westpreußen. Der Vater hieß mit Vornamen Siegfried, die Mutter Brunhild. Zwei Kinder gehörten zur Familie: der Sohn Hagen und der Sohn Theodor. Hagen erblickte 1929 in der Kleinstadt Deutsch Krone das Licht dieser Welt. 1934 folgte Theodor. Beide Söhne entpuppten sich in der Schule schon frühzeitig als ziemlich aufgeweckte Köpfe und die Eltern durften berechtigte Hoffnungen haben, dass die beiden Söhne nach dem Abitur eine standesgemäße berufliche Karriere hinlegen würden. Vater Siegfried war Beamter im gehobenen Dienst, Mutter Brunhild war Hausfrau, aber mit einem adeligen Stammbaum.
Ende 1945 wurde die Familie aus ihrer westpreußischen Heimat vertrieben. Hätte auch alles so schön werden können, wenn da nicht dieser verflixte Krieg die Pläne über den Haufen geworfen hätte. Für Hagen war ein Medizinstudium ins Auge gefasst worden, Theodor hatte früh schon für eine militärische Laufbahn Interesse bekundet. Berufsoffizier in der Deutschen Wehrmacht zu werden schien ihm als Berufsziel erstrebenswert. Doch die Zeit war für derlei Lebensplanungen alles andere als günstig. Der Krieg nahm für die Menschen in den deutschen Ostgebieten mit der Zeit immer mehr einen verhängnisvollen, ja geradezu bedrohlichen, Verlauf.
Es machte sich die Befürchtung breit, dass sich die Soldaten der Roten Armee für Vergehen der SS und der Wehrmacht nunmehr an der deutschen zivilen Bevölkerung rächen würden. So verbreitete die Nachricht über das Massaker im ostpreußischen Nemmersdorf (heute Majakowskoje) Angst und Schrecken auch bei den Einwohnern von Deutsch Krone. Nachdem das ostpreußische Nemmersdorf im Oktober 1944 von den Russen besetzt worden war, kam es im Ort zu Erschießungen mehrerer Dutzend Zivilisten, die sich vor den Kampfhandlungen zwischen der Wehrnacht und der Roten Armee in einen Bunker geflüchtet hatten. Auch sechs weitere Nemmersdorfer und einige ortsfremde Personen sind bei der Einnahme Nemmersdorfs hier ums Leben gekommen. Die Hintergründe für den Tod der dortigen Zivilisten sind bis heute nicht restlos geklärt. Die Russen zogen sich wieder aus Nemmersdorf zurück, und nun nutzte das Reichspropagandaministerium das Geschehnis, es im Sinne des NS-Regimes zu deuten. Ziel war es, die Reserven der deutschen Bevölkerung gegen die vorrückenden Sowjettruppen zu mobilisieren, indem man diese als grausame Invasoren darstellte. Zu diesem Zweck wurden nachträglich Aufnahmen mit Erschossenen unbekannter Herkunft angefertigt und propagandistische Berichte verbreitet, die von methodischen Folterungen, Vergewaltigungen und Morden sprachen. Das Ziel, die deutsche Bevölkerung und die Weltgemeinschaft zum Kampf gegen die Rote Armee zu motivieren, verfehlte diese Propaganda aber.
Noch während des Krieges wurden in der Stadt Deutsch Krone eine Ausbildungseinheit für die deutsche Marine stationiert sowie mehrere Lazarette gebaut.
1944 begann in Erwartung von Kampfhandlungen in der näheren Umgebung der Bau der „Pommernstellung“. Dabei handelte es sich um ein System von Sperranlagen, bestehend aus Panzersperren und aus Betonbunkern. Die arbeitsfähigen Einwohner waren verpflichtet, hieran mitzuarbeiten. Das bewahrte die Stadt aber nicht davor, dass Deutsch Krone am 12. Februar 1945 von der Roten Armee besetzt und danach im Sommer 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht gemäß dem Potsdamer Abkommen unter polnische Verwaltung gestellt wurde. Das gleiche Schicksal erfuhren auch ganz Westpreußen, Hinterpommern und die südliche Hälfte Ostpreußens.
In der Folgezeit setzte für die deutschen Einwohner, soweit sie noch nicht geflohen waren, die systematische Vertreibung ein und es begann die Zuwanderung von Polen, die vorwiegend aus den Gebieten östlich der Curzon-Linie kamen. Diese Linie verlief in Nord-Südrichtung etwa zwischen Bialystok, Brest und Lwow zur Westgrenze der UdSSR hin

(Curzon-Linie, benannt nach dem ehemaligen britschen Außenminister George Curzon, war nach dem Ersten Weltkrieg am 8. Dezember 1919 in Paris unter Bezugnahme auf die Muttersprache der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung als polnisch-russische Demarkationslinie vorgeschlagen worden.Nach einer Schätzung der britischen Tageszeitung The Times von 1944 lebten im Jahr 1931 in den Gebieten östlich der Curzon-Linie, der sogenannten Kresy, 2,2 bis 2,5 Millionen Polen. Von

diesen Polen sollen nach dem Zweiten Weltkrieg 2,1 Millionen nach Westen gezogen sein und sich zu zwei Dritteln in den „neuen Gebieten“ angesiedelt haben, wo sie dann die eingesessene deutsche Bevölkerung vertrieben. Für Deutsch Krone führten die Polen 1945 die Ortsbezeichnung Wałcz ein.

Als die Rote Armee im Januar 1945 bis an Deutsch Krone heran gerückt war, forderten die deutschen Behörden die Menschen auf, die Stadt zu verlassen. Sie sollten im 200 Kilometer weiter westlich liegenden Demmin unterkommen. Diesem Ansturm war Demmin allerdings nicht gewachsen, so dass viele der Flüchtlinge weiter nach Westen ziehen mussten, darunter befand sich auch die Familie Knopfe. Der Weitertreck infolge der Überbelegung Demmins zu diesem Zeitpunkt erwies sich im Nachhinein für die Abgewiesenen als ein Glücksfall. So fügte es das Schicksal, dass auch die Familie Knopfe die Stadt bereits wieder verlassen hatte, als es in Demmin zu einem beispiellosen, unglaublichen Massenselbstmord kam.
Seit dem Massaker von Nemmersdorf hatte die NS-Propaganda über Monate hinweg die Angst vor den „bolschewistischen Bestien“ und deren ungeheurer Brutalität geschürt. Auch durch die Berichte von Flüchtlingen machte sich so eine allgemeine Massenhysterie breit.
Hier in Demmin zeigte sich, dass die NS-Propaganda eine entsetzliche Wirkung entfaltet hatte. Das war ein Massenselbstmord, einschließlich erweiterter Suizide von mehreren hundert Zivilisten, der sich in der vorpommerschen Kleinstadt Demmin zwischen dem 30. April und dem 4. Mai 1945 ereignete, als die Rote Armee vor Ende des Zweiten Weltkrieges den Ort einnahm.
Im Mai 1946 endete Flucht der Familie schließlich in einer kleinen Stadt im neu gebildeten Land Mecklenburg-Vorpommern. Hier fanden sie Unterkunft in einem ehemaligen Wohnlager für dienstverpflichtete Beschäftigte einer inzwischen von der Roten Armee besetzten und zerstörten Rüstungsfabrik.
Infolge der Wirren des Kriegsendes und der Flucht bzw. Vertreibung gen Westen rückte für die Söhne Hagen und Theodor das Ziel Abitur bzw. Studium erst einmal in weite Ferne. Denn in der neuen Heimat Mecklenburg-Vorpommern sahen sie sich anfänglich mit einem nicht vorhergesehenen Hindernis konfrontiert. Lediglich Kindern von Arbeitern, sofern sie dazu in der Lage waren, gewährte man Zugang zu einem höheren Bildungsweg.
Wegen Vaters beruflicher Tätigkeit als Beamter und Mutters adeliger Herkunft, durften sie die Oberschule nicht besuchen. Der Vater Knopfe entschied 1949 deshalb: „Theo, dann machst du zunächst eine Lehre in der Werkstatt beim Bauschlosser Berges. Ich habe schon mit ihm verhandelt. Du kannst dort eine Lehre als Dreher beginnen. Danach wird sich bestimmt schon eine andere Lösung finden lassen.“
Was blieb dem Sohn anderes übrig, als sich damit abzufinden. Für ihn stand aber fest, „das mache ich nur bis zur Gesellenprüfung. Dann bewerbe ich mich bei der Deutschen Volkspolizei. Ich möchte auf jeden Fall Offizier und dann General werden“.

Und das machte er dann auch. Arbeiter sein, das mochte er, der aus besserem Hause stammte, sich nicht antun. Seine Gesellenprüfung meisterte er übrigens mit Bravour.
Die Familie bekam inzwischen eine andere Wohnung in einer für die Stadt so typischen Altstadtgassen zugewiesen. Betrachtet man diese Stadt aus der Vogelperspektive auf alten Stichen oder auch auf neuzeitlichen Luftaufnahmen, so ist ihre mittelalterliche Struktur mit den Straßen, Gassen und Wallanlagen auch heute noch in all ihrer Ursprünglichkeit sehr schön erkennbar. Sie hat sich bis heute fast unverändert erhalten. In der historischen Stadtanlage verlaufen die Straßen derart, dass sie gewissermaßen einen nahezu geschlossenen Ring um den Stadtkern bilden. Das Zentrum wird von der großen Marienkirche, diesem prächtigen und auch mächtigen Backsteinbau dominiert. Der davor befindliche große Marktplatz ist ebenfalls ein Blickfang. Eindrucksvoll liegt in einiger Entfernung, der Kirche gegenüber, das ehemalige Adlige Fräuleinstift, in der Stadt wird es allgemein Kloster genannt. Das sind alles Anlagen und Bauwerke, wie sie wohl nur in wenigen Städten dieser Größenordnung zu finden sind.
Von besonderem Charme sind aber die bereits erwähnten, einen Ring bildenden Gässchen, wie Bleicherstraße, Pohlstraße, Gartenstraße, Mauerstraße, Turmstraße mit dem Fangelturm sowie die

Wallstraße. Etliche Häuser sind so niedrig, dass man fast aus der Dachrinne trinken könnte, behaupten manche Spötter.
Dieser Straßenring wird dann gewissermaßen noch einmal umschlossen von einem zweiten, nämlich grünen Ring: Westlich ist das der Bleicherwall und östlich der Stadtwall. Die Hafenstraße und der Bodden bilden die Stadtbegrenzung nach Norden hin.
An vielen Fenstern in der Pohlstraße und der Bleicherstraße waren früher Spione genannte Spiegel angebracht. Mit diesen war es den neugierigen Hausbewohnern möglich, die enge Straße nach links aber auch nach rechts zu beobachten ohne die Gardine wegzuziehen oder gar ein Fenster öffnen zu müssen. Heute sucht man diese aber vergeblich, sie sind verschwunden. Was eigentlich schade ist, denn auch sie hatten Anteil an der Ausstrahlung der kleinen Gassen, und damit auch der Stadt. In dieser liebenswerten, romantischen Umgebung hatte die Familie nun ihr neues Zuhause.

Tante Erna wohnte ebenfalls dort. Bei ihr war Klein-Fiete recht häufig zu Besuch. Wenn Tante Erna den Onkel Willi an dessen Lohntag vor der Bootswerft rechtzeitig abfangen konnte bevor der bei Otto Wolter in die Börse entwischt war, schenkte sie Fiete gelegentlich fünfzig Pfennige. Fiete hielt das Geldstück ganz fest in seiner Hand und lief damit umgehend quer über die Dammstraße hinüber zum Haus Nummer acht. Hier betrieb das Ehepaar Herdt, zwei äußerst freundliche, bescheiden auftretnde Menschen, eine Drogerie. Wenn Fiete mit strahlendem Gesicht und seinem fröhlichen „Grüß Gott“ durch die Ladentür stürmte, wussten die beiden Leutchen schon, was er wollte: Eine Rolle Dextropur-Traubenzucker-Dropse sollte es sein. Die Dinger mochte er nur allzu gerne. Ein paar Häuser weiter in Richtung Dammtor hätte er auch in dem Lebensmittelladen bei Frau Miedbrodt Dextropur kaufen können. Doch in der Drogerie bei der freundlichen Frau Herdt bekam Fiete manchmal, aber wirklich ganz selten und auch nur, wenn Herr Herdt nicht im Laden war, zu hören: „ach, lass das Geld mal stecken, kleiner Mann.“ Ihr hatte es wohl Fiete´s schwäbischer Dialekt angetan.
Aber auch der Spion-Spiegel vor Tante Erna´s Stubenfenster war für Fiete ein Grund, der lieben Tante desöfteren mal einen Guten Tag zu wünschen. Es bereitete ihm einen Heidenspaß, versteckt hinter der Gardine stehend alles beobachten zu können ohne dass die Leute da draußen in der Gasse es auch nur ahnten, dass da jemand alles sieht, ohne selbst gesehen zu werden. Er fühlte sich dabei wie im orientalischen Märchen, wo man sich ja angeblich mit einer Tarnkappe unsichtbar machen kann.

Wenn Onkel Willi nach seinem Besuch in Otto Wolter´s Kneipe mit nicht mehr ganz sicherem Schritt nach Hause kam, sah Fiete das im Spiegel schon von Weitem und konnte das der Tante melden. Deren Reaktion war dann immer: „Fieting, ick glöw, dien Mudding luert all mit dat Abendbrod up di.“

Diese Sprache war für Fieting zwar ungewohnt und noch fremd, aber er verstand schon vieles davon. Dabei wollte er doch zu gerne einmal sehen, wie Onkel Willi durch den engen Hausflur wankte und in die Stube kam, ohne sich an der niedrigen Türe den Kopf zu stoßen. Und genau das wollte die Tante vermeiden. Wäre ihr bestimmt peinlich gewesen vor dem Jungen.
Ebenso fiel Fiete der forsche neue Nachbar, der in sich selbst verliebte Theo, bereits an dessen erstem Tag hier in der Gasse auf. Sein Gang und sein Verhalten waren nicht wie bei jedem anderen jungen Mann, nein, er stolzierte wie ein Gendarm aus Kaisers Zeiten an den eng stehenden niedrigen Häuschen entlang, sodass der Eindruck entstehen konnte, hier kommt die Obrigkeit höchstpersönlich daher geschritten. Auch ließ er keine Gelegenheit aus, sich an seiner pomadisierten Schönheit zu berauschen. In der Drogerie Schurich in der Langen Straße kaufte er sich immer diese Tuben mit Pomade der Marke „Glätt“ und schmierte sich reichlich von dem Zeugs ins Haar. Der Volksmund ist mit Spitznamen ja fix bei der Hand, und so hieß er bei den Erwachsenen bald nur noch „Pomaden-Theo“.

Er stolzierte gerne an den kleinen Häuschen entlang. Die Fenster waren meistens blitzeblank geputzt, Ehrensache aller Hausfrauen, sodass sich darin das Spiegelbild bestens beobachten ließ. Das tat Pomaden-Theo auch ausgiebig. Er linste nicht nur verstohlen auf die Fensterscheiben, nein, er blieb manchmal davor stehen und drehte sich mal mal zur linken und mal zur rechten Seite um

sich nur keine Einzelheit seiner imposanten Erscheinung entgehen zu lassen. Er war ja groß, schlank und trotzdem von kräftig wirkender Statur. Das Schauspiel mit dem amüsanten Gehabe bot er nur für eine kurze Zeit, dann war er plötzlich verschwunden.

Doch bald tauchte er wieder im Städtchen auf.

An einem sonnigen Wochenende war es, Fiete konnte das sehr gut beobachten, dass an Tante Erna´s beinahe ebenerdigem, mit Spion ausgestattetem Stubenfenster, ein junger Soldat in khakifarbener Uniform vorbei stelzte und sich in den Scheiben musternd im Haus gegenüber verschwand. Ein Getuschel setzte in den Häuschen sofort ein: „Hast du den gesehen, Erna, diesen Soldaten? War das nicht der schöne Theo, der Sohn dieses vornehmen Herrn von gegenüber?“
Doch, genau der war das. Da war sich nicht nur Tante Erna ganz sicher. Auch die anderen holden Nachbarinnen hatten ihren umschwärmten Theo trotz seiner neuartigen Uniform, sofort erkannt.

Er trug jetzt die Uniform der erst vor wenigen Jahren ins Leben gerufenen Kasernierten Volkspolizei, kurz KVP genannt. Und die Rangabzeichen eines Offizier-Schülers trug er auch schon. Nach dem unverhofften Auftauchen in der schmalen Gasse mit den niedrigen Häuschen sah man Pomaden-Theor im Städtchen dann aber endgültig nie wieder. Zum großen Leidwesen der Mädels, die an jenem Abend hoffnungsvoll aber vergebens das berühmt-berüchtigte Cafe in der Langen Straße umlagerten.
Im Frisörladen Bladt an der Ecke Dammstraße/Pohlstraße warteten mehrere Männer auf den Ruf „der Nächste bitte!“ Sie wollten sich einen neuen Haarschnitt „Fasson“ oder „Halblang“ verpassen oder sich die Bartstoppeln abkratzen lassen. Dabei war auch der junge Soldat aus der Nachbarschaft ein Gesprächsthema. Leise unterhielten sie sich in empörtem Tonfall darüber, dass der vornehme Herr Knopfe es zuließe, dass sein Sohn so kurz nach dem verlorenen Krieg schon wieder eine Uniform anzöge. Hinter der vorgehaltenen Hand und mit verstohlenen Blicken auf Fiete, fiel mit einem verächtlichen Unterton in der Stimme, das Wort „Russenknecht“. Fiete bekam einen mächtigen Schreck, wusste er doch, dass Russenknecht ein ganz, ganz schlimmes Wort war. Von da an wollte er dem forschen Theo doch lieber aus dem Wege gehen. Aber der wurde im Städtchen ja ohnehin nicht mehr gesichtet.

Die Dienstverpflichtung in der KVP galt für alle Dienstgrade für mindestens zwei oder auch drei Jahre. Theo unterschrieb einen Vertrag, der gleich weit über solchen Zeitrahmen hinausging. Bei dem Einstellungsgespräch brachte er dem Polizeioffizier gegenüber, dessen Uniform übrigens eindeutig auf Militär schließen ließ, seinen Wunsch vor, eine Offizierslaufbahn einschlagen zu wollen. Dieser Wunsch wurde wohlwollend zur Kenntnis genommen.
[Die Kasernierte Volkspolizei (KVP) war die militärische Vorläuferorganisation der Nationalen Volksarmee (NVA), in der sie später aufging.Die Grundlage der Entstehung der KVP war der Befehl der Sowjetischen Militäradministration für Deutschland (SMAD) vom 3. Juli 1948, der die Bildung von „Kasernierten Bereitschaften“ der Deutschen Volkspolizei anordnete. In jenen paramilitärischen Verbänden wurden Freiwillige mit Zwei- oder Dreijahresverpflichtungen unter Anleitung sowjetischer Berater ausgebildet und politisch geschult“. Sie hatte nach Gründung der DDR von Anfang an den Auftrag, diesen Staat „nach außen hin militärisch bzw. den Machterhalt der SED nach innen abzusichern.“ Wikipedia]
Bereits in der Grundausbildung fiel er als mustergültiger Soldat auf. Beflissen versah er seinen Dienst, zackig und gehorsam trat er den Vorgesetzten gegenüber in Erscheinung. In den Anfängen seiner militärischen Laufbahn schon erkannten die Vorgesetzten rasch sein ganz offensichtlich enormes Durchsetzungsvermögen sowie sein ausgeprägtes Verständnis für strategische und taktische Belange. So war es nicht verwunderlich, dass Theo bereits nach kurzer Zeit die Offiziersschule besuchte und den Kameraden als nachahmenswerter Genosse Offiziersschüler galt.

Jahre später, Fiete hatte den Pomaden-Theo schon längst vergessen, da stand er ihm unverhofft wieder gegenüber. Theo war nach seinem Eintritt im Jahr 1952 in die KVP nach der Gründung der NVA 1956 in diese übernommen worden.

Bei der neuerlichen Begegnung, inzwischen schrieb man das Jahr 1961, hatte Theo nun eine tadellos sitzende Offiziersuniform an. Er war jetzt ein Leutnant der NVA und Fiete stand als

klitzekleiner junger popeliger Soldat vor ihm. Theo war für ihn nicht mehr der eitle Gockel aus der kleinen Straße mit den kleinen Häuschen seiner Heimatstadt, sondern der war zur Respektsperson „Genosse Leutnant“ avanciert. Der Genosse Leutnant erkannte ihn nicht, wie sollte er auch? Es war ja bei den wenigen Begegnungen in der kleinen Gasse nie zu persönlichen Kontakten gekommen. Es waren derweil auch etliche Jahre ins Land gegangen.

Fiete´s erneute Begegnung mit Theo und welche zum Teil unschöne Konsequenzen daraus erwuchsen, das ist in den folgenden Episoden nachzulesen.

 

Fiete wird Soldat 1961-1963

Ich stand mit den anderen neu eingestellten Soldaten auf dem Exerzierplatz der Kaserne in der Kopernikusstraße und plapperte das nach, was ein fremder Mensch in Offiziersuniform mir da in den Mund legte:

- Ich schwöre, meinem Vaterland, der Deutschen Demokratischen Republik, allzeit treu zu dienen, sie auf Befehl der Arbeiter- und Bauernregierung unter Einsatz meines Lebens gegen jeden Feind zu schützen, den militärischen Vorgesetzten unbedingten Gehorsam zu leisten, immer und überall die Ehre unserer Republik und ihrer Nationalen Volksarmee zu wahren. -

Was dieser sogenannte Eid zu bedeuten hatte, war mir überhaupt nicht so richtig klar, und eigentlich auch völlig schnuppe. Ich habe dann zwei volle Soldatenjahre in Rostock abgerissen. Noch vor der Wehrpflicht. Als Freiwilliger.“

Als Freiwilliger? So ein Dämel warst du? Da hätten mich keine zehn Pferde nicht hingekriegt!“

Jan denkt ja sonst nur gut über seine Kumpel Fiete, aber hier ist kein Platz für sein Verständnis.

Hattest du denn keine Freundin, die dir das ausreden konnte?“

Hör bloß auf, sage ich dir, reingelegt hat man mich.“

Das hört sich aber richtig spannend an, erzähl doch mal! Wer hat dich denn wie, womit und warum reingelegt?“

Ach, weißt du, das fing eigentlich schon 1954 an, als ich noch zur Schule ging. In Barth-Stein habe ich bei der dortigen MTS immer die Soldaten der KVP gesehen, die haben da gearbeitet“.

Stopp mal, was heißt hier denn MTS und KVP? Kannste das nicht ins Deutsche verklaren?“

Fiete versucht es zu erklären: MTS waren damals Maschinen- und Traktoren-Stationen, die mit der vom Staat vorgehaltenen Technik und den entsprechenden Fachkräften den Bauern vor allem in der Ernte geholfen haben. Später nannte man das MAS. Die haben aber nach dem gleichen Muster funktioniert wie die MTS. Zuerst bekamen die neuen LPGen Hilfe, und erst danach dann die privaten Bauern.

Die KVP war das, was es entsprechend den Bestimmungen der Alliierten Mächte (Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich) eigentlich gar nicht geben durfte. Das waren nämlich Soldaten, getarnt als sogenannte Volkspolizisten.

Manchmal habe ich so einen Reiter von der KVP zwischen Pruchten und Barth-Stein auf dem Sommerweg auf einem Pferd gesehen, manchmal marschierte auch eine kleinere Gruppe von denen durch die Gegend bei Barth. Mich hat das einfach interessiert, deshalb wollte ich später auch Soldat werden und eine Uniform tragen! Als ich dann ab 1957 in die Lehre ging, habe ich mich dann

gemeinsam mit meinem Mitlehrling Hans bei der Polizei gemeldet. Ich wollte mich unbedingt für die Grenzpolizei See bewerben und mit einem dieser kleinen Schnellboote über´s Wasser flitzen. Die sah ich oft, wenn sie aus Richtung Zingst oder Barhöft über den Bodden nach Barth reinfuhren.“

Du wolltest DDR-Grenzer werden? Schäme dich!“

Ach was, das war doch noch vor der NVA. Grenze und Grenzer wie wir das dann später erfahren mussten, gab es da doch noch gar nicht, Jan. Es hieß noch harmlos Grenzpolizei, also nicht Grenztruppen. Und außerdem hat mir natürlich die blaue Uniform imponiert. Als Molli, wie die Matrosen so genannt wurden, hattest du doch richtig viel Schlag bei den Mädels wenn in der Burg oder im Cafe Hemd hoch Tanz war.“

Oh ja, das stimmt. Da gab es immer Streit und auch Haue zwischen den blauen Mollis und den einheimischen Hähnen. Ist das heute eigentlich auch noch so?“

Keine Ahnung, ist mir auch ziemlich schnuppe“ bekennt Fiete. „Zur Gesundheitsuntersuchung mussten wir, Hans und ich, zu einem Arzt nach Damgarten in der Stralsunder Straße. Als Untersuchungsergebnis wurde mir zu meiner großen Enttäuschung mitgeteilt, dass ich einen schweren Herzfehler habe und damit nicht tauglich bin für den Dienst.“

Aber du warst doch später dann bei den richtigen Soldaten, Fiete, wie geht denn so was?“

Ja siehste, jetzt kommt das, was ich als Aufs-Kreuz-Legen bezeichne. Zwei Jahre später, ich hatte die Lehre bereits abgeschlossen, wurde ich eines Tages zum Alten gerufen, das war der Betriebsleiter Fritz Toll. Bei ihm saß ein Uniformierter der NVA, die gab es dann ja inzwischen schon. Es war ein Werbe-Offizier vom Wehrkreiskommando, der Jugendliche für den Dienst in der noch ganz jungen NVA werben sollte. Die Wehrpflicht war da noch kein Thema.

Er hätte sich gar nicht vorzustellen brauchen, ich kannte ihn. Er hatte bereits im Jahr zuvor in der Berufsschule in unserer Klasse versucht, Dumme zu finden. Außerdem wohnte er bei uns in der Straße. Es war Hauptmann Zacker. Da ich meinte, herzkrank zu sein, sagte ich ihm ohne Umschweife zu, zur NVA zu gehen. Denn mit meiner vermeintlichen Untauglichkeit konnte mir ja nix passieren, nicht wahr? So leichten Fang hatten sie wohl noch nie gehabt, da waren sie baff, die beiden, der Hauptmann Zacker und auch der Fritz Toll.“

Möchten Sie zu einer bestimmten Waffengattung?“ fragte mich der Hauptmann zuvorkommend.

Ja, ich gehe nur zur Armee, wenn ich nach Rostock zu den Panzern mit den zwei Kanonenrohren komme. Das waren aber keine Panzer im herkömmlichen Sinne, sondern panzerartige Selbstfahrlafetten der Flak mit zwei Geschützrohren, was ich aber erst später erfahren sollte. Diese Fahrzeuge kannte ich, denn sie fuhren sehr häufig des Nachts durch Barth. Weil die Gleisanlagen

der Darßbahn gut zehn Jahre zuvor demontiert worden waren, erfolgte der Militärtransport lediglich bis Barth, ab hier ging es dann auf der Straße weiter in Richtung Zingst und Sundische Wiese zum Übungsschießen. Die Kettenfahrzeuge machten nachts einen höllischen Lärm, denn die Straßen (Reifergang-Hafenstraße-Dorfstellenstraße) hatten durchweg das so genannte Pommersche Katzenkopfpflaster. Wie sich das dann, ganz besonders in der Nacht, anhört, kann sich jeder ausmalen. Da rasselten die Panzerfahrzeuge also stundenlang über das Barther Pflaster. Niemanden der dortigen Anwohner hielt es im Bett. Auch ich stand dann vor dem Haus und beobachtete diese gruseligen Vorgänge in der Dunkelheit. Darum wollte ich zu den Panzern mit den zwei Kanonen, wie ich scheinheilig zum Hauptmann sagte. Der Hauptmann versprach, mir diesen Wunsch zu erfüllen."

Nun wurde Fiete wieder von einem Arzt, dieses Mal in Stralsund, untersucht und… oh Schreck, er bekam die allerbeste Gesundheitsstufe bescheinigt. Da gab es kein Zurück mehr, er kam nach Rostock zu seinen Doppelkanonen-Panzern.

(Diese Panzer mit zwei Kanonenrohren, Kaliber 57 mm, ZSU-57-2, russisch ЗСУ-57-2, ZSU = Senitnaja Samochodnaja Ustanowka = Flugabwehr-Selbstfahrlafette, war ein Flakpanzer der sowjetischen Streitkräfte. Er wurde in den frühen 1950er-Jahren entwickelt und 1955 eingeführt. Das Fahrzeug basiert auf einem modifizierten T-54. Wie viele andere Flak-Geschütze auch wurde er oft und wirkungsvoll gegen Bodenziele eingesetzt.)

Und genau zu dieser Waffengattung in Rostock bin ich gekommen, in den Kasernen an der Kopernikusstraße. Hauptmann Zacker hat also Wort gehalten.“

Wie das kam, dass Fiete vorher nicht als Seepolizist angenommen wurde, vermutet er so: „Ich denke mal, man wollte mich, der erst vor wenigen Jahren aus der Bundesrepublik in die DDR kam, nicht an die innerdeutsche Grenze lassen. Man wollte mir das aber wohl nicht so direkt sagen und machte das Ding mit der erfundenen Herzfehlersache. Vielleicht war es aber auch nicht so, wer weiß das schon? Die Lust am Soldatenleben verging mir ohnehin sehr bald, das kann ich dir

flüstern! Anfangs, noch in der Zeit der Grundausbildung, hat es mir Spaß gemacht, habe mich für die Offiziers-Laufbahn beworben. Daraus wurde nichts, war bestimmt als ehemaliger Westdeutscher in politischer Hinsicht erneut nicht vertrauenswürdig genug.“

Fiete begann seine Armeezeit am 5.April 1961, machte dort zwei Jahre lang Dienst und durfte am 29. April 1963 das „Ehrenkleid“ wieder ablegen.

Siehst du, Jan, ich war bei den Soldaten, und nach so vielen Jahren Abstand zu jener Zeit sieht mancher Mist viel freundlicher und interessanter aus, als es wirklich war.“

Jan kann sich dazu nicht äußern, er war ja nie bei der Armee.

 

Fiete, der Artillerist
Als sie am nächsten Tag in Jan´s Garage sitzen, jeder seine Flasche Stralsunder Bier in
der Hand, da hakt Jan nach:
„Was haste denn nun so alles für tolle Sachen erlebt, bei deiner NVA?“
„Also, das war erstens nicht meine NVA, und zweitens musste überhaupt nicht so komisch daherreden. Ich habe gesagt, ich erzähle dir mal bei Gelegenheit, was sich schon kurz nach meiner Grundausbildung getan hat."

Fiete war nämlich lediglich auf Grund des Versprechens dieses Werbe-Offiziers Zacker der 16. Batterie zugeteilt worden. Er war sozusagen als ein überzähliges, um nicht zu sagen überflüssiges Anhängsel dieser Einheit in den Führungszug aufgenommen worden, ohne eine konkrete Aufgabe zu haben. Im Kasernenalltag ging er mit den anderen Kameraden zum täglichen Dienst, der meistens so aussah, dass die Männer die Fahrzeuge und Geschütze in Schuss zu halten hatten. Dazu ging es ohne Uniform, dafür im blauen Schlosser-Overall in den Fahrzeugpark. Exerzierausbildung auf dem Kasernenhof? Nicht die Bohne! Auch ansonsten war Fietes Soldatenalltag recht erträglich. Das Frühstück und das Abendbrot wurde auf der Stube eingenommen. Täglich war wechselnd ein anderer Kamerad von der Stube dafür zuständig, im Keller beim Fourier die Essenrationen für das Frühstück und Abendbrot, wie Brot, Butter, Wurst und Marmelade in Empfang zu nehmen.
„Weißt du, Jan, in dieser Truppe herrschte ein völlig normaler Tagesablauf und die Beziehungen der Soldaten unter- und zueinander, ja selbst zu den Vorgesetzten, waren wirklich kameradschaftlich. Ich war gemeinsam mit einem anderen Soldaten aus der Ausbildungskompanie zur 16. Batterie gekommen. Der stammte aus Berlin. Wir beide wurden vom ersten Tage an sofort als gleichwertig in der Gruppe behandelt. Wobei, das gebe ich zu, anfangs spürten wir aber doch, dass man uns als die Neuen nicht so ganz und gar für voll nahm. Aber alles verlief freundschaftlich.
Im Kasernenblock nebenan war ein mot.-Schützen-Bataillon (motorisierte Schützen) untergebracht. Das waren die von uns Artilleristen abfällig Sandlatscher genannten Infanteristen. Von den dortigen Fluren hörten wir das ständige Gebrülle der Unteroffizier und der anderen Vorgesetzten. Die armen Jungs mussten stets im Laufschritt die Treppen runter, vor der Kaserne antreten und dann raus in den Barnstorfer Wald oder nach Vorweden zur Ausbildung marschieren. Als schrecklich habe ich das immer empfunden, und mir gesagt, was für einen Dusel habe ich doch mit der 16. Batterie gehabt. Doch das sollte sich nach wenigen Monaten auch für mich grundlegend ändern. Aber das ist dann schon wieder die nächste Geschichte, Jan, in der dieser Pomaden-Theo eine Hauptrolle spielen wird.“
Zunächst durfte Fiete aber noch sein relativ angenehmes Kasernenleben genießen. Selbst die einfachen Soldaten, bei der Artillerie heißen sie Kanonier, duzten sich mit den Zugführern und Geschützfahrern, die den Dienstgrad als Unteroffizier, Unterwacht-, Wacht- oder Oberwachtmeister hatten. Wachtmeister sind bei dieser Waffengattung die Feldwebel. Lediglich der Spieß, hier Hauptwachtmeister genannt, und natürlich die Offiziere hielten Distanz zu den

Mannschaftsdienstgraden. Doch auch sie wurden niemals laut, immer wahrten sie den menschlichen Anstand zu den Untergebenen.
„Da ich ja ein Überzähliger in der Truppe war, wussten die Vorgesetzten nicht so recht, was mit mir anzufangen sei. So war ich wohl der Einzigste des ganzen Regiments, der keine Waffe trug. Die Kameraden der Batterie trugen alle eine Pistole Makarow, Kaliber neun Millimeter. Ich nicht. Mir übergab dafür der Spieß, übrigens ein sehr eigenartiger Typ, der den Mund selten aufmachte, gelegentlich seine Pistole zum Reinigen. Das war mein Dienst an der Waffe, Jan."

Ab und zu fuhr die Truppe auch mal raus nach Vorweden zur Ausbildung. Dort stand ein großes Bauerngehöft mit Scheunen und Ställen eines bis vor Kurzem noch privaten Bauern. Die SED feierte ja inzwischen die vollgenossenschaftliche Landwirtschaft in der DDR. Hier wurden dann die Aufstellung der Geschütze, das waren zwei Fla-SFL und ein SPW (Schützenpanzerwagen) mit Vierlings-Flak, Kalber 14,5 Millimeter, geübt. Mir drückte ein Kamerad, Stabsgefreiter Klemt aus Jüterbog, das E-Messgerät in die Hand um die Messung der Entfernung, der Flughöhe und der Geschwindigkeit eines sich nähernden Flugzeugs zu registrieren und zu melden. Da mir niemand erklärt hatte, was das Ding überhaupt sein soll, wie es funktioniert und wo und wie ich Messdaten erkennen und ablesen muss, habe ich mich wohl saudämlich angestellt. Und damit hatte sich meine militärische Eignung für die Luftabwehr erst einmal erledigt."

Aber so einfach geht das natürlich auch nicht, selbst beim Militär nicht. Ein jeder Soldat muss seiner Bestimmung gerecht werden können. Also hat sich der Batteriechef gedacht, dann schick den Neuen eben zur Fahrschule. Eine Waffe hat er nicht, die braucht er dort auch nicht und für den Soldatendienst scheint er ohnehin völlig fehl am Platze zu sein. Da der Gefreite Hirschke im Sommer die Einheit vorzeitig verlassen sollte, um ein Studium als Veterinärmediziner aufzunehmen, kommandierte Batterie-Chef Hofft Fiete zur Fahrschule ab.
„Also jetzt Fahrschule, Jan. Führerschein für LKW, SPW und Motorrad. Das gefiel mir. Das Motorrad war eine M-75, das heißt ein Motorrad der Marke Molotow, mit Seitenwagen, Rückwärtsgang und 750 ccm³ Hubraum. Ein unverwüstliches Ding, kann ich dir sagen. Die war schon im Zweiten Weltkrieg vor Stalingrad bei der Roten Armee im Einsatz!"
Der Unterricht in der Fahrschule begann täglich um acht Uhr, um 16 Uhr war Schluss. Das sollte ein sechs Wochen dauernder Lehrgang werden. Die 16. Batterie war inzwischen ohne den Fahrschüler Fiete mit zwei Panzerabwehr-Batterien aus dem gleichen Kasernenblock zum Artillerieschießen nach Sundische Wiese auf der Halbinsel Zingst ausgerückt. Fiete blieb allein zurück, der Fahrschule wegen.
„Mann, war das eine tolle Zeit für mich. Ganz allein im ganzen Block, mit Ausweis und Ausgangskarte ausgestattet, was wollte ich mehr!? Das habe ich genutzt für mehrere Heimfahrten nach Barth, natürlich in Zivilklamotten, aber ohne Urlaubsschein. War zwar nicht erlaubt, ist aber immer gutgegangen. Am nächsten Morgen war ich immer wieder pünktlich zum Fahrschulunterricht zur Stelle."
„Fiete, du hast also sämtliche Führerscheinklassen gemacht, ohne einen Pfennig dazu bezahlt zu haben?"
„Nein, leider nicht. Es kam etwas Schlimmes dazwischen. Ich bin ohne Führerschein geblieben."
„Nanu, was war denn los?"
„Die Mauer, Jan, die Mauer hat mir da einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht."
"Die Mauer? Bist du da bei deinen Fahrschulstunden etwa gegen eine Hauswand gedonnert?“

Nein, ich meine die Berliner Mauer, Jan. Auch wenn es die im Juli 1961 noch nicht gab und noch kein Aas, außer Politbüro und Stasi vielleicht, etwas davon ahnten. Aber das ist dann schon wieder eine andere Geschichte, von der ich dir auch noch erzählen werde. Zunächst aber noch zurück zur Fahrschule. Gefahren habe ich den damals typischen Militärlastkraftwagen G5, den mittleren LKW Granit, den SPW und das schwere Motorrad M-75. Aber dann tauchte urplötzlich der Hauptmann von der Pak-Batterie auf. Ich dachte, der ist in Sundische Wiese und ballert mit seinen Kanonen große Löcher in die Wolken über Zingst. Die Fahrschule sei abgebrochen worden, eröffnete mir der Hauptmann, ich solle meinen Seesack packen. Am nächsten Morgen müsse ich zur Einheit nach Sundische Wiese nachreisen."
Und so kam es dann auch. Fahrschule ade, stattdessen zum Dienst Richtung Halbinsel Zingst. Bei der Abfahrt sah Fiete, dass er nicht so alleine, wie er annahm, im Block gewesen ist. Noch zwei weitere Pechvögel mussten mit auf die Reise. Der Hauptmann entpuppte sich als umgänglicher Mensch, war halt altgedienter Artillerist.
„Wir fuhren mit einem vollgepacktem LKW los. Ich sagte dem Hauptmann, wenn wir durch Barth kommen, und eine bestimmte Straße nähmen, kämen wir an meinem Elternhaus vorbei. Ob er da nicht anhalten lassen könne? Ich wolle da nur noch ganz kurz die Eltern und Geschwister aufsuchen. Er hat mir das versprochen und so hielt der Militär-LKW tatsächlich vor meinem Elternhaus. Ich runter von der Pritsche und rein ins Haus. Aus dem kurzen Moment, den ich ausgehandelt hatte, wurde dann fast eine Stunde. Vater war bereits ganz nervös geworden. Den Offizier könne ich doch nicht so lange warten lassen. Er meinte, nimm doch für den Offizier eine Flasche Wein mit. Vater hatte jedes Jahr selbst gezogenen Reiswein abgefüllt. Zwei Pullen nahm ich mit, eine für den wartenden Hauptmann, die andere für die Soldaten auf der LKW-Pritsche, denn die hatten ja auch so lange ausharren müssen.
Der Hauptmann saß treu und brav beim Kraftfahrer in der Kabine und wartete auf die Rückkehr des kleinen Kanoniers Fiete! Ohne ein Wort des Unwillens von ihm zu vernehmen ging es dann weiter zum Schießplatz Sundische Wiese."

Nicht an jedem Tag war Schießbetrieb angesagt. Dann vertrieb man sich halt auf andere Art und Weise die Zeit. Hin und wieder fuhr der kleine LKW nach Barth um dort beim Kaufmann Bölkow etliche Kisten Bier zu holen.

Bei Bölkow bekamen wir nämlich nicht das übliche Stralsunder Hellbier, sondern Berliner Engelhardt-Bier.

Außer Schießen auf Luftziele und diesen Versorgungsfahrten nach Barth bekamen wir noch eine weitere nützliche Beschäftigung. Einige Male ging es zum Ernteeinsatz nach Groß-Kordshagen zur dortigen LPG. Hier mussten, glaube ich, Rüben verzogen werden, was für uns eine willkommene Abwechslung darstellte. Außer Rüben gediehen dort ja auch noch einige attraktive junge Dorfbewohnerinnen.

Auf der Fahrt zu einem dieser Einsätze geschah dann eines Vormittags aber etwas ganz Schlimmes. Mit zwei Fahrzeugen, dem bereits erwähnten Granit sowie unserem G5, ging es von Sundische Wiese aus nach Barth, dort an der Bachmann-Siedlung vorbei den Sundischen Berg hinauf. Oben, kurz nach der Steigung, querte eine Schmalspurbahn in einer sehr engen Doppelkurve die Landstraße. Der G 5 war wohl für diese enge Doppelkurve etwas zu schnell unterwegs, demzufolge kam er ins Schleudern und prallte mit dem hinteren Teil der Pritsche gegen einen Straßenbaum. Ein Unteroffizier, zu Hause in Marlow, schlug mit dem Hinterkopf gegen eine Schraube des Spriegelgestells und zog sich dadurch eine arge Verletzung zu. Hinter dem Unglücksfahrzeug fuhr ein Framo, der im Auftrag der VdgB auf den Dörfern regelmäßig Eier aufkaufte. Der Fahrer war in Barth allgemein als Eier-Ede bekannt, was er aber absolut nicht leiden mochte. Er hielt an, die Kameraden warfen die Eierkisten vom Framo herunter und legten den sehr stark blutenden Unteroffizier auf die Pritsche und brachten ihn nach Barth in das dortige Krankenhaus am Schilfgraben. Zu spät, der Arzt musste den Kameraden sagen, dass der Unteroffizier tot sei.

Infolge dieses Unfalls erging in der NVA der Befehl, alle auf einer Pritsche sitzenden Personen haben während der Fahrt den Stahlhelm zu tragen.

An diesem Tag war die Stimmung in der Truppe logischerweise am Boden. Der tote Kamerad war einer der beliebtesten in der Batterie, ein lebensfroher Mensch. Er bekam auf dem Friedhof in Marlow eine Beisetzung mit so genannten militärischen Ehren.

Schon sein Bruder hatte im Dienst in der NVA sein Leben verloren.

 

Die Mauer

"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten". Es begann mit einer Lüge. Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzender des Staatsrats

der DDR, Walter Ulbricht, versicherte am 15. Juni 1961, es werde keine Mauer gebaut. Und doch sollte ein solches Bauwerk fast 30 Jahre lang Deutschland trennen.

Was damals im Sommer des Jahres 1961 niemandem im Regiment an der Kopernikusstraße als etwas Ungewöhnliches aufgestoßen ist, war zunächst einmal, dass zum Beispiel Lehrgänge, wie die Fahrschulausbildung zum Militärkraftfahrer so Knall auf Fall beendet wurden. Noch eigenartiger, aber ebenfalls nicht weiter beachtet, war das abrupte Ende des Artillerieschießens in Sundische Wiese auf dem Zingst, das wie aus heiterem Himmel kam. Dort hatten in endloser Aufstellung in den Dünen zwischen Sundische Wiese und Pramort zur Ostsee hin die Artillerie-Einheiten der Division Stellung bezogen. Das Flugzeug mit dem Luftsack im Schlepp hatte tagelang beste Flugbedingungen. Der Luftsack hatte zum Flugzeug einen Abstand von 1.000 Metern, wenn ein sowjetisches Flugzeug schleppte, waren es nur 800 Meter. Der Luftsack diente den in den Dünen lauernden Kanonen als Ziel, das es zu treffen galt. Geschossen wurde natürlich mit scharfer Munition.

Ein Student, der 1963 als Reservist zu Schießübungen mit der 57 mm Flak auf dem Schießplatz in Sundische Wiese war, beschreibt eine dramatische Situation bei einem solchen Schießen. „Die Zieldarstellung mit Luftsack flog immer ein Bomber IL 28. Im August 1963 wäre dieses Flugzeug fast abgeschossen worden, da war ich Augenzeuge. Eine Zwillings-SFL, ebenfalls 57 mm, der Offiziersschule Kamenz hatte beim Übungsanrichten auf den Bomber, an diesem Tag ohne Luftsack, noch zwei scharfe Granatpatronen im Lauf. Ursache: natürlich Schlamperei, die SFL wurde von mehreren Besatzungen genutzt. Unsere Batterie stand dicht neben diesen beinahe "Unglücksraben". Wir hatten deutlich gesehen, dass beide Leuchtspuren sehr knapp über dem Flugzeug lagen. Auf Grund dieses Vorfalls wurden dann wochenlang keine Zieldarstellungen geflogen.“

Da hatte die Besatzung des Bombers aber sicherlich anschließend Schweißperlen auf der Stirn und eine Goldleiste in der Unterhose. Schießübungen in solcher Dimension, mit der großen Anzahl von Geschützen und Kanonen, erfordern einen ziemlichen Aufwand an Planung, Organisation und Durchführung. Und diese Übung wurde nun plötzlich abgebrochen. Wie man heute weiß, waren selbst alle damals beteiligten höheren Kommandeure völlig überrascht, niemand hatte im Vorfeld davon gehört oder geahnt, dass eine besondere Situation bevorstünde.
„Der Rücktransport verlief, selbst für einen jungen und unerfahrenen Soldaten wie mich, unprofessionell“, schildert Fiete seine Erlebnisse von damals. „Es schien hier und da zu haken. So fuhr der Treck nicht gleich von Sundische Wiese aus durchgehend nach Barth zum Bahnhof, um dort auf die Schiene verladen zu werden. Wir biwakierten zunächst im Wald bei Barth-Holz, einem früheren Bereitschaftslager der Pommerschen Industriewerke PIW, in Zelten, um dann später zum Verladebahnhof Barth zu fahren.
Zurück in Rostock, erlebten wir Soldaten jetzt Tage mit recht ungewöhnlichen Aktivitäten im Regiment. Es tauchten, was sonst eigentlich nie vorkam, bunt wie Papageien gekleidete Generäle im Regiment auf. Sie ließen die Bataillone auf dem Exerzierplatz ihre Ausrüstung, wie Sturmgepäck oder Seesack, dort ausbreiten. Alles wurde gründlich in Augenschein genommen. Am nächsten bzw. übernächsten Tag dann wurde die Inspektion genannte Überprüfung der persönlichen Ausrüstungen wiederholt. Das ging natürlich zu Lasten der regulären täglichen Ausbildungspläne in den Einheiten. Von dem sonstigen stundenlangen, sinnlosen Gebrülle auf dem Exerzierplatz war zwei, drei Tage lang nichts zu hören. Die Mannschaften hat´s gefreut.
Selbst dann, als in unserer Batterie eines Abends die Waffenkammer geräumt wurde, und jeder zur Nachtruhe seine Waffe mit ans Bett nehmen musste, hat sich keiner irgendwelche Gedanken gemacht. Ich war bis dahin immer noch ein waffenloses Mitglied der Truppe. Zwei Tage später bekam ich eine Maschinenpistole "Kalaschnikow" verpasst.
Wir, das heißt das Regiment, fuhren am 12. August, es war ein Sonnabend, mit sämtlichen Fahrzeugen nach Groß-Schwaß um dort auf die bereit stehenden Waggons verladen zu werden. Zuvor jedoch wurden alle Bunker des Munitionslagers im Barnstorfer Wald ausgeräumt und sämtliche Munition per LKW ebenfalls nach Groß-Schwaß transportiert. Hier kam es zu einem

Zwischenfall, der vielleicht schlimme Folgen hätte haben können. Es trug sich Folgendes zu: Der inzwischen beladene Militärzug stand noch ohne Lok auf dem Verladegleis an der Rampe. Die Munition befand sich schon in den Waggons. Bei den mit den Munitionskisten beladenen Waggons standen die Türen noch offen. Als nun ein Personenzug in den Bahnhof einfuhr, wurde just in diesem Augenblick eine Lok an unseren Militärzug angekoppelt. Und zwar mit einem ziemlich heftigen Stoß. Dadurch kippten in mehreren Waggons einige Kistenstapel um. Bei einer Kiste sprang der Deckel entzwei und Panzergranaten fielen heraus, zum Teil auf den Bahnsteig. Die Leute in dem Reisezug, der gerade eingefahren war, guckten natürlich interessiert auf unseren Transport mit den vielen Soldaten, Fahrzeugen und Panzern herüber. Als aber die Panzergranaten auf den Bahnsteig kullerten, da sah man aber doch erschrockene Gesichter, und etliche sprangen von den Fenstern zurück. Es war aber ein Zwischenfall ohne weitere Folgen. Die Granaten wurden eingesammelt, die Kiste wieder zugenagelt, und die Sache war erledigt.
Inzwischen war es Mittag geworden. Unser Zug setzte sich in Bewegung. Und als er am späteren Nachmittag irgendwo sein Ziel erreicht hatte, wurden die Einheiten in einen Wald verlegt. Wo kampiert wurde, das weiß ich nicht, aber es könnte in der Nähe von Magdeburg gewesen sein.

Nach der Ausgabe der Essenrationen am Abend nahmen wir unsere Zeltbahnen aus dem Seesack und jeder einzelne Soldat baute sich sein eigenes Zelt für die Nacht auf. Da bereits sagte der Batteriechef, wir sollten uns nicht zu häuslich einrichten, es ginge noch vor Mitternacht weiter.
Und so kam es folglich auch dazu, dass es kurz vor 24 Uhr den im Voraus angekündigten Alarmruf gab. Hastig wurde alles Gelumpe zusammengepackt und auf die Fahrzeuge geworfen. Viel zu packen gab es nicht, denn die Warnung, es ginge noch in der Nacht weiter, hatten wir ernst genommen und nur die notwendigsten Dinge ausgepackt.
Weiter ging es mitten in der Dunkelheit per Achse auf Landstraßen. Niemand wusste, wohin es gehen sollte. Auch die Vorgesetzten waren ratlos. Nach etwa vierzig Minuten, mitten auf der Landstraße, weitab von jeglicher Ortschaft, dann das Kommando vom Führungsfahrzeug: „Halt! Die Kommandeure zum Kommandeur" (das ist gängiges Kommiss-Sprech).
Allzu lange währte die Instruktion für die "Kommandeure zum Kommandeur" nicht. Bald tauchten sie wieder aus der Dunkelheit auf und informierten ihre Mannschaften.
Das habe ich bis heute noch im Gedächtnis, was der Batteriechef uns da offenbarte fuhr allen mächtig in die Glieder. In Berlin ist die Grenze dichtgemacht worden, sagte er. Wir fahren jetzt nach Berlin um diese Maßnahme von Staat und Partei militärisch abzusichern. Berlin war für mich stets eine Stadt weit weg und vollkommen unwichtig. Auch die Grenze dort war mir bislang relativ schnuppe gewesen. Denn wer von Ostberlin nach Westberlin gehen wollte, konnte das doch tun, wann immer er wollte. Was sollte sich da so groß ändern? Die Menschen in der DDR haben wohl mehrheitlich auch so gedacht und vermutet, dass das, was sich nun am 13. August 1961 vollzog, wird eine zeitlich begrenzte Maßnahme des Staates sein, die in wenigen Wochen wieder vergessen sein wird. Dass diese "Maßnahme" vielen Menschen das Leben kosten wird und 28 Jahre lang Bestandteil des Lebens im real existierenden DDR-Staat werden sollte, das konnte von niemandem für möglich gehalten werden.

Irgendwo, der kleine Soldat weiß in solcher Situation ja nie, wo er sich gerade befindet, wurde der gesamte Tross wieder auf die Schiene verladen, und weiter ging es in Richtung Berlin. Wir hatten in diesen Stunden der restlichen Nacht alle ganz einfach nur Angst. Denn urplötzlich tauchten seltsame Gerüchte von Straßenkämpfen in Berlin auf, dass dort bereits geschossen wird und dass ein Krieg mit dem Ami bevorstünde.

Was hat man mit uns vor, war die bange Frage, werden nun Waffen und Munition an uns ausgegeben? Müssen wir bei der Ankunft in Berlin in die Kämpfe eingreifen? Auf alle solche Ängste konnte kein Vorgesetzter Antworten geben. Waren sie doch selbst in Sorge durch die politischen und militärischen Vorgänge in Berlin, und auch sie waren bislang ohne entsprechende Instruktionen geblieben. In dieser Verfassung kamen wir am 13. August 1961 gegen zehn Uhr in banger Erwartung am Bahnhof „Berlin-Zentralviehhof“ an. Heute ist das der S-Bahnhof Storkower Straße.
Und, mussten wir gleich in die Kämpfe eingreifen? Es wurde nicht gleich, und zum Glück auch

später nicht, gekämpft. Dieser 13. August 1961 empfing uns mit dem schönsten Sommerwetter. Weniger schön dagegen war der Empfang, den etliche Berliner den Soldaten bereiteten. Am Bahnhof Zentralviehhof hatten sich viele Schaulustige eingefunden, denn für die NVA mit ihren Geschützen und Panzern war bis dato auf Grund des Vier-Mächte-Status für Ostberlin tabu gewesen. Die meisten Berliner verhielten sich freundlich uns gegenüber, andere wiederum drohten mit Fäusten, riefen unflätiges Zeugs in unsere Richtung und vereinzelt flogen auch Steine.
Ich habe das so in der Erinnerung behalten, dass es eigentlich aber doch kein feindseliges Verhalten der meist jugendlichen Berliner war. Wir kleinen Soldaten wurden ja vorher nicht befragt, ob wir das gutheißen und ob wir bereit seien, dort an der Grenzschließung teilnehmen zu wollen. Du kriegst die Order und darfst nicht aufmucken. Deine Meinung zählt nicht, sie interessiert überhaupt niemanden da oben. Du bist ein klitzekleines Rädchen im großen Getriebe und hast zu funktionieren. Auch in der sogenannten Armee des Volkes im sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat war das nicht anders.
Sind wir denn nun gleich an die Mauer gefahren um sie vor den „kriegslüsternen imperialistischen Mächten“ zu schützen? Oder wie lief das dort ab? Von einer Mauer war ja noch gar keine Rede. Zunächst einmal durften wir schöne Bilder erleben. Wir erlebten die freundlichsten Berliner Einwohner, die uns, die Soldaten der NVA, wie Befreier bejubelten. Wir wurden durch die Stalinallee (heute kennt man diesen Namen kaum noch) kutschiert. Eine imponierende Kulisse war das. In den allermeisten Fenstern hingen die Bewohner, hatten alles mit Fahnen geschmückt und winkten uns mit Blumensträußen zu. Wirklich sehr beeindruckende Momente waren das. Man könnte nun meinen, das waren bestimmt alles bestellte Parteimitglieder oder Stasileute. Doch das glaube ich nicht. Die hatten doch damals auch noch keinen blassen Schimmer, was sich da in den nächsten Monaten und Jahren daraus entwickeln sollte. Aber sie werden ganz bestimmt geflucht haben, nachdem wir mit unseren Fahrzeugen da durchgerasselt waren und den Straßenbelag der schönen Stalinallee mit den Panzerketten ramponiert hatten.
Für diese Operation Berliner Mauerbau kamen die NVA-Regimenter aus Rostock und Prora zum Einsatz. Die Rote Armee, die ohnehin in und rund um Berlin stationiert war, hatte mit Bestimmtheit ihre dortigen Truppen noch um einiges verstärkt.
Das Regiment MSR 28 aus Rostock nahm Quartier in der Buchholzer Straße in Lichtenberg. Das war ein eigens zu diesem Zweck geräumtes Objekt der Bereitschaftspolizei. Hier lebten die Soldaten relativ gut. Es gab doppelte Butter-, Wurst- und Fleischportionen, täglich wurden sechs Zigaretten kostenlos an jeden Soldaten ausgegeben und sie durften sich über eine kleine Tafel Schokolade freuen.

Mein Dienst bestand darin, auf einem hohen Turm mit Flachdach zu sitzen, mit dem Feldstecher den Luftraum zu beobachten, Flugobjekte zu orten. Per Feldtelefon hatte ich den Flugzeugtyp, die Nationalität, die Flughöhe, Flugrichtung sowie Anflug- oder Landeabsicht an den Regimentsstab zu melden. Das war mein Anteil an dem „antifaschistischen und antimilitaristischen Kampf“ der DDR im Berlin jener Tage. Bin ich dem „Feind“ denn nicht auch wenigstens ein einziges Mal begegnet?
Doch, bin ich. Aber diese Leute konnte ich ganz einfach nicht als meine Feinde oder Gegner in irgendwelcher Weise erkennen. So musste unsere Batterie eines Tages eine Postenkette stellen, weil der sowjetische Kosmonaut, es war wohl German Titow, Berlin besuchte. An der Besuchsstrecke mussten wir uns aufstellen. Viele Menschen standen dort und winkten ihm zu. Mir war eine Stelle an der Warschauer Brücke zugewiesen worden. Ich glaube, dort verlief bald danach der absolute Todesstreifen. Zu jenem Zeitpunkt allerdings war von einem Grenzregime noch nicht viel zu sehen. Da verlief eine Straßenbahnlinie unter der Brücke hindurch. Links der Gleise war Ost, rechts war West, und mitten auf der Straße hatte man in kürzeren Abständen etwa einen Meter hohe Stahlpfosten, Pollern ähnlich, eingelassen. Das war´s aber auch schon mit der ganzen Grenzanlage.

Als der Titow durchgefahren war, sind wir anschließend mit dem LKW wieder nach Lichtenberg zurück transportiert worden. Was ich da während der Fahrt gesehen habe, das machte auf mich

einen richtig befremdlichen Eindruck. Wir sind, ganz unvorbereitet für mich, direkt an einem Stück der noch ganz jungen und auch optisch wirklich unsäglich hässlich wirkenden Grenzmauer entlang gefahren. An einer Straße nach Westberlin rüber hatte die Mauer eine etwa fünfzig Metzer breite Unterbrechung. Da war in Richtung West führend eine Brücke, an welcher Posten in mir fremden Uniformen standen. Das waren Menschen, die ich laut Politunterricht (kennt eigentlich jemand den Begriff Rotlichtbestrahlung noch?) zu hassen hatte, weil sie die Feinde meines Staates seien. Ein Argument, dem ich keine Sympathie abgewinnen konnte. Ansonsten hat mir die Berliner Mauerzeit nichts Aufregendes gebracht.
Da fällt mir aber doch noch eine andere Sache von damals ein, bei welcher ich um ein Haar eingebuchtet worden wäre. Unsere Batterie war dran, die 24-Stundenwache für das Objekt zu übernehmen. Ich Glückspilz war nicht für den Wachdienst eingeteilt worden. Was macht ein Jungspund in solcher Situation? Klar, Dummheiten macht er. Als meine Kameraden zum Wachlokal gegangen waren, hatte ich die ungeniale Idee, im Trainingsanzug übern Zaun zu steigen. Der war ja mit seiner Höhe von einem guten Meter kein Problem. Dabei hatte ich kalkuliert, wenn mich ein Posten aus der eigenen Einheit sieht, könne ich mit ihm reden, dass er mich auch über den zweiten Zaun rüber lässt. Es kam aber kein Kamerad daher, sondern der Wachhabende Offizier, unser 1. TO, der Unterleutnant. Und zwar mit gezogener Pistole hatte er mich aufgestöbert und festgenommen. Mit der Ausrede, ich sei ganz zufällig hier zwischen den beiden Zäunen unterwegs kam ich bei ihm nicht durch. Ansonsten ein ruhiger und umgänglicher Vorgesetzter war er in dieser Situation stur wie sonst was. Er herrschte mich barsch an und ließ sich mit keinem Wort auf ein Gespräch ein. Aus heutiger Sicht könnte ich für ein solches Verhalten eines Wachhabenden Offiziers fast Verständnis aufbringen. Damals aber war ich ziemlich grantig über seine vermeintliche Uneinsichtigkeit. Auch mein Angebot, ihm eine Schachtel Zigaretten zu überlassen, fruchtete nicht.
Na ja, jedenfalls führte er mich wie einen Schwerverbrecher ab, immer hinter mir gehend und die Pistole auf mich gerichtet. War ich nun ein Opfer des SED-Unrechte und des Stasi-Terrors geworden, wie mir später einmal jemand einreden wollte? Natürlich nicht, ein Hugo Leichtsinn war ich! Hätte sich aber die Gelegenheit geboten, nach „drüben“ zu kommen, ich hätte sie garantiert wahrgenommen. Da die Mauer erst noch im Entstehen war, gab es Schlupflöcher zu diesem Zeitpunkt wohl noch. Das mit dem Abhauen war schon hin und wieder ein Gedanke bei mir. Aber ich kannte mich in Berlin nicht aus. Zwar wusste ich durch meinen Dienst als Luftraumbeobachter in welche Richtung ich mich zu wenden hätte, doch das reichte nicht.
Der Offizier brachte mich zum Wachlokal beim Regimentsstab und machte dem Major dort Meldung. Seine Schuldigkeit hatte er damit getan und zog wieder ab. Ich wurde eine Zeitlang vom Major und einem andern Offizier, der hinzugerufen wurde, verhört. Der andere Offizier hatte den Dienstgrad eines Leutnants und war wohl einer von der Stasi. Das Verhör verlief meinem

Empfinden nach recht harmlos. Die beiden Offiziere blieben höflich, sprachen in ruhigem Ton und ließen mich ausreden. Es dauerte auch nur anderthalb Stunden, und ich durfte gehen. Aber nicht in meine Unterkunft, sondern in ein kleines Zimmerchen mit vergittertem Fenster.
Am anderen Tag dann holte mich mein Verhafter, dieser Unterleutnant aus der eigenen Einheit, aus der Zelle ab und brachte mich zurück zur Batterie. Kein Wort zu dem Vorgefallenen bekam ich von ihm zu hören, meine Kameraden hatten auch noch nichts davon mitbekommen und ich hielt schuldbewusst die Klappe.

Da hatte ich also doch noch ein aufregendes Erlebnis bei meiner ersten Begegnung mit der großen Stadt Berlin und der hässlichen Mauer, die angeblich niemand errichten wollte.

Ich wurde nach Jahren einmal befragt, ob diese Sache für mich keine Konsequenzen gehabt hätte, wegen versuchter Fahnenflucht oder dergleichen, das hätte man mir doch nicht so einfach durchgehen lassen?
Ich meine, die Grenzschließung und der Mauerbau, das war eine recht vermaledeite Zeit für die Vorgesetzten. Da waren die Offiziere durch dieses Tohuwabohu um einen möglichen Berlin-Krieg derart verunsichert, dass sie viele Vorkommnisse unter den Tisch fallen ließen, die zu anderen

Zeiten mit viel Getöse hochgespielt worden wären. Das hatte ich schon bei besagtem Verhör gespürt. Es gab noch keine Wehrpflicht und auch keinen Militärstaatsanwalt in der DDR. Hätte damals unter diesem Aspekt vor einem zivilen Gericht überhaupt über Fahnenflucht verhandelt werden können? Ich hatte also ganz schlicht Schwein gehabt.

Unser Einsatz dauerte etwa sechs Wochen. Dann ging es wieder zurück nach Rostock."

 

Pomaden-Theo ist wieder da

Nachdem ich also im April, wie von Hauptmann Zacker zugesagt, nach Rostock zu meinen Doppelkanonen-Panzern zur Flak kam und ich den Einsatz während des Mauerbaus schadlos überstanden hatte, kam es für mich nun richtig knüppeldicke. Wie schon gesagt, fühlte ich mich in der Flak-Batterie ganz gut aufgehoben. Leider nahm dieses alles in allem doch recht passable Soldatendasein unverhofft ein Ende. Im Oktober des Jahres 1961, nach dem Einsatz des Regimentes in Berlin wurden Strukturen in der NVA neu geordnet. So auch im MSR28 IN Rostock. Unsere Batterie wurde aufgelöst.

Das war für mich ein tatsächlicher Schock, Jan. Die Kameraden unserer Batterie wurden anderen Einheiten zugeordnet, wobei etliche sogar in andere Standorte verlegt wurden. Wer in Rostock blieb, hatte da ja noch etwas Glück. Pech hatten diejenigen, die nach Prora, Eggesin oder Drögeheide gehen mussten. Die kamen ja von einer Garnison mitten in einer Großstadt und fanden sich am Arsch der Welt bzw. mitten in einer Wald- und Sandwüste wieder. Aber hatte ich tatsächlich Glück mit meinem Verbleib in Rostock? Nein, hatte ich nicht. Ich kam in ein Bataillon der sogenannten motorisierten Schützen, vornehme Umschreibung für Infanterie, auch als Sandlatscher geschmäht. Aus mir wurde nun aus einem stolzen Artilleristen ein Sandlatscher! Nicht mehr Kanonier Fiete, sondern jetzt Soldat Fiete. Das war schon schlimm, Jan.“
Bei dem jetzigen Vorgesetzten handelte es sich nun nicht mehr um einen Batteriechef, sondern der nannte sich Kompaniechef. Und wer war das? Es war, wie der Deibel das so will, der Pomaden-Theo aus der Stadt mit den kleinen romantischen Gassen. Jetzt ein kleiner Leutnant und ein großer Schinder, wie sich bald herausstellen sollte.

Als die Soldaten im Oktober 1961 auf dem Exerzierplatz zur Bildung der Kompanie im neuen Bataillon an Kompaniechef Theo Knopfe übergeben wurden, verneigte sich Knopfe höhnisch vor dem Stabs-Chef des Regiments und lästerte: „Vielen Dank auch für die tolle Kaderpolitik!“ Man hatte ihm nämlich so manches Kuckucksei untergeschoben, in der Meinung, Knopfe, dieser Haudegen, packt das schon!
Nachdem er einmal in einem Rostocker Kino einigen ebenfalls dort anwesenden Soldaten seiner Kompanie gegenüber ihrer sozialen Herkunft wegen abschätzige Bemerkungen machte und diese sich unter Wortführung des Stabsgefreiten Liertmann
daraufhin beschwerten, befasste sich notgedrungen ein Staatsanwalt (damals noch ein ziviler Jurist) mit dieser Angelegenheit. Noch weitere Entgleisungen, die Theo sich geleistet hatte, kamen dabei zur Sprache.

Hier wurde es für ihn doch etwas brenzlig. Die Sache wurde zwar vom Staatsanwalt vor dem „Soldatenkollektiv“ ausgewertet, aber wie nicht anders zu erwarten, er wurde rehabilitiert. Trotzdem konnte er sich´s nicht verkneifen, hinterher die Bemerkung zu machen „ich lasse mir von euch Arbeiter-und Bauern-Söhnen doch nicht meine Karriere versauen."

Er wollte schließlich, wie eingangs schon erwähnt, General werden. Diesem großen Ziel, das er letztlich auch erreichte, hatte sich alles unterzuordnen. Auch menschenverachtendem, vielleicht sogar faschistischem, Gedankengut war er offensichtlich nicht ganz abhold. Er vertrat die Ansicht, „wenn meine Stimme morgens auf dem Flur ertönt, müssen die Soldaten vor lauter Angst aus den Fenstern springen“. Oder: „Früher ritt der Kompaniechef auf dem Pferd neben den Soldaten her, mit der Reitpeitsche in der Hand“. Oder, als er während eines Manövers bei Probst Jesar Soldaten seiner Kompanie bei einem geringfügigen Dienstvergehen erwischte, drohte er „am liebsten würde ich euch auf der Stelle erschießen. Vorher müsstet ihr aber euer Grab schaufeln, damit ich nur noch ein Birkenkreuz daraufstellen muss“.

Auch die Dienstvorschriften der faschistischen deutschen Wehrmacht waren für ihn erklärtes Vorbild. Doch der Staatsanwalt sah darin keine Notwendigkeit für disziplinarische Sanktionen.
Wenn es zu seinem Vorteil geboten schien, konnte Theo Knopfe allerdings auch zurückhaltender sein. Einem Gefreiten hat er einmal auf der Soldatenstube einen Faustschlag in das Gesicht verpasst. Der Hieb war so heftig, dass der Gefreite über den Tisch flog. Der Gefreite machte aber keinen Gebrauch von der Beschwerdemöglichkeit gegen seinen Kompaniechef. Er hatte nämlich ein Messer gezückt und bedrohte damit Theo. Dessen Reaktion war besagter Hieb mit der Faust. Aber auch für ihn war die Angelegenheit mit dem Faustschlag erledigt. Er hätte in irgendeiner Form gegen den Gefreiten vorgehen können. Schließlich ist so ein Angriff mit einem Messer auf einen militärischen Vorgesetzten kein Kavaliersdelikt. Er aber wollte unbedingt vermeiden, dass er mit einem derart schwerwiegenden Disziplinverstoß in seiner Musterkompanie in Verbindung gebracht würde. Es wäre seinem Karrierestreben vermutlich hinderlich gewesen.

Ein inzwischen schon wehrpflichtiger Soldat, Kompanieschreiber, auch Spießschreiber genannt, trug ihm zu, dass ich Theo ein Gesinnungsschwein genannt habe. Theo befahl mich daraufhin zu einem Gespräch unter vier Augen. Das Gespräch und dessen Inhalt blieb unter uns. Auch hier hat er sich wohl offensichtlich gesagt, das sei für ihn so doch das Beste. Das heißt, eine Meldung seinerseits an den Regimentsstab, sprich Stasi-Offizier, wollte er seiner eigenen Karriere wegen vermeiden. Für mich allerdings wären daraus dann ansonsten auch unangenehme Konsequenzen entstanden.
Dieser Kompaniechef weckte immer häufiger in mir starke Zweifel am Begriff „Armee das Volkes mit den besten Söhnen der Arbeiterklasse als Offiziere“.
„Na, der hatte aber doch recht eigenartige Auffassungen, Fiete. Und damit konnte der in einer sogenannten sozialistischen Volksarmee General werden? Unfassbar!"

Sag ich doch. Die Nationale Volksarmee der DDR kann also eine Armee des Volkes nicht wirklich gewesen sein. Das war schlicht und einfach eine Lüge!"

Was hat Theo uns nicht getriezt und geschunden. Da war ich also von dem Schlaraffenland in der Artillerie in die ärgste Hölle geraten. Und seit jener Zeit verabscheue ich alles Militärische. Eines Tages, ich glaube es war im März 1988, sah ich in der Zeitung ein Foto, auf dem Offiziere der NVA in den Generalsrang erhoben wurden. Unter anderem stand da auch mein Theo in überbetont strammer Haltung vor Erich Honecker, dem Generalsekretär der SED. Nun also hatte er es bis zum General geschafft.“
Fiete hätte jetzt die Schilderung seiner bescheidenen Soldatenlaufbahn beenden können.
„Nein, Jan, das kann ich nicht. Denn der Clou kommt ja erst noch. Vor vier Jahren las ich in der gleichen Zeitung, dass eben jener Theo in einer Veranstaltung aus seinem Buch, das er über sein „soldatisches Leben“ verfasst hatte, dem werten Publikum nahebringen wolle. Inzwischen ist er aber nur noch ein von der Bundeswehr nicht übernommener General a.D.. Meinem spontanen Wunsch, bei dieser Lesung dabei zu sein, konnte ich dann aber widerstehen.“
Weil der Mensch nun mal so ist wie er eben ist, hätte Fiete gerne gewusst, was der Außer-Dienst-General da so alles zu verkünden hatte. Denn er musste diesen Menschen immerhin anderthalb

Jahre lang in der Kaserne sozusagen hautnah ertragen.
Das Buch zu kaufen, kam nicht infrage. Das war mir das Geld nicht wert. Aber weil ich doch zu gerne gewusst hätte, ob der General vielleicht in seinen Erinnerungen dem kleinen, widerborstigen Soldaten Fiete ein Wort zugestehen konnte, habe ich das Buch bei Amazon für nicht mal den halben Preis gekauft.“
Aha, du bist auch noch größenwahnsinnig. Vermutest, ein General würde nach über fünfzig Jahren einem kleinen, unbedeutenden Soldaten, der ihn bis aufs Blut geärgert hat, Aufmerksamkeit zukommen lassen. Meinst du denn, der würde sich noch an dich, geschweige denn an deinen Namen, erinnern können?“
Gemach, warte ab. Ich habe dem Theo so viele Scherereien und Ärger bereitet, dass er den Soldaten Fiete ganz bestimmt noch in der Erinnerung haben müsste. Da wollte ich nun mal schauen, ob in seinem Buch nicht eine ganz bestimmte Situation auftauchen wird.“
Du hast als einfacher Soldat also diesen Offizier so beeindruckt, dass er zeitlebens an dich denkt. Da bin ich aber gespannt, was du da auf Lager hast, mein bester Freund.“
Er war nach eigener Aussage vom Tage seines Eintritts in die Kasernierte Volkspolizei überzeugter Soldat. Aber er war auch von Anfang an ausschließlich darauf erpicht, beim Militär Karriere zu machen. Das ist legitim und nicht zu beanstanden. An der Politik war er meines Erachtens dagegen überhaupt nicht interessiert, er war kein politischer Mensch im Sinne der Arbeiter-und Bauern-Macht. Ihm ging es ausschließlich um seinen Aufstieg als Offizier, das aber um jeden Preis.
Dahingehend hat er sich einmal, wie oben schon geschildert, im Kino „Capitol“ in einer Auseinandersetzung mit Soldaten abfällig geäußert und musste sich deshalb in einer Aussprache vor dem Soldatenkollektiv rechtfertigen. Das sind aus heutiger Sicht lauter Dinge aus der Vergangenheit, die mich nicht mehr interessieren, Jan. Aber dass er mir meinen Reisepass mit Visum für Schweden geklaut hat, das ist für mich bis heute noch ein starkes Stück!“
Was hat der gemacht? Dir deinen Reisepass weggenommen? Aber wieso hattest du denn das Ding überhaupt bei dir in der Kaserne?“
Das frage ich mich natürlich auch. Aber so ein Reisepass, obwohl ich zu dem Zeitpunkt im Jahr 1962 damit schon überhaupt nichts mehr hätte anfangen können, war in der DDR so etwas Außergewöhnliches, damit wollte ich vor den Stubenkameraden angeben. War natürlich Quatsch, damit protzen zu wollen, aber mich guckten die anderen Soldaten natürlich neidisch an.“
Fiete hatte ernstlich den Plan, nach seiner Armeezeit den Versuch zu wagen, nach Schweden zu gelangen, denn nach seiner Schwedenreise im Jahre 1959 stand für ihn fest, er wolle nach dorthin verschwinden, denn er stand noch immer in Verbindung zu einem der beiden Mädels, die er in Trelleborg kennen gelernt hatte. Als Vorbereitung darauf hatte er sich ein Wörterbuch Deutsch-Schwedisch gekauft und war dabei, als Autodidakt die schwedische Sprache zu erlernen.
Wie kam es denn, dass dir der Reisepass abgeknöpft wurde?“
Wie in der Kaserne so üblich, wurden auch bei uns regelmäßig an den Sonnabenden Stubendurchgänge veranstaltet. Die Vorgesetzten inspizieren dabei die Soldatenstuben, gucken, ob sie auf dem Spind oder unterm Bett vielleicht ein Stäubchen oder eine schmutzige Socke im Versteck finden. Wenn ja, gibt es Zoff. Ich hielt mich als ziemlich gewieft und alles, was nicht gefunden werden sollte, wie etwa eine angeschmutzte Kragenbinde oder eben dieser Reisepass, hatte ich im obersten Spindfach hinter Büchern mit auffallenden sozialistischen Titeln, wie „Das illegale Gebietskomitee arbeitet“ von Federow, verborgen. Das klappte lange Zeit auch recht gut. Den Kameraden wurde immer mal wieder lobend empfohlen, sich auch mit solcher Literatur zu befassen. Da grinste ich innerlich nur, denn gelesen hatte ich diese Schinken ja nie. Bis Theo bei einem der Stubendurchgänge dummerweise, vielleicht hatte mich aber auch einer der Kameraden verpfiffen, auf die Idee kam, doch einmal einen Blick hinter die klassenkämpferische Literatur-Fassade werfen zu wollen. Ja, und da war es dann eben passiert, der Pass verschwand in seiner Uniformjacke.“
Jan fragt ganz besorgt: „Was war dann mit der Stasi, Fiete, wurdest du dort doll verhört, wegen Vorbereitung einer Republikflucht, und so?“
I wo, nix war. Das ging so stillschweigend vor sich, der Theo sagte kein Wort und hat es ganz

offensichtlich auch nicht weitergemeldet. Und ich habe mich gehütet, dagegen anzumosern. Das hätte mir dann doch sehr, sehr viel Ärger eingetragen, denke ich.“
Ist doch eigenartig, dass so ein NVA-Offizier eine solche Sache einfach unter den Tisch hat fallen lassen, Fiete?“
Ich habe doch eingangs schon erwähnt, dass der mit der offiziellen Parteipolitik wenig am Hut

hatte. Vielleicht hat ihn diese Sache auch nicht besonders interessiert. Für ihn zählte nur der Dienst im soldatischen Sinne.“
Doch kommen wir wieder auf das besagte Buch des Generals a.D. zurück. Darin ist die Rede von einem Ereignis, das in der Tat auf Fiete hinweist.
Mit steigendem Interesse habe ich das Buch gelesen, und zwar von der ersten bis zur letzten Seite. Auf einer der Seiten bin ich dann fündig geworden. Während einer Leistungsüberprüfung im Sommerlager sollte Theo den Nachweis für seine Befähigung zu höheren militärischen Aufgaben erbringen, was ihm dann auch eine vorzeitige Beförderung eintragen würde. Natürlich mussten dafür in seiner Kompanie alle zu absolvierenden Programmabschnitte mit Ergebnissen erfüllt werden, die deutlich über den Ergebnissen der anderen Einheiten lagen. Da durfte es keinen Ausrutscher oder Ausfall eines Teilnehmers geben. Genau den gab es aber. Und dieser Unglücksrabe war Soldat Fiete Stint, das war nämlich ich.“
Durch das Buch erfuhr er, wie der Pomaden-Theo es schaffte, trotz des Ausfalls eines der Soldaten seiner Kompanie bei der taktischen Übung einen erfolgreichen Abschluss mit exzellenten Ergebnissen bescheinigt zu bekommen. Der Erfolg wäre ihm durch ein peinliches Missgeschick fast noch aus den Händen geglitten, meint er in seinen Erinnerungen, weil der Schütze 1 der MG-Bedienung angeblich stürzte und sich dabei verletzte und deshalb nicht weiter an den Überprüfungen teilnehmen könne.
Was tun, schreibt er, er habe bereits geschossen und durfte nicht mehr antreten. Der Oberst war zur Inspektion erschienen und erklärte, er mache das. Und tatsächlich: Er holte die Kastanien aus dem Feuer und verhalf so Theos Musterkompanie bei dieser Überprüfung zum glanzvollen Erfolg.
Siehste Jan, dieser erwähnte MG-Schütze war ich. Ich bin aber überhaupt nicht gestürzt, und darum ging es in Wahrheit auch gar nicht. Es ging vielmehr darum, ein Gewässer, das übrigens sehr tief ist, schwimmend zu überwinden. Und das in Uniform. Ich kann aber nicht schwimmen, kam für diese Übungseinheit infolgedessen nicht infrage. Das war für Theo die erwähnte peinliche Situation, was für ihn bedeutet hätte, dass er sich seine vorzeitige Beförderung damit wohl hätte hinter´n Spiegel stecken können. Das Resultat dieser taktischen Übung sollte ja der entscheidende Baustein für die Verwirklichung seiner hochfliegenden Pläne sein.
Am folgenden Tag war ihm die Leitung zur Durchführung einer weiteren taktischen Übungseinheit übertragen worden. So stand er am Morgen zum Beginn des Manövers in der Pose, die einem Feldherrn aus alten römischen Schlachten alle Ehre gemacht hätte, auf dem Führungsfahrzeug. Er wies mit seiner lederbehandschuhten Hand und lang ausgestrecktem Arm und mit einem unglaublich arroganten Gesichtsausdruck, den anderen Offizieren die Marschrichtung an. In solcher Feldherrenpose gefiel er sich am meisten.“
Jener Begebenheit mit der „peinlichem Situation“ wegen hat Fiete das Buch überhaupt nur gekauft. Er wollte sehen, wie das Ding damals gedeichselt wurde. Denn dass da jemand dem Kompanie-Chef Theo Knopfe im Hintergrund Schützenhilfe geleistet haben musste, war für ihn schon damals im Jahr 1962 ganz unbestritten.
Tja, mein lieber Jan, und so hat dieser damalige kleine Leutnant seinen steilen Aufstieg bis zum General der NVA der DDR nehmen können.“
Doch was hat es diesem Karrieristen gebracht? Die Bundeswehr hat ihn dann „entsorgt“ und am 2. Oktober 1990 wie viele andere NVA-Größen auch zum Arbeitsamt geschickt.
Na siehste“, sagt Jan Hollerbusch zu seinem Freund Fiete. „auch so ein hohes Tier musste mal tief fallen und durfte von wenig Arbeitslosengeld leben.“
Ja, lediglich 1800 DM Arbeitslosengeld bekam er, das schon, aber ich kann mich trotzdem nicht darüber freuen. Wir einfachen Leutchen besitzen einfach nicht die Gabe, über fremde Missgeschicke Freude zu empfinden.“
Was ja nicht unbedingt ein Fehler sein muss, Fiete! Du warst ja ein richtiger Widerstandskämpfer gegen die SED und gegen den DDR-Staat!?“
Nein, das war ich überhaupt nicht! Warum auch, ich habe mich hier in unserem schönen Städtchen Barth immer sehr wohlgefühlt.“

 

Major Dickes und die Westmusik

Eine Kaserne der NVA, mitten in einer nicht ganz kleinen Stadt an der Ostsee im Herbst des Jahres 1961. Das Regiment stellt sich neu auf. Mehrere kleine Einheiten werden aufgelöst, eine größere dafür neu geschaffen. Ein weiteres Bataillon der damaligen motorisierten Schützen entsteht. Die neue Einheit, die schon bald als das „Schwarze Bataillon“ in Verruf gerät, darf Hauptmann Dickes als Kommandeur befehligen. Wenige Monate nach der Umstrukturierung im Regiment wird in der DDR die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, und aus dem Hauptmann Dickes ist ein Major geworden.

Er war von kleiner, untersetzter Statur. Zum Dienst erschien er mit einem kleinen Motorrad MZ RT-125. Auf dem Ding wirkte er aufgrund seiner bescheidenen Körpergröße und seiner leichten Fülligkeit wie der sprichwörtliche Affe auf dem Schleifstein. Der Major hatte eine etwas reichlich wirre Vorstellung von Menschlichkeit bzw. vom Umgang mit Untergebenen. Er liebte Auftritte, bei denen er während des Morgenappells vor dem gesamten Bataillon Soldaten vor die Front zu treten befahl, um diesen in einer äußerst unwürdigen Weise für Vergehen nach Strich und Faden abzukanzeln. Soldaten nennen so etwas zusammenscheißen. Auch schreckte er nicht davor zurück, sich eine Rasierklinge reichen zu lassen, mit welcher er den Delinquenten, egal ob Gefreiter oder Unteroffizier, vor versammelter Truppe die Rangabzeichen eigenhändig von den Schulterstücken abtrennte und somit degradierte. Das waren für Major Dickes Momente der absoluten Befriedigung.

Doch warum ist oben von einem Schwarzen Bataillon die Rede? Der Begriff bildete sich 1962 heraus und ist dann von Soldatenjahrgang zu Soldatenjahrgang weitergegeben worden. Die eigentliche Herkunft des Namens verlor sich dann im Verlaufe der folgenden Jahre immer mehr im Nebulösen. Richtige Legenden rankten sich um ein scheinbares Geheimnis und haben sich bis heute, noch lange nach der Auflösung der NVA, bei den Ehemaligen gehalten. Dabei hatte die Bezeichnung Schwarzes Bataillon eine ganz simple Herkunft.

Der Bataillonskommandeur, eben jener etwas verklemmte Major Dickes, erließ eines schönen Tages den Befehl, ab 18 Uhr, egal ob Sommer oder Winter, die Fenster zu verdunkeln. Von der Straßenseite, also von der Hauptstraße aus, wirkte das so, als seien die Rostocker im Krieg und müssten sich vor Luftangriffen schützen. Und da nur für den Block dieses Bataillons der Befehl der Verdunkelung galt, entstand dann eben der Begriff „Schwarzes Bataillon“. Wie viele Jahre das noch praktiziert wurde, weiß ich nicht. Ich könnte mir schon vorstellen, dass diesem Irrsein jenes seltsam gestrickten Offiziers irgendwann Einhalt geboten wurde.

Bemerkenswert war an Major Dickes auch seine heisere, krächzende Stimme. Sie klang, als würde er jede Nacht durchzechen. Seine Stimme schwoll ganz besonders dann an, wenn er sich über das „Gejohle“ und das „Bumm-Bumm“, wie Dickes das nannte, echauffierte, das jeden Tag zur Mittagszeit sowie zur Stunde des Abendbrotes aus den Fenstern ausnahmslos aller Soldatenstuben des gesamten Regiments schallte.

Jenes „Bumm-Bumm“ war täglich zur Mittagszeit zu hören. Dabei handelte es sich um das Pausenzeichen des Soldatensenders. Der kündigte jede Sendung an mit „bum, bom, bu-bu-bom, hier ist der Deutsche Soldatensender, Mittelwelle 935 kHz. Wir melden uns täglich um 06:15 Uhr, 12:30 Uhr, 18:00 Uhr und 22:30 Uhr , bum, bom, bu-bu-bom …“. Und dann ging es los mit der West-Musik.

Abends wurde der Deutsche Freiheitssender gehört. Er meldete sich mit „Hier ist der Deutsche Freiheitssender 904, der einzige Sender der Bundesrepublik, der nicht unter Regierungskontrolle steht“. Seine Sendungen wurden permanent von einem durchdringenden pfeifenden Ton begleitet. Bestandteil der Sendungen waren auch angebliche Warnhinweise an die Genossen in der Bundesrepublik. Vor jeder dieser „Warnhinweise“ war zu hören: "Hier ist der Deutsche

Freiheitssender 904. Achtung! Wir bitten in wenigen Minuten um Aufmerksamkeit für eine wichtige Durchsage." Solche Durchsagen konnten beispielsweise so lauten: „Wir rufen Skatspieler, Caro beißt", oder „Achtung, Achtung wir rufen Strippenzieher, der Hahn tropft", oder „Achtung Förster, der Hamster bohnert, der Wachs ist alle“.

Man wunderte sich über die Ansagen mit derlei skurrilen Inhalten. Der eine Soldat sagte besorgt

Hoffentlich kommt die Warnung nicht zu spät bei den Genossen drüben an“, der andere Soldat meinte belustigt-wegwerfend „Ist doch alles nur hohle Propaganda!“

Die Musik, die sowohl der Freiheitssender als auch der Soldatensender ausstrahlten, unterschied sich sehr vom Musikformat des offiziellen DDR-Rundfunks der 50er und 60er Jahre. Die Begeisterung für die beiden angeblich illegalen Sender war bei den jungen Leuten in der DDR nahezu unbegrenzt hoch. Hier erfreute sich der Sender vor allem wegen der Rock- und Popmusik großer Beliebtheit. Dabei waren beide Sender nichts anderes als propagandistische Hörfunksender der DDR, die bis 1972 als Geheimsender betrieben wurden und in der Nähe von Magdeburg standen.

Die „Westmusik“, die da täglich zweimal durch sein kleines Bataillons-Reich schallte, war in den Ohren des Major Dickes eine unerhörte Provokation. Doch er konnte nichts dagegen tun. Westmusik war zwar nicht gut gelitten bei den Funktionären, verboten war sie aber auch nicht. Hätte Dickes von seinem Hausrecht Gebrauch machen und das Hören der Sender in seinem Bataillon mittels Befehl verbieten sollen? Nein, das ging schon gar nicht, arbeiteten Freiheitssender und Soldatensender doch mit dem Segen der allerhöchsten Parteigenossen des Politbüros. Und so blieb dem Dickes nur die mickrige Möglichkeit des Wetterns beim Morgenappell gegen diese „klassenfeindliche Unkultur“! Wohl wissend, dass sein Donnerwetter kein einziges der Soldatenherzen erreichen würde.

Der Dicks übrigens, so erfuhr man nach 1991, soll nicht ganz ehrenvoll aus der Armee abgegangen worden sein. Angeblich wegen verheimlichter Westbekanntschaften. Hingegen könnte aber der Alkohol eine Rolle gespielt haben. Im einem Rostocker Großbetrieb soll er anschließend als Meister tätig gewesen sein, war zu hören.

 

Das Straflager

Aufgrund dieser Zeilen, die Fiete über seine Rostocker Soldatenzeit auf seiner Homepage veröffentlicht hat, meldete sich ein ehemaliger Unteroffizier der NVA per Internet-Nachricht bei ihm. Seine Bitte war, mit Fiete in näheren Kontakt zu kommen. Weshalb, das wird im Folgenden dargelegt. Die Nachricht des ehemaligen Unteroffiziers gebe ich mit geringfügigen Änderungen in Stil und Orthografie, wieder. Er schreibt:
„Ich war vom November 1964 bis Nov.1965 Angehöriger des MSR 28, 3. Bataillon.
Von Mai 1965 bis Okt.1965 war ich Gruppenführer im 1. Zug. Im September wurden wir nach Spriehusen zum Ernteeinsatz abkommandiert. Ich hatte die Aufsicht über den Einsatz unserer Kompanie. Offiziere waren nicht vor Ort. Was wir dort vorfanden spottet jeder Beschreibung. Das Getreide war auf den Hocken bereits ausgewachsen, die Frühkartoffeln noch im Boden. Entsprechende Erntetechnik und Fahrer waren nicht vorhanden.

Ich hatte mein Quartier nicht in der gemeinsamen Unterkunft bei den Mannschaften, sondern im Schloss beim Parteisekretär. Dort kam es zum Eklat, weil ich vergleichende politische Äußerungen zur Vergangenheit vor 1945 mit den damaligen Zuständen und der gegenwärtigen Situation anstellte. Das wurde natürlich meinen Vorgesetzten und der Staatssicherheit zugetragen. Die Folge war, dass ich in Arrest genommen wurde. Das MfS stellte den ganzen Sachverhalt meiner Äußerungen in komplett verlogener Weise dar. Weitere belastende, aber frei erfundene Verfehlungen wurden mir angehängt.

Bei der Gerichtsverhandlung vor dem Militärgericht in Schwerin bestand für mich keine Möglichkeit, einen Anwalt zu konsultieren. Das Urteil lautete: Neun Monate Gefängnis, ohne Bewährung.

Der Drahtzieher dieser Aktion gegen mich war B. zu dieser Zeit Stabs-Chef des Bataillons.
B. hatte beim Mfs. den Decknamen GME/K "Otto Wilke".
Vom Feldscher, ein Unterleutnant J. bekam B. immer brühwarm erzählt, was im Bataillon so los ist. Viele Soldaten haben durch eine geschickte Befragung durch den Feldscher ahnungslos Äußerungen über Personen getan, die dieser dann an B. weitergab. B. Der hatte somit die perfekteste Quelle.
B. hatte mich dann zum Strafantritt bringen lassen. Meine Abzeichen hat er durch die Stube geworfen. Meine Uniformteile flogen nur so durch die Luft. Ihm stand richtig der Schaum vor dem Maul. Dadurch konnte ich meine Schwarzmunition heimlich einstecken. Der P3-Fahrer hat diese dann an sich genommen.

Mit dem Bataillons-Kommandeur D. hat man den verkehrten geschlachtet. B. und Konsorten sollten nicht enttarnt werden. Ich hatte dann vom Haftarbeitslager aus nach Berlin geschrieben und die Machenschaften in diesem Bataillon geschildert. Ich bekam auch Antwort und wurde aus dem Haftarbeitslager entlassen. Aber auch Major D. wurde aus dem Dienst entlassen.

Nun bin ich mit meiner Rehabilitierung befasst, dafür brauche ich Zeugen. Nur noch D. scheint zu leben. Mögliche Zeugen von der Stasi und auch Zeugen aus Spriehusen sind tot.
Des weiteren schreibe ich an einem Buch, ich will mit dem künstlichen Mythos "Schwarzes Batallion" aufräumen. Mit diesem Begriff wollten und sind einige die Karriereleiter aufgestiegen.
Sollten Sie Interesse an weiteren Kontakten haben, würde ich Ihnen meine Telefonnummer senden.
Mit freundlichen Grüßen...“

Wir haben uns in der Folge noch zwei Mal am Telefon ausgetauscht. Ich konnte dem Mann bei seiner Suche nach Zeugen leider nicht behilflich sein.

Doch was mich erstaunte, war der Umstand, dass dem Namen „Schwarzes Bataillon“ bereits 1965 eine Art Geheimnis anhing. Der Unteroffizier schrieb ja von einem „Mythos“ im Zusammenhang mit dem Begriff, obwohl der Name erst drei Jahre zuvor entstanden war. Und etwas Geheimnisvolles steckt nun wahrlich nicht dahinter. Wie es Anfang 1962 dazu kam, habe ich in der Erzählung geschildert. Aber das ist ein typisches Beispiel für so genannte Latrinenparolen, die besonders in Kasernen ihre Blüten treiben.

Latrinenparole bei Wikipedia: „Latrinenparolen sind umgangssprachlich abwertend bezeichnete Gerüchte, die zumeist irreführend oder falsch sind und heimlich verbreitet werden. Das Wort stammt aus der Sloldatensprache, da sich in Kasernen oder anderen Unterkünften an der dortigen Sickergrube oder auch Latrine alle Mannschaftsgrade zur gemeinsamen Entleerung trafen und wo auch Informationen ausgetauscht und dann weitergegeben worden sind. Synonyme sind Latrinengerücht oder derber Scheißhausparole.“

 

Zugunglück bei Wiethagen

Jan fragt: „Hast du eigentlich noch eine Geschichte aus deiner Soldatenzeit auf Lager?"

Weiß nicht. Oder vielleicht doch? Möchtest du noch mehr hören? Eine Episode hätte ich da eventuell und exklusiv für dich! Aber das ist eine Geschichte mit einem etwas unglücklichen Ausgang."

Na, leg mal los, alter Kämpfer!"

Anno 1963, Ende März oder Anfang April muss es gewesen sein. Es lag noch Schnee in der Rostocker Heide. Unsere Kompanie war zur Überprüfung der Schießkünste in den winterlichen Wald gefahren. Dort, an der Wiethäger Schneise zwischen Hinrichshagen und Wiethagen, befand sich einer dieser Ballerplätze. Auf dem Gelände waren zwei Holzbaracken aufgebaut worden. Da konnten sich die Soldaten bei schlechtem Wetter unterstellen oder im Winter sich vor der Kälte schützen. Denn geschossen wurde bei jedem Wetter."

Die Gegend kenne ich", stimmt Jan seinem Freund zu, „dort stehen direkt an der Bäderstraße nach Graal-Müritz ein paar Wohnblöcke. Die Bushaltestelle nennt sich Erich-Weinert-Siedlung."

Ja, aber diese Siedlung entstand erst Jahre später und hat mit dem Schießplatz nichts zu tun. Da wohnten Offiziere und so genannte Heimschläfer von der Raketentruppe. Der große Raketenbunker existiert noch. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite in einer Entfernung von etwa 100 Metern befand sich die eigentliche Raketenanlage mit fünf Startrampen. Der ganze Wald bei Hinrichshagen war ja regelrecht dicht bepflastert mit militärischen Objekten. Da gab es Munitionsdepots, Kasernen und eine ganze Reihe von Bunkern."

Jan unterbricht etwas ungeduldig. „Das ist aber bestimmt nicht das Thema, welches du mit deiner

Geschichte eigentlich meintest. Oder?"

Ich schweife mal wieder ab, entschuldige bitte. Aber wenn ich beim Erzählen beim Thema Rostocker Heide und dem ganzen militärischen Dreckzeugs angekommen bin, könnte ich regelrecht in Wut geraten, Jan.“

Also, um an der Geschichte dran zu bleiben: In der Rostocker Heide gab es insgesamt drei Schießplätze: Bei Rosenort, Hinrichshagen und Wiethagen.

Auf dem Platz an der Wiethäger Schneise hat unsere Einheit an jenem Tag geschossen. Ich musste als Wachposten aufziehen und die Ecke Meyers Hausstellenschneise/Wiethäger Schneise absichern. Linker Hand war der Bahnübergang, rechts die Schneise nach Gelbensande, hinter mir zwei Gebäude von Wiethagen und geradeaus die Wiethäger Schneise, an der unser Schießplatz lag."

Warst du auch bewaffnet? Hättest du geschossen, wenn da so ein Fremder aus dem Wald auf dich zugekommen wäre"

Nun ja, der Jan hat seltsame Vorstellungen vom Dienst eines Soldaten. Er selbst war ja nie Soldat und sieht manche Dinge etwas verklärt.

Ja, ich hatte zwar eine Maschinenpistole bei mir, aber keine Munition, so dass ich lediglich als uniformierter Posten mit einer Knarre unterm Arm warnend Zivilisten davon abhalten sollte, den Schießbereich zu betreten. Zu DDR-Zeiten hätte es ohnehin niemand gewagt, ein militärisches Sperrgebiet unerlaubt zu betreten."

Damals herrschte noch Ordnung und Disziplin im Land, Fiete!"

Na ja, wie man´s nimmt. Außerdem wäre es auch lebensgefährlich gewesen, bei laufendem Schießbetrieb in den Wald zu gehen. Um es kurz zu machen, Jan, ich stand da so ganz mutterseelenallein im Wald herum und bewachte im Auftrage von Partei- und Staatsführung den Weltfrieden und bewahrte die Rehe und Wildschweine davor, durch die Geschosse aus unseren Kalaschnikows zu Schaden zu kommen. Es dauerte ein paar Stunden, bis von der Ballerei nichts mehr zu hören war. Das bedeutete, das Schießen ist zu Ende und ich würde nun in Kürze abgeholt werden. Zu diesem Zweck fuhr immer ein Schützenpanzerwagen (SPW) die Strecke ab, um die Absperrposten, die die Waldwege sicherten, einzusammeln und zum Schießplatz zurückzubringen."

Wenn die Übung nun aber schon zu Ende war, was willst du mir dann noch davon erzählen, Fiete? Oder war da noch was Interessantes?"

Meine Geschichte dreht sich nicht vorrangig um das Schießen an sich, Jan, sondern um ein Vorkommnis, das es erst nach den Schießübungen, im Zusammenhang mit dem Einsammeln der Posten, gab. Und außerdem, unterbrich mich bitte nicht immerzu! Also, um den Faden nicht zu verlieren: Ich stand wie ein einsamer Fliegenpilz dort beim Alten Forsthaus an der Schneise und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Ich stand da also ..."

Da warst du vorhin schon einmal!!"

... da stand ich also und wartete auf den SPW. Kalt war es, der Schnee hatte mir allmählich auch schon die Stiefel durchfeuchtet nach so langer Herumstehzeit. Halbe Stunde rum, noch eine Stunde rum. Dunkel wurde es nun auch schon. Ich habe doch so großen Schiss vor Wildschweinen, Jan."

Hahaha..., einen tollen Soldaten hat der Arbeiter-und Bauernstaat da durchgefüttert."

Mensch du, ich hau dir gleich eine! Ja, also ich grübelte, was ich nun tun solle. Haben die mich vergessen und sind inzwischen schon längst wieder nach Rostock zurückgefahren? Oder lässt Theo Knopfe mich absichtlich hier verhungern und erfrieren?

Da habe ich dann das getan, was ein Soldat eigentlich gar nicht darf. Ich habe meinen Grips benutzt, nachgedacht und einen eigenen Entschluss gefasst. Ganz einfach so, ohne auf einen Befehl zu warten. Dann habe ich mich auf den Weg gemacht und habe den etwa einen Kilometer Fußmarsch bis zur Einfahrt Schießplatz in Angriff genommen.

Es war recht eigenartig, am Schießplatz beachtete niemand diesen so einsam aus dem Wald auftauchenden Soldaten. Auch ansonsten herrschte eine bedrückte Stimmung. Und da stand  neben dem Tor ein leicht demolierter Schützenpanzerwagen.

Geschehen war Folgendes: Unmittelbar vor dem Schießplatz überquert die Bäderbahn Rövershagen/Graal-Müritz die Zufahrt zum Schießplatz. Als der Panzerwagen die ersten

Absperrposten im Wald eingesammelt hatte und diese zum Platz bringen wollte, hatte der Fahrer einen herannahenden Zug nicht bemerkt. Es krachte. Die Lok hatte das Fahrzeug seitlich erfasst, mitgeschleift und demoliert. Im Fahrzeug saßen acht Kameraden. Sechs wurden verletzt, vier von ihnen schwer, sie mussten in die Uniklinik eingeliefert werden."

Dann hattest du einen riesigen Dusel, Fiete. Wäre der Panzerwagen erst in deine Richtung gefahren um dich abzuholen, hättest du auch im Fahrzeug sitzen können."

Ja, daran habe ich bis heute noch gar nicht gedacht, du hast ja recht, mein Bester."

Wie ging die Sache nun aus?"

Wie gesagt, vier von ihnen waren schwer verletzt worden. Am schlimmsten hat es meinen Bettnachbarn erwischt. Jörg Friede heißt er, kam aus Berlin-Pankow. Er gehörte zu den letzten Freiwilligen der NVA. Im Herbst 1961, noch während des Mauerbaus, wurden im sogenannten FDJ-Aufgebot sehr viele Jugendliche massiv unter Druck gesetzt, um einem Eintritt in die NVA zuzustimmen. Das waren die letzten Freiwilligen, die ja gar nicht so freiwillig die Uniform anzogen.

Doch dieser Jörg war nicht nur mein Bettnachbar, er war mein bester Kamerad in der Kompanie. Er und ich haben so manchen Unfug verzapft und den Kompaniechef Knopfe und den Spieß Hackie bis zur Weißglut geärgert. Bereitet mir noch heute großes Vergnügen, daran zurückzudenken.

Da lag der Jörg nun also in der Rostocker Uniklinik mit einem Silbernagel im komplizierten Bruch des Oberschenkels. Ende des Monats sollte er, ebenso wie ich, endgültig die Soldatenkluft ausziehen dürfen. Gemeinsam wollten wir in der Schwimmhalle Neptun eine richtig Sause veranstalten. Daraus wurde aber leider nichts, seine Verletzungen entzündeten sich und begannen zu eitern. Zwei Tage vor meinem Entlassungstermin besuchte ich ihn noch einmal in der Uniklinik, um mich von einem sehr guten Kameraden zu verabschieden."

Seid ihr in Kontakt geblieben, du und dein Freund Jörg?"

Nein, ich habe nie erfahren, ob er wieder gesund wurde und wann er nach Hause durfte. Ich musste all die Jahre immer mal wieder an ihn denken."

Es ist wohl davon auszugehen, dass die Ostsee-Zeitung damals nicht über dieses Bahnunglück bei Wiethagen berichtet hat.

 

Wir nannten ihn nur Hackie
Vorab
eine Satire von Michael Wüstefeld, passend zur nachstehenden Erzählung.

Eine Belehrung über die Anrede in der NVA, wie sie von einem damaligen Hauptfeldwebel gehalten worden sein könnte:
Alle werden mit Genosse angesprochen. Genosse Soldat. Genosse Major. Genosse Minister. Genosse Kommandeur. Genosse Schütze. Genosse Funker. Genosse Fahrer. Genosse Gegner. Denn wir sind wie eine große Familie in dieser Armee und alle für den gleichen Frieden und stehen Schulter an Schulter und Seite an Seite und Rücken an Rücken. Ist das klar!“
Ja, Genosse Feldwebel!“
Denn die Herren sind alle bei Stalingrad gefallen, und nur die Genossen sind übrig geblieben. Ist das verstanden? Und lauter die Antwort!“
Ja, Genosse Feldwebel!“
Genosse Gefreiter. Genosse General. Genosse Oberst. Genosse Kochgeschirr. Genosse Stahlhelm. Genosse Spaten. Denn wir essen alle vom gleichen Brot und haben alle den gleichen Käse auf dem Teller, und wir führen alle das gleiche entbehrungsreiche und aufopferungsvolle Leben. Das eint und macht uns zu Genossen. Gibt es Fragen?“
Nein, Genosse Feldwebel!“
Und wenn in Zukunft Briefe kommen, an Herrn X, Y oder Z, werden die nicht mehr ausgegeben. Wir haben keine Herren. Teilt das den Genossen Angehörigen mit, Genossen! Wegtreten!“
(
aus dem Buch „Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR“ von Hans Ehlert und Mattias Rogg)

Doch nun zu unserem Genossen Hackie

Die Episode ist auf einem Schießplatz der NVA angesiedelt. Wo, ob im Bezirk Magdeborg, Dresden, Suhl oder auf der Insel Rügen ist dabei bedeutungslos. Schließlich gab es in der DDR mehr Schießplätze als Bananen im Dorf-Konsum.
Da sitzt jemand im frühen Frühling, März hatten wir wohl, in der Uniform eines Oberfeldwebels mit „Kolbenringen“ an seinen Ärmeln vor einem Tischchen. Die Kolbenringe zeigen an, hier sitzt ein deutscher Hauptfeldwebel, umgangssprachlich auch Spieß genannt. Auf dem Tischchen hat er vor sich ein Schreibheft, ein paar lose Blätter und einen Bleistift zu liegen. Auf einem anderen Tisch daneben stehen etliche Kartons, die Munition für automatische Schnellfeuerwaffen enthalten. Der Schreiber der Kompanie, ein rothaariger, unbeliebter Speichellecker namens Grütz, gibt auf Befehl des Hauptfeldwebels an die Soldaten eine unterschiedliche Menge an Patronen aus, je nachdem, mit welcher Waffe ein jeder schießen wird.
Der Speichellecker Grütz hat, so wie sein Gönner, der Hauptfeldwebel, also auch einen Tisch vor sich, darf aber nicht auf einem Stuhl Platz nehmen. Eine gewisse Hierarchie zum Vorgesetzten muss schließlich gewahrt bleiben. Und sei es auch nur sitzen zu dürfen oder stehen zu müssen.
Eine Gruppe von zehn Soldaten stehen in Reih und Glied hinter dem Hauptfeldwebel und warten darauf, heran befohlen zu werden.
Und los geht es.

Kommen Sie her!“

Der Genosse Volksarmist mit Dienstgrad Soldat tritt an den Genossen Hauptfeldwebel heran, wobei er drei Schrittlängen vor ihm stehen bleibt und die sogenannte Haltung annimmt..

Name!“ Barsch soll der Befehl klingen. Es klingt so, als würden statt eines Ausrufungszeichen gleich noch drei weitere davon hinterhergeflogen kommen, so herrisch wird das Wort ausgestoßen.
Name!!!!“ Und es ist doch nur eine fast kindlich klingende, fistelige Stimme, über die der Genosse Hauptfeldwebel verfügt.
Stint,“ kommt die ruhige Antwort.
Ohne auch nur ein ganz klein wenig den Blick zu heben, denn wer da vor ihm steht weiß der Spieß ganz genau, kommt erneut herrisch der Befehl: „Name!!!!“
Und wieder ruhig und betont gelassen: „Stint.“
Ich will wissen, wie Sie heißen!“ Jetzt geht die Stimme in eine keifende Tonlage über.
Habe ich doch gesagt, Genosse Hauptfeldwebel: Stint.“
Sie heißen nicht Stint, sondern Soldat Stint, merken Sie sich das gefälligst, Sie! Und so haben Sie sich zu melden, Sie!!!“
Nein, Genosse Hauptfeldwebel, ich heiße nicht Soldat Stint, sondern Stint heiße ich, Fiete mit Vornamen, Genosse Hauptfeldwebel. Soldat ist nicht mein Name, sondern ein Dienstgrad. Und danach haben Sie aber nicht gefragt.“

Fiete provoziert feixend mal wieder seinen Spieß.
Soldat ist überhaupt gar kein Dienstgrad, Sie!!!“
Stint grinst, weiß er doch, sein Hauptfeldwebel platzt gleich, wenn das Spielchen noch ein wenig so weitergeht.
Stint hat vor seinem Hauptfeldwebel, wie übrigens alle anderen Soldaten der Kompanie auch, keinerlei Respekt. Daher ist es für ihn nicht mehr als eine ziemliche Gaudi, was er mit seinem Spieß hier veranstaltet. Die in der Reihe Stehenden grienen. Sie erleben dieses Schauspiel, das anschließend noch ein anderer Soldat der Kompanie mit ihm treiben wird, nicht zum ersten Mal. Es wird mal wieder so etwas in der Art des Soldaten Schwejk geboten.
Hackie nennen die Soldaten, diese Kompaniebanausen, ihn, den Spieß. Seiner Physiognomie wegen. Wie ein zupicken wollender Gockel sieht er aus. Hervorgerufen wird das durch ein von der Stirne in Richtung Kinn wie ein Keil spitz zulaufendes Gesicht. Eine vorspringende hagere, gebogene Nase, ein kleiner Mund und stark ausgeprägte Backenknochen nach mongolischer Art verstärken diesen Eindruck noch effektvoll.
Der Hauptfeldwebel läuft rot an. Was bei einem holden Mädchen das Gesicht mit einer zarten Röte

überziehen würde und es dadurch noch lieblicher erscheinen ließe, wirkt bei Hackie hässlich. Seine Pickel im pockennarbigen Gesicht kommen jetzt so richtig zur Geltung und sein kleiner Mund gibt zwei lustige Mausezähnchen, die auch noch vom vielen Rauchen gelb verfärbt sind, frei. Er weiß um sein Aussehen, er weiß, dass seine Leute nicht viel von ihm halten. Und das nagt unablässig an seinem Selbstwertgefühl und macht ihn den Untergebenen gegenüber noch grantiger. Seine Bestrebungen, dieses durch ein betont forsches Auftreten zu kompensieren, misslingt ihm meistens, lässt ihn letztlich sogar täppisch erscheinen. Eigentlich müsste man ja Mitleid mit ihm haben, denkt mancher gutmütige Soldat. Doch Mitleid für einen Vorgesetzten, beim Militär? Wo hätte es so etwas schon einmal gegeben? Na also!
Stint feixt sich eins und belehrt seinen Hauptfeldwebel scheinheilig über die Dienstvorschrift „DV 010/0/003“. Dort steht ganz zu Beginn: „Die Armeeangehörigen haben im gegenseitigen Umgang immer höflich und korrekt aufzutreten.“ Demnach hat ein Vorgesetzter einen unterstellten Volksarmisten entweder mit Genosse und Dienstgrad, also „Genosse Soldat“ anzureden, oder er spricht ihn, wenn er den Unterstellten namentlich kennt, auch mit Genosse und dessen Namen an, in diesem Fall also Genosse Stint oder auch mit Genosse Soldat Stint. Gegen die relativ vertrauliche Anrede Genosse Stint wäre auch nichts einzuwenden gewesen. Aber einfach nur Stint? Nein, so nicht, sagt sich Fiete. Da motzt er dagegen an.
Hackie kennt seine Pappenheimer und beruhigt sich ein wenig in der irrigen Hoffnung auf ein Einlenken seines Widersachers. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren und ohne einen weiteren Anranzer an Stint zu verschwenden, trägt er dessen Namen in eine Liste ein und weist seinen Schreiber am Nebentisch an, „an den da“ sechzig Patronen Kaliber 7,62 Millimeter für das Kompanie-Maschinengewehr sowie acht Patronen für die Pistole M9, Makarow, Kaliber neun Millimeter, auszuhändigen. Anschließend muss Stint den Erhalt per Unterschrift bei Hacki quittieren.
Blöder Affe, denkt Soldat Stint, dieser Heini weiß doch ganz genau wie ich heiße, nimmt die Munition, seine Pistole sowie sein Maschinengewehr und geht nach vorne zur Feuerlinie.
Der Soldat, der jetzt von Hackie heran befohlen wird, Friede heißt er, kann es mit dem Hackie-Ärgern sogar noch besser als Stint. Bereits rein äußerlich ist er eine einzige Provokation für jeden Vorgesetzten. Schon wie der dasteht, denkt der Spieß, diese Figur mit diesem Wanst, diese Anzugsordnung von dem Friede, eine einzige Schande ist das! Aber mit diesem Soldaten mag er sich nicht gerne anlegen. Mit dem hat er zu oft schlechte Erfahrungen gemacht. Von Statur etwas füllig, der Mantel viel zu weit, das Koppel sitzt lässig unterhalb des Bauchansatzes und die Mantelärmel sind auch viel zu lang. Da lugen nicht viel mehr als nur die Fingerspitzen hervor. Das eine Hosenbein steckt im Stiefel, das andere ist entgegen der Vorschrift über den Stiefelschaft gezogen. Sieht so ein Genosse Soldat der sozialistischen Arbeiter-und-Bauern-Macht aus?
Wie er sich jetzt vor dem Spieß aufbaut, unschuldig lächelnd, er ist übrigens ein hochintelligenter Mensch, dem der Hackie nicht das Wasser reichen kann, zieht er die Schultern noch etwas höher wodurch die Fingerspitzen vollends in den Mantelärmeln verschwinden. So steht er vor seinem Hauptfeldwebel Hackie, sieht aus wie ein kleines Häufchen Elend und ist doch so voller Schabernack, der nur eines im Sinn hat: Hackie, seinen keifenden Spieß, endgültig auf die Palme zu bringen. Klappt aber heute nicht. Der Spieß weiß ja, dass er Friede gegenüber der geistig und verbal weit Unterlegene ist und begnügt sich mit einem unwirschen „Friede, kommen Sie her, Sie!!! Wie kommt so einer überhaupt zu diesem Namen!? Sie nehmen jetzt beim Genossen Grütz die Munition in Empfang, quittieren anschließend bei mir. Und dann ab nach vorn an die Feuerlinie. Aber ein bisschen plötzlich, Friede!!!“

Er mustert Friede mit empörtem Blick von oben bis unten, bemerkt die unvorschriftsmäßige Ordnung bei den Hosenbeinen und keift los: „Wie sehen Sie nur wieder aus, Sie? Wer hat Ihnen erlaubt, so herumzulaufen? Stecken Sie gefälligst auch das zweite Hosenbein in den Stiefel! Aus Ihnen wird wohl nie ein richtiger Mensch werden, Sie!“

Für Hackie ist Friede ein hoffnungsloser Fall. Er verzichtet dieses Mal sogar auf sein unsinniges „Name!!!!“.
Schuuulzl! Zu mir!“ Auch Soldat Schulz erhält seine Munition zugeteilt und eilt nach vorne an die Feuerlinie.

Hackie´s Stimme kommandiert jetzt den Gefreiten Posezuckel zu sich an sein Tischchen. Posezuckel rennt hin, macht zackig ein Männchen, dass er aussieht als sei er ein Karnickelbock in der hitzigsten Rammlerzeit und knallt vor übertriebener Beflissenheit die Stiefelabsätze zusammen, dass die Funken sprühen.
Wie befohlen zur Stelle, Genosse Hauptfeldwebel“, meldet er sich bei Hackie und wartet darauf, was der ihm auftragen wird.
Suchen Sie den Hinkemann, der soll sofort hierherkommen!“
Wird gemacht, Hauptfeld!“ Posezuckel dreht sich um und will sich auf die Hinkemann-Suche machen. Doch da keift ihn Hackies Stimme zurück: „Mann, kommen Sie sofort zurück!!! Sind Sie denn ganz und gar wahnsinnig geworden? Wie heißt das?“
Zu Befehl, Genosse Hauptfeldwebel“, korrigiert sich Gefreiter Posezuckel ganz erschrocken, „Hinkemann suchen, der soll sofort zum Genossen Hauptfeldwebel kommen, Genosse Hauptfeldwebel.“
Na also, geht doch,“ ist Hackie zufrieden. „Wo gibt es denn so was, dass ein Gefreiter es wagt, mich einfach Hauptfeld zu nennen?“
Posezuckel rennt los, sieht dort hinten bei der Rauchergruppe den Gesuchten stehen und brüllt in einer Lautstärke los, die selbst das schwerhörigste Wildschwein aus dem Unterholz aufscheucht und davonpreschen lässt: „Dieter, du sollst sofort zu Hackie kommen!“
Der schon wieder“, mault Hinkemann weil er seine Lulle gerade erst angesteckt hat und nun nicht weiter rauchen kann. „Komme ja schon.“
Diesen Posezuckel-Ruf „...zu Hackie kommen!“ ist aber auch vom Kompaniechef Knöpfchen vernommen worden, war ja unüberhörbar. Knöpfchen nennen ihn abgeleitet vom Nachnamen „Knopfe“ die Soldaten, wenn er weit genug weg ist und das nicht hören kann. Er ist der Kompaniechef und gleichzeitig auch der Oberschinder der Truppe. Dass Fiete ihn auch noch als Pomaden-Theo kennt, weiß aber keiner seiner Kameraden. Knöpfchen hat von seinem Hauptfeldwebel die gleiche abschätzige Meinung wie die einfachen Soldaten. Das darf er als Vorgesetzter aber auf gar keinen Fall zeigen, es würde die Disziplin der Leute untergraben. Also beordert er, ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen Gehabe, den Gefreiten Posezuckel ohne Gebrülle ganz zahm mit dem Zeigefinger winkend, zu sich heran. Was passiert jetzt, fragen sich die Umstehenden. Sie haben das natürlich mitbekommen, dieses „...zu Hackie kommen“, und dass Knöpfchen den Delinquenten Posezuckel deshalb jetzt am Wickel hat. Dieser stammt aus Berlin und hat demzufolge auch ansonsten ein großes Maulwerk. Die anderen würden ihm eine gehörige Standpauke von Herzen gönnen..
Da geht es schon in ziemlicher Lautstärke los: „Was erlauben Sie sich da, Sie Gefreiter Posezuckel, einem Hauptfeldwebel, einem Vorgesetzten gegenüber derart unverschämt und respektlos aufzutreten!“ Es wird eine längere Standpauke. Knöpfchen hat Posezuckel sozusagen nach Strich und Faden bis tief in den Boden des Schießplatzes hinein zusammengeschissen.
Zumindest diejenigen, die nichts zu tun haben und die Szene begeistert verfolgen, sehen aber auch, dass der Kompaniechef trotz seiner Toberei nicht wirklich ernst bleiben kann. Sie sehen, de kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nur der Hauptakteur Hackie bekommt davon nur die Hälfte mit. Denn lediglich die Lautstarke der Zurechtweisung für den Gefreiten vernimmt er mit genüsslicher Freude, das versteckte Grinsen seines Kompaniechefs hat er dabei nicht im Blick. Der lässt schließlich von Posezuckel ab, denn es wird vorne an der Feuerlinie nach ihm verlangt.

Das Bataillonsschießen beginnt. Fiete muss sich sein schweres Maschinengewehr schnappen, sich hinwerfen, zielen, schießen und nach Möglichkeit die sich aufrichtenden Scheiben auch treffen. Er ist Schütze 1 des Kp-MG (Kompanie-Maschinengewehr). Davon gibt es in der Kompanie nur dieses eine Exemplar.
Die Patronenzufuhr (Kaliber 7,62 mm) erfolgt hier nicht mit dem Kurvenmagazin wie bei der Maschinenpistole Kalaschnikow, das einfach von unten in die Waffe eingesteckt wird, sondern mit

einem Patronengurt. Der passt natürlich nicht in so ein Magazin, die Patronenanzahl ist bedeutend höher. Der Patronengurt liegt in einem Blechbehälter (Magazin), läuft beim Schießen durch die Waffe und gleitet auf der anderen Seite leer ohne Patronen wieder in einen zweiten Behälter (Magazin). Für diese beiden Blechkisten ist ein Schütze 2 verantwortlich. Der muss mit den damit, inklusive Patronengurten, dem Schützen 1 hinterher hecheln.
Das Maschinengewehr ist nicht nur recht schwer, sondern bei der Taktikausbildung und beim Schießbetrieb im Gelände auch sehr unhandlich. Eine gezielte Schikane war das von Knöpfchen, dem Stint dieses Ding aufzuhalsen. Mit seinen knapp siebzig Kilogramm Körpergewicht stellte er absolut keine kraftstrotzende athletische Erscheinung dar. Doch er war zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl. Flink wie ein Windhund war er allerdings nicht. Er bevorzugte eher Sportarten wie Schach und Angeln.
Knöpfchen, dieser Pomaden-Theo, gedachte seinen stets aufmüpfigen Soldaten Fiete Stint mit solchen Strapazen kirre zu bekommen. Der hat aber tapfer alles ertragen und hat niemals schlapp gemacht.

Beim Schießplatz in der Heide spielt sich das Ganze ab. Ist schon sehr lange her, in einer Zeit, als die Soldaten noch als Freiwillige in der sozialistischen NVA den Weltfrieden zu retten übten.

 

Ich habe nur Buschemumu verstanden!

Nach der Begegnung mit Hauptfeldwebel Hackie in der vorangegangenen Episode, soll nun dem Unterleutnant Buschemumu etwas Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Buschemumu stammte aus dem Vogtland, genauer aus Auerbach. Demzufolge sprach er einen Dialekt, der trotz genauen Hinhörens nicht von jedem ohne weiteres zu verstehen war. Ein besonderes Merkmal dieses Dialektes ist vor allem die langgezogene und zum Teil überbetonte Aussprache von Vokalen, das sogenannte Singen, welches im oberen Göltzschtal um Auerbach herum am stärksten ausgeprägt ist. Buschemumu war ein sogenannter Schnellsprecher, wodurch es noch komplizierter wurde, ihm im Gespräch folgen zu können.
Sein Dienstgrad also war der eines Unterleutnants. Im Bataillon war er unter Anderem mit der Arbeit des Jugendverbandes FDJ betraut. Der seltsame Name Buschemumu war natürlich nicht sein richtiger, der wäre selbst im Vogtland kaum anzutreffen, sondern sein Spitzname. Bekommen hatte er den vom Stabsgefreiten Lippe. Weshalb Lippe ausgerechnet auf „Buschemumu“ verfallen ist? Das weiß der selbst nicht mehr zu erklären. Es war halt ein plötzlicher Einfall von ihm, nachdem der Unterleutnant in seiner heraussprudelnden Art dem Stabsgefreiten mal wieder eine Strafpredigt hielt. Lippe sagte anschließend zu ihm nur „zu Befehl, Genosse Unterleutnant“ und grinste uns mit dem Satz an: „Ich habe kein Wort verstanden von diesem Buschemumu“. Von da ab hieß unser vogtländischer Schnellsprecher eben so: Buschemumu.

Buschemumu´s Bruder, so erzählte der Offizier gerne, ist vor Jahren, also noch vor der Gründung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten DDR und Bundesrepublik, in den Westen, nach Bayern rüber gewechselt und hat sich nach Buschemumu´s marxistisch-leninistischer Lebensphilosphie dadurch mit dem „imperialistischen Klassenfeind“ verbrüdert. Von da an galt er ihm als ein ganz schlimmer Finger, ein verachtungswürdiger Verräter an der Sache von Volk, Partei und Sozialismus. Früher oder später müsse ihn seine gerechte Strafe ereilen.
Eine Eigenart des Buschemumu war, dass er sich in Politschulungen und FDJ-Versammlungen gerne brüstend damit hervortun wollte, den Bruder sofort und eigenhändig erschießen zu wollen, falls der ihm über den Weg liefe. Die Soldaten konnten da nur verständnislos Blicke miteinander wechseln. Aber ideologische Auswüchse solcher Art waren in der NVA gar nicht mal so selten anzutreffen.
Das in der obigen Episode beschriebene Bataillonsschießen mit Hauptfeldwebel Hackie war beendet, die Schießergebnisse konnten sich, auch dank Fiete´s bewährter Treffsicherheit, sehen lassen. Hackie hat seine Schießkladden eingepackt, gemeinsam mit seinem Schreiber Grütz die noch vorhandenen Patronen nachgezählt und mit den ausgegebenen in seinen Listen verglichen. Wie nach jedem Schießen, gab es auch heute wieder eine ins Minus gehende Differenz.

Selbstverständlich hatte der Schreiber Grütz das auszubaden.
Sie sind doch zu nichts zu gebrauchen, Sie Versager, Sie! Grütz, können Sie denn nicht mal bis Drei zählen, Sie!?“
Von seinem Schreiber hat Hackie keinen Widerspruch zu befürchten, der duckt sich nur und schluckt die ungerechtfertigte Schelte hinunter. Was sollte er sonst auch tun. Aufmüpfigkeit war ohnehin nicht seine Art, und bei Aufmucken hätte er seinen schönen warmen und geruhsamen Posten in der Schreibstube aufs Spiel gesetzt. Während die Kompanie jetzt die zwanzig Kilometer in die Kaserne unter die Knobelbecher nehmen mussten, saß Grütz auf der Ladefläche des LKW und hatte für seine marschierenden Kameraden nur ein müdes Lächeln übrig.
Drei Tage darauf, es war ein Sonnabend, zog die Kompanie auf Wache und sicherte für die nächsten vierundzwanzig Stunden das Objekt nach außen hin gegen böse feindliche Eindringlinge. Aber auch nach innen sollten sie ein wachsames Auge haben. Es galt zu verhindern, dass sich Soldaten ohne Ausgangsschein durch die Lücken im Zaun auf den Weg in die Stadt machen.
Nicht alle Soldaten der Kompanie mussten auf Wache ziehen, einige blieben in ihren Stuben zurück. Wie der Zufall es wollte, auch Soldat Stint und Soldat Friede, diese beiden argen Buben, die Knöpfchen und Hackie stets nichts als Kümmernisse bereiteten, hatten wachfrei. Das kann nicht gutgehen.
Wieder ist es Friede, der den Einfall hat und Stint ist der willige Mitmacher. Welcher Soldat im Regiment hätte nicht gewusst, wo die größten Zaunlücken sind! Nach dem Abendessen, nachdem es genügend düster geworden war, schlüpfen die beiden durch den Zaun. Natürlich ohne Ausgangserlaubnis. Direkt vor der Kaserne befindet sich die Bushaltestelle. Mit dem Doppelstockbus geht es in die Stadt rein. Das Trocadero ist ihr Ziel. Hier sitzen nun Stint und Friede, lassen sich den Sektkübel auf den Tisch stellen und erfreuen sich ihres Daseins. Die Kapelle ist auch fleißig, spielt mitreißende Melodien von Lutz Jahoda, Hartmut Eichler und Jürgen Frohriep. Manchmal wagen sie es aber auch, Conny Froboess und Gus Backus zu bringen. Nur an Elvis, da trauen sie sich nicht ran, da steckt doch zu viel westliche Schundkultur dahinter.
Die Damen, es sind sowohl jüngere als auch weniger jüngere und auch noch etwas weitergehend weniger jünger aussehende Tanzkandidatinnen im Etablissement, lassen sich gerne auf den Tanzboden bitten. Nach wenigen Tänzen haben bereits zwei solcher Damen am Friede-Stint-Tisch Platz genommen. Das Blinken des Sektkübels auf dem Tisch mag die Mädels dazu verleitet haben, die Einladung der zwei uniformierten Genossen der NVA, die ja nur einfache Soldaten sind, nicht auszuschlagen. So wird es schließlich ein sehr vergnügter und angeregter Barbesuch. Mit viel Lust und Hingabe wird getanzt, aber nur mäßig getrunken. Die Speisen kommen aus einer Küche, in welcher anscheinend recht gute Kochnützen ihre Töpfe und Pfannen handhaben. Einen ersten kleinen Wermutstropfen gibt es bei der Damenwahl. Friede und Stint lupfen sofort ihr Gesäß um ihren Tischdamen zur Tanzfläche zu folgen. Aber diese begeben sich an einen weitern Tisch und holen sich von dort Tanzpartner. Die Freunde sehen sich entrüstet an. Die gute Stimmung ist dahin, auch wenn die Damen anschließend wieder an den Tisch zurück kehren und die beiden jungen Männer von der Damenwahl zu angeblichen Brüdern erklären. Als es dann so auf drei Uhr zugeht, Friede kommt gerade von der Toilette zurück und deutet wortlos zum Eingang hin.
Da, guck doch mal, Fiete, da kommt der Unterleutnant!“
Tatsächlich, da kommt er die Treppe herunter, in Uniform. Vor lauter Schreck und Aufregung vergisst Friede sogar „Buschemumu“ zu sagen. Stint will sofort türmen. Doch wohin und wie an dem Unterleutnant vorbei? Die Bar liegt im Keller, da führt nur eine einzige Treppe nach oben und hinaus in die Freiheit. Dort aber steht Buschemumu in Begleitung eines anderen Offiziers und beide versperren den Fluchtweg. Außerdem muss ja auch noch die Zeche beim Ober beglichen werden. Flucht wäre sinnlos gewesen. Buschemumu hat Stint und Friede bereits entdeckt und stößt seinen Begleiter an und deutet mit einem Kopfnicken in die Richtung der beiden Sünder.
Die Tischdamen sind ohne Gruß verduftet. Sie haben die Lage erfasst und sind stiften gegangen. Sind wohl doch Nachtbar-Profis!
Buschemumu hat Friede und Stint wortlos zu sich heran gewunken. Anstandshalber kommt die Frage, ob sie eine Ausgangskarte hätten. Dass sie keine haben und sich einfach unerlaubt auf einen nächtlichen Stadtbummel mit anschließendem Barbesuch auf den Weg gemacht hatten, das hatte er sich ohnehin gedacht.
Haben Sie schon bezahlt? Ja?“
Kurze Verständigung mit seinem Begleiter, dann: „Sie fahren jetzt mit mir ins Objekt zurück. Morgen sehen wir dann weiter.“
Na gut, morgen, das haben wir aber jetzt schon, denkt Stint. Wir wären sowieso gleich abgedampft, auch ohne dich. Konntest du nicht ein paar Minuten später hier aufkreuzen, du Buschemumu?
Mit dem Taxi, es ist ein eleganter Wolga, fahren sie zur Kaserne. Friede und Stint sitzen zunächst still und schuldbewusst auf dem Rücksitz. Dann kommt der Ärger darüber, dass sie erwischt wurden, in ihnen hoch. Plötzlich fängt Friede an: „Ihr Leuteschinder! Ihr Bonzen! Ihr könnt nichts anderes als uns immer nur zu triezen und zu hetzen!“ Er schimpft und macht sich richtig Luft, wenn auch nicht in all zu lauter Tonlage. Stint weiß nicht wie er sich verhalten soll. Soll ich ihn unterstützen und auch auf Buschemumu losgehen? Er ist im Dienst ansonsten zwar ein widerspenstiger Soldat den Vorgesetzten gegenüber, aber nicht aggressiv. Mit dem Sekt und einigen Bierchen im Blut und vom Geschimpfe seines Kameraden angestachelt, entwickelt sich jetzt auch bei ihm eine große Lust, dem an und für sich harmlosen und an der Situation völlig unschuldigen Buschemumu ein paar Unflätigkeiten zu sagen.
Ihr seid richtige Scheißkerle, seid ihr“, übertrumpft Stint seinen Freund noch um einiges. „Was ihr könnt, ist nur die Menschen Einsperren und ins Zuchthaus stecken. Ihr seid nichts weiter als richtige Verbrecher, seid ihr!“
Genosse Stint, mäßigen Sie sich! Überlegen Sie sich, was Sie da sagen!“
Die Mauer habt ihr gebaut! Einsperren tut ihr uns! Deutsche wollt ihr sein?“
In dieser unsinnigen Weise geht es nun bis zum Kasernentor. Buschemumu versucht anfangs dagegen anzukommen, sieht aber ein, es ist klüger die Randalierer nicht noch weiter aufzuheizen und lässt sie schließlich gewähren.
Der Taxifahrer zuckt manchmal zusammen, denn dass sich zwei Soldaten ihrem Offizier gegenüber so daneben benehmen, hat er noch nicht erlebt. Er mischt sich aber wohlweislich nicht in den Streit ein, der ja nur verbal stattfindet.
Am Tor angekommen, will Buschemumu den Preis für die Taxifahrt mit Friede und Stint teilen. Die weigern sich, tippen sich an die Stirn. Sie haben das Taxi nicht bestellt und hätten auch mit dem Bus der Linie 25 fahren können.
Buschemumu bezahlt also alleine den Fahrer. Hinter dem Tor war die Wache bereits aufmerksam geworden und hat aufgemacht.

Oh Gott, was treibt ihr denn hier? Wo kommt ihr denn her, Friede?“ Es ist nicht nur ein Kamerad aus der Kompanie, sondern einer von der gleichen Stube, der die beiden in Empfang nimmt. Buschemumu weht jetzt sein vertrauter Kasernenmief um die Nase und umgehend ist er wieder Herr der Lage. Friede und Stint werden unsanft durch das Tor geschoben. Da tritt der Wachhabende aus dem Gebäude des KTP („KTP“, Kontrollpunkt wurden um 1962 herum diese militärischen Pförtnerbuden an den Kasernen genannt).
Hackie!“, rufen unisono wutentbrannt die Freunde. Der Alkohol, der Aufruhr im Taxi, der vermasselte Ausflug ins Trocadero, das lässt die beiden mächtig in Fahrt geraten. Und nun steht auch noch Hackie, diese Nappsülze mit seiner Geiernase und der keifenden Kinderstimme vor ihnen und will sich kraft seiner hauptfeldwebelmäßigen Wassersuppe aufplustern! Das ist für diese Nacht zu viel des Guten. Sie vergreifen sich an ihrem Vorgesetzten, dem Spieß Hackie. Während Friede seinen Spieß an der Uniform zerrt, langt Stint mit der flachen Hand zu. Ist zwar nur eine Maulschelle, aber es ist eine Tätlichkeit einem Vorgesetzten gegenüber. Jetzt schreiten zwei Soldaten der wachhabenden Kompanie ein. Buschemumu bemüht sich um Besänftigung der Kampfhähne.
In die Arrestzelle müssen sie nicht. Sie werden in ihre Stube gebracht, wo sie noch eine knappe Stunde Zeit bis zum Beginn ihres Dienstes haben.
Am nächsten Tag schallt es vor dem Morgenappell über den langen Flur: „Stint! Friede! Zum

Kompaniechef!“
Der Spießschreiber Grütz, dieser Speichellecker, steht breitbeinig und schadenfroh grinsend in der Tür der Schreibstube und deutet mit dem Daumen zum Zimmer des Kompaniechefs.
Warte, du kriegst auch noch deinen Teil“, zischt Friede ihm im Vorbeigehen ins Gesicht. Das Donnerwetter bei Knöpfchen war eigentlich nur halb so schlimm wie befürchtet.

Buschemumu ist von gleicher Art wie Hackie, nur wesentlich intelligenter. Aber als Offizier und Vorgesetzter eigentlich eine Karikatur, für den forschen Theo Knopfe stellt er ein Nichts dar, eine völlige Niete, eine große Doppel-Null. Darum war bei Knöpfchens Standpauke in dessen Augenwinkeln das gleiche Grinsen wie beim Zusammenschiss des Gefreiten Posezuckel wegen dessen Rufens auf dem Schießplatz „...du sollst zu Hackie kommen!“ nicht zu übersehen.
Mit dem Rat, sich beim Unterleutnant zu entschuldigen, war die Sache für Knöpfchen erledigt. Mit keinem Wort wurde die morgendliche Auseinandersetzung am Tor mit Hackie erwähnt. Für den eigenmächtigen und unerlaubten nächtlichen Ausflug ins Trocadero gab es aber drei Tage Arrest.
Genosse Unterleutnant, bitten eintreten zu dürfen.“

Zwei Schuld heuchelnde Bösewichter mit Namen Friede und Stint stehen vor dem Unterleutnant, den sie hinter dessen Rücken nie anders als Buschemumu nennen. Natürlich werden sie bereits erwartet, nachdem Hackie ihnen einen Termin zu dieser Audienz besorgt hatte.
Stehen Sie bequem! Dann kommen Sie mal heraus mit der Sprache, Genosse Friede und Genosse Stint.“
Ja, also, das was ich da getan und gesagt habe, war nicht in Ordnung, Genosse Unterleutnant. Ich möchte mich da bei Ihnen entschuldigen.“
Stint ist der Erste, der sich getraut. Sein Freund zieht nach, mit den gleichen Worten. In Buschemumu´s Gesicht regt sich kein Muskel. Er verzieht keine Miene in seinem vogtländischen Schnellsprechergesicht. Nach wenigen Minuten stehen beide schon wieder draußen auf dem Gang und gucken sich unentschlossen an. Es gab von Buschemumu keine Zurechtweisung für ihr in der Tat ungebührliches Verhalten und keine Antwort auf ihre Bitte um Entschuldigung dafür. Eine Bestrafung erfolgte ebenfalls nicht.
Seine Verachtung für Friede und Stint aber brachte er dadurch zum Ausdruck, indem er über Knöpfchen ausrichten ließ, die Entschuldigung der beiden sei geheuchelt gewesen, er nähme sie nicht an. Von da an waren sie für ihn Luft, er bestrafte sie bei Begegnungen in der Kaserne mit Nichtbeachtung. Das wiederum trug dem Buschemumu Achtung bei Friede und Stint ein. Sie legten ihm das als wahre Größe aus. Und waren heilfroh, so glimpflich davongekommen zu sein.

Drei Wochen darauf wurde in der DDR die Wehrpflicht wirksam. Nach preußischem Vorbild wurden Militärgerichte geschaffen, die ab jetzt unmenschliche Urteile fällten. Die Soldaten in der NVA wurden endgültig ihrer Menschenwürde beraubt. Vorkommnisse, wie hier geschildert, hätten dann unweigerlich hohe Haftstrafen zur Folge gehabt.

 

Dierk Ower

 

 

Der Fahneneid

Der Fahneneid in der Nationalen Volksarmee der DDR hatte von 1959 bis 1961 folgenden Text:

Ich schwöre

Meinem Vaterland, der Deutschen Demokratischen Republik,
allzeit treu zu dienen, sie auf Befehl der Arbeiter- und Bauernregierung
unter Einsatz meines Lebens gegen jeden Feind zu schützen,
den militärischen Vorgesetzten unbedingten Gehorsam zu leisten,
immer und überall die Ehre unserer Republik und ihrer Nationalen Volksarmee zu wahren.


Mit der Einführung der Wehrpflicht bekam der Fahneneid einen anderen Text. Von 1962 bis 1990 lautete er nun:

 

Ich schwöre

Der Deutschen Demokratischen Republik,
meinem Vaterland, allzeit treu zu dienen
und sie auf Befehl der Arbeiter-und-Bauern-Regierung
gegen jeden Feind zu schützen.

Ich schwöre

An der Seite der Sowjetarmee und der Armeen
der mit uns verbündeten sozialistischen Länder
als Soldat der Nationalen Volksarmee
jederzeit bereit zu sein,
den Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen

und mein Leben zur Erringung des Sieges einzusetzen.

Ich schwöre

Ein ehrlicher, tapferer, disziplinierter
und wachsamer Soldat zu sein,
den militärischen Vorgesetzten
unbedingten Gehorsam zu leisten,
die Befehle mit aller Entschlossenheit zu erfüllen
und die militärischen und staatlichen Geheimnisse
immer streng zu wahren.

Ich schwöre

Die militärischen Kenntnisse gewissenhaft zu erwerben,
die militärischen Vorschriften zu erfüllen
und immer und überall die Ehre unserer Republik
und ihrer Nationalen Volksarmee zu wahren.

Sollte ich jemals diesen meinen feierlichen Fahneneid verletzen,
so möge mich die harte Strafe des Gesetzes unserer Republik
und die Verachtung des werktätigen Volkes treffen.

 

Die Stintenklappe

Schellt bei Fiete das Telefon, dann meldet er sich mit „Guten Tag, hier Friedrich Fischer“. Zeigt sein Display einen ihm bekannten Anrufer an, so meldet er sich aber mit „Hallo, hier ist Fiete!“

Das bewog Jan einmal zu der Frage: „Fiete, du hast dich heute am Telefon mit Friedrich Fischer gemeldet. Ich denke du heißt Fiete Stint?“

Fiete´s Antwort: „Man nennt mich nur Fiete Stint. Das ist mein Spitzname. Mit richtigem Namen kennt mich vermutlich überhaupt kein Barther. Sogar du weißt es nicht besser, und wir kennen uns doch schon seit recht langer Zeit. Für alle bin ich schon seit vielen Jahren, eigentlich schon seit meiner Lehrzeit, nur der Fiete Stint.“

Ach nee“, staunt Jan, „so was aber auch, was es doch nicht alles so geben tut!“

Ja, in Wirklichkeit heiße ich nicht Fiete Stint, sondern Friedrich Fischer.“

Wie ist denn das passiert?“

Das hat mit dem Barther Hafen zu tun. Da bin ich früher als Kind, und auch später noch in meiner Jugendzeit immer angeln gegangen. Und zwar an der Stintenklappe, weil ich doch kein Boot nicht hab. Dort haben die Fische gebissen wie verrückt, sage ich dir. Das war bei der Fischfabrik, du weißt doch, die Fischmatsch. Genau unter dem Rohr, aus dem das Getreide vom Silo in die Lastkähne runter rauschte, habe ich immer geangelt.“

Weil in späteren Jahren kein Getreideumschlag auf Schiffe im Hafen mehr stattfand, wurde diese Anlage nicht mehr benötigt. Sie wurde stillgelegt und demzufolge auch nicht mehr instand gehalten. Die Metallrohre, Konsolen und Halterungen gammelten vor sich hin und verrotteten so nach und nach. Bis der Zeitpunkt kam, an dem das durchgerostete Metall keine ausreichende Stabilität mehr hatte und die ganze Stellage abstürzte. Da saß nun unglücklicherweise gerade ein Angler genau darunter. An dessen Namen kann sich Fiete noch erinnern. Die schwere Last fiel auf ihn und der Mann verlor sein Leben.

Die Kähne waren manchmal über hundert Meter lang, solche Dinger lagen damals im Barther Hafen“, erzählt Fiete weiter.

Nana, wirklich?“

Vielleicht waren sie auch ein bissel weniger groß, aber groß waren sie schon. Musste mir glauben.“

Jan weiß, manchmal flunkert sein Freund etwas, wie das bei Anglern angeblich vorkommen soll.

Da schwabbelten auf engstem Raum Tausende und Abertausende Fische rum, man hätte da eigentlich gar nicht untergehen können wenn man reingefallen wäre. So viele Fische waren das da.“

Natürlich ist das nun doch maßlos übertrieben. Aber damit will Fiete ja nur deutlich machen, dass sich an der Stintenklappe so derartig große Mengen an Fischen versammelt hatten, wie es sonst eigentlich nirgendwo der Fall ist.

Meistens waren das kleine Stinte, aber auch größere Plötzen und auch Plieten habe ich da gefangen. Manchmal sprangen massenhaft Stinte hoch aus dem Wasser, dann hat nämlich ein größerer Barsch zwischen ihnen geräubert.“

Wenn in der Fischmatsch die großen Bratpfannen in Betrieb waren mit den Heringen darin im Öl und sie mit Essigtunken in die Gläser abgefüllt wurden, dann zog der Duft durch den ganzen Hafen, bis rüber zur Burg und zum Kaufmannsladen Bölkow an der Ecke Trebin/Reifergang. Bei Bölkow

haben sich die Kinder neue Angelhaken und anderes Angelzeugs kaufen können.

Der Haken kostete damals zehn Pfennige, glaube ich. Jedenfalls roch das herrlich nach frischem Brathering, da lief dir das Wasser im Munde zusammen!“

Jan bleibt da nichts weiter übrig, als seinem Freund zu glauben.

Ja, aber was hat denn das nun alles mit deinem Spitznamen zu tun?“

Ganz einfach: Weil ich dort doch fast jeden Tag an der Stintenklappe geangelt habe und ich mit richtigem Namen auch noch Fischer heiße, kam irgend so ein Dussel auf den Gedanken, mich Stint zu nennen. Passte doch, ständig an der Stintenklappe zu angeln musste ja irgendwann zu Stint führen. Andere haben das gehört und schon war ich bei allen nur noch der Stint!“

Hat er dich denn gewurmt, dieser Spitzname?“

Das nicht, habe mich ja auch dran gewöhnt. Nur, ich heiße richtig auch nicht Fiete, sondern Friedrich! Es werden ja viele Friedriche Fiete genannt.“

Das auch noch“.

Jan versucht mit einem nicht ganz ehrlich klingenden tröstlichen Tonfall ihn sein Mitgefühl spüren zu lassen.

Worauf der Begriff Stintenklappe zurückzuführen ist? An eben dieser Stelle entleerte sich die Stadt mittels eines großkalibrigen Rohres. Ihre ungeklärten Abwässer flossen hier in das Hafenbecken. Auch die „Fischmatsch“ genannte Fischfabrik, direkt am Hafen gelegen, handelte derart verantwortungslos. Das hier einströmende ungeklärte städtische Schmutzwasser, mit allem was so aus Haushalten, Toiletten, Industriebetrieben etc., lockte folgerichtig Unmengen von Fischen an, vor allem die Stinte, eine kleine Lachsart. Ein scheinbares Paradies auch für Angler, sie drängten und stritten sich manchmal regelrecht um einen günstigen Platz bei diesem Rohr. Deshalb wurde diese Stelle Stintenklappe genannt.

Obwohl es hier schon lange keine Stintenschwärme mehr gibt, denn die Abwässer landen nun in einer modernen Kläranlage, werden dort gereinigt um dann schließlich in die Barthe eingeleitet zu werden, hat sich der Name Stintenklappe bis heute gehalten.

Die Fische waren damals durchweg krank, sie hatten alle einen Bandwurm und waren deshalb ungenießbar. Das Angeln im Hafen wurde eines Tages auch verboten, denn das Wasser verdreckte immer mehr. Das gehört nun aber der Vergangenheit an.

Friedrich Fischer hat aber seinen Spitznamen weg und wird ihn wohl nicht mehr ablegen können, der Fiete Stint.

 

Mieke und die Matsch

Doch warum sagen die Barther eigentlich Matsch oder Fischmatsch“, möchte Jan gerne wisssen? „Das war doch so ein wunderschöner Bau, die Matsch, zumindest das Hauptgebäude war ein einmaliger Anblick für Barther Verhältnisse. Da passte der Name Matsch überhaupt nicht dazu.“

Das schlossartige Gebäude am Osthafen ließ sich 1894 der aufstrebende Unternehmer Friedrich Wilhelm Krüger als Wohnhaus errichten. Es wurde auch „das Schloss am Meer“ genannt. Die direkt am Krügerschen Wohnhaus anstoßenden Fabrikanlagen entstanden zeitgleich und gingen 1895 in Betrieb.

Im einstigen VEB Fischverarbeitung Barth (VEB seit 1956) wurde bis 1993 gearbeitet. Dann wurde die Fabrik verkauft, sie verfiel und 1999 zerstörte ein Brand das Gebäude. Der Abriss erfolgte im Jahr 2006.

Anfangs der 60er Jahre marschierten viele Mitarbeiter der Bootswerft, ich war auch einer davon, zum täglichen Mittagessen hierher“, erinnert sich jetzt Fiete an die alte Zeit von damals.

Die Werft hatte keine eigene Küche, einen geeigneten Raum auch nicht, um sich das Essen in Thermokübeln anliefern zu lassen. Doch es gab eine Anordnung, dass Werktätige täglich mit einer warmen Mahlzeit zu versorgen seien.“

Man nannte diese betriebliche Sozialpolitik im offiziellen Sprachgebrauch Arbeiterversorgung. Wobei dieser Begriff ja nicht korrekt ist, denn nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Angestellten und leitenden Mitarbeiter waren in die Versorgung mit einbezogen. Das System der Arbeiterversorgung.war bereite zur Zeit vor der Gründung der DDR, also in der sowjetischen Besatzungszone, eingeführt worden. Grundlage dafür bildete der Befehl Nummer 234 der Sowjetischen Militäradministration vom 9. Oktober 1947.

Nach der Mahlzeit in der Matsch-Kantine pilgerten wir wieder zur Werft und an unsere Arbeit zurück und weiter ging es mit der Malocherei“

Das war doch aber keine richtige Mittagspause, wenn ihr während dieser Zeit jeden Tag hin- und wieder zurücklaufen musstet.“

Ja, es nahmen nach und nach auch immer weniger Kollegen den Weg in Kauf und hockten lieber auf der Werkbank und mampften ihre Stullen. So wie der Hinrich Godehanns, von dem ich schon erzählt habe, der häufig seine Riesenkoteletts auspackte und die Kollegen der Brigade neidisch gucken ließ.“

Um den Küchenfrauen in der Matsch aber Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sie bemühten sich Tag für Tag um eine akzeptable Pausenversorgung. Das halbe belegte Brötchen kostete zwischen 20 und 30 Pfennigen, die Tasse Bohnenkaffee 50 Pfennige. Mittags gab es meistens zwar nur einfache Wahlessen, aber die kosteten in der Regel auch nur bis zu 90 Pfennige pro Portion. Der Nachschlag war sogar kostenlos. Den Rest zahlte der Betrieb.

Jetzt weiß ich aber noch immer nicht, was es mit der Bezeichnung Matsch auf sich hat. Das klingt doch irgendwie nach einem unsauberen Gematsche mit den Fischen“, meint Jan, „da könnte einem doch der Appetit vergehen“.

Der Begriff Matsch oder Fischmatsch ist aber alles andere als etwas Unseriöses. Ein Blick in die „Chronik der Stadt Barth“ von Wilhelm Bülow ist hier sehr hilfreich. Denn dort schreibt Bülow auf Seite 392 folgendes:

1861 „schien eine neue Erwerbsquelle sich der Stadt Barth eröffnen zu wollen in der Herstellung von Herings=Konserven. Schon längst war es bekannt, daß man gebratene Heringe in Essig für lange Zeit genießbar erhalten konnte, wenn man sie luftdicht in kleinen hölzernen Fässern verschloß. Nun gelang es dem schon früher genannten Heinr. Häfcke, der bis dahin eine Leihbibliothek hatte, eine Weinsoße zu erfinden, in welcher die Heringe, wenn sie einfach gereinigt mit dieser in Gefäße von Blech verpackt wurden, sich schön frisch und sehr schmackhaft erhielten.

In kurzer Zeit hatte er auswärts viele Kunden; sein Geschäft blühte empor und brachte ihm reichen Gewinn. In seinen Geschäftsreklamen, an denen er es sich nicht fehlen ließ, pflegte er „Barth an der Ostsee“ als Ort des Geschäfts zu nennen, und seit dieser Zeit wurde die Stadt oft und sogar amtlich so bezeichnet. Seine Erfolge reizten natürlich auch andere unternehmungslustige Leute zur Nachahmung, und so entstanden denn in kurzer Zeit viele Häuser, in denen man sich mit der „Matscherei“ (so nannte man hier das Einlegen der Heringe) beschäftigte.“

Matscherei oder Matsch ist also, wie Bülow es schildert, ganz einfach die Bezeichnung für einen Vorgang bzw. eine Tätigkeit beim Bearbeiten und Verarbeiten von Fischen. Man darf das aber nicht verwechseln mit einer gelegentlich praktizierten Praxis in der Herstellung von Pressfisch, der unter Umstanden als Fischfilet serviert werden könnte. Da werden Fischreste vom Filetieren in Tanks gesammelt und kommen in einen Separator. Der löst die Gräten vom Fleisch, auch die Köpfe bleiben übrig. Was der Separator danach ausspuckt, ist auch eine Art Fischmatsch. Allerdings ist dieses Zeugs kaum jemandem zuzumuten, auch wenn es gesundheitlich unbedenklich sein sollte.

Igittigitt“, stöht jan, „das stelle ich mir vor wie Lungenhaschee.“

So ähnlich kannst du dir das vorstellen, nur der Geruch ist natürlich ein anderer,“ feixt Fiete.

Das kann man essen, ohne dass man daran stirbt? Mich würgt es,“ ist Jan´s Reaktion.

Ist doch alles nur halb so schlimm. Es gibt entsprechende Kochrezepte, wie Fischmatsch kultiviert auf den Teller gebracht werden kann. Fischmatsch ist nicht nur in Barth ein bekanntes Wort, in ganz Norddeutschland kennt man es.

Ich habe gelesen, dass das, was einst als kreative Resteverwertung für Seemänner erfunden wurde, heute als regionale Spezialitäten gehandelt wird. In Schleswig-Holstein zum Beispiel kannst du im Restaurant „Lecker Fischmatsch mit dicker Rübe“ auf der Speisekarte entdecken. Das ist aber nicht unbedingt der gleiche Fischmatsch, wie ich dir eben von dem Separator erzählt haben. Aber der Begriff Fischmatsch ist doch an der Küste etwas ganz Normales.“

Bleiben wir noch etwas bei der Chronik von Bülow und verfolgen, was uns der Chronist zur Barther „Matscherei“ sonst noch überliefert hat: „Alle sind wieder eingegangen, nur das große F.W. Krügersche Geschäft ist in die Höhe gekommen und jetzt noch in Blüte, während auch das von Häfcke mit dem Tode seines Gründers aufhörte. Friedr. Wilh. Krüger war Anfang der 70er Jahre Schlächtermeister in der Dammstraße; er betrieb aber nebenbei die Matscherei (vielleicht schon seit 1861). Diese machte er dann zu seinem Hauptgeschäft und verlegte es nach der Langen Straße Nr. 5 – 1880 waren Häfcke und Krüger noch Konkurenten; auf der Ausstellung erhielten beide Auszeichnungen, der erste die Bronzene Medaille, der zweite eine ehrenvolle Anerkennung. Beide wurden Hoflieferanten.“ […] Die Fabrikate werden teils in Deutschland und den sonstigen europäischen Ländern abgesetzt, teils auch gehen sie über See, namentlich nach den Tropenländern. Der Gründer hatte seine beiden Söhne, Otto und Emil Krüger, in seinem Geschäft. Emil ist im 39. Jahre am 19.3.1908 gestorben; etwa 2 Monate später, am 29.5.1908, starb im 79. Jahre der Vater als Königl. Preuß. Hoflieferent. Seit seinem Tode ist noch jetzt Otto Krüger der Inhaber des Geschäfts.“

Angefangen hatte die Fabrik 1861 mit zwei Arbeiterinnen. Um die Jahrhundertwende waren es dann schon 100. Natürlich litten auch die Betriebe in Barth unter den Auswirkungen des 1. Weltkrieges. Die Fischkonservenfabrik erholte sich jedoch schnell und hat sich im großen Konkurrenzkampf im Nahrungsmittelbereich „Fisch“ durchgesetzt. Der 2. Weltkrieg machte alles wieder zunichte. Die Fischkonservenfabrik war hoch verschuldet. Sie begann die Nachkriegszeit als Offene Handelsgesellschaft F-W. Krüger. Umfangreiche Regierungsaufträge sicherten trotz Verschuldung die Zukunft. 1953 siedelten die Besitzer Otto Krüger und F.W. Krüger jun. in die Bundesrepublik über, die Stadt Barth übernahm nun den Betrieb, der am 12.Dezember 1956 als VEB Fischverarbeitung Barth in das Handelsregister eingetragen wurde.

Apropos Matscherei“, nimmt Jan den Faden wieder auf und fragt seinen Freund Fiete, „erinnerst du dich eigentlich noch an Mieke?“

Nee, wer ist denn das?“

Du warst doch ganz früher mal in Barth-Stein zu Hause? Dort wohnte auch eine Frau, die in der Barther Fischmatsch gearbeitet hat. Mieke nannte man sie. Ist wohl eine Abwandlung von Marie oder Maria. Aber jeder kannte sie nur als Mieke.“

Maria? Im Lateinischen bedeutet das "Die von Gott geliebte", also einen schönen Namen hatte deine Mieke. Was hat Mieke denn hier gemacht in der Matsch?“

Ach, mein Gott, sie hat die Küt geschaufelt.“

Küt? Sind das nicht die Abfälle, die beim Ausnehmen von Fischen anfallen?“

Küt sind die Fischabfälle, die es zu entsorgen sind. Keine angenehme Arbeit für die damit Beschäftigten. Die Küt ist glitschig, sie stinkt zum Himmel und es krabbeln, besonders bei warmem Wetter, Unmengen von Maden darin herum. Das war die Arbeit, die Mieke zu verrichten hatte. Vor dem Gebäude, zur Hafenseite hin, standen große stählerne Bottiche, die durch Mieke per Schaufel mit der Küt befüllt wurden. Auch spezielle Anhänger, die mit Traktoren oder LKW abgeholt wurden, standen dafür bereit. Da diese Fahrzeuge lediglich notdürftig äußerlich gereinigt wurden, benötigt man nicht allzu viel Fantasie, um sich deren Aussehen und deren Geruch vorzustellen. Doch Mieke, angetan mit einer grauen Igelitschürze und mit Kopftuch, hatte, völlig unbeeindruckt von solch misslichen Arbeitsbedingungen, immer ein gutmütiges Lächeln im Gesicht, war guter Laune und freundlich zu jedermann.

Küt ist ein Ausdruck, der vermutlich im Schlachtergewerbe und Schlachthaus seinen Ursprung hat. In mancher Stadt findet man entsprechende Straßennamen (in Kiel die Küterstraße, in Rostock den Küterbruch) oder auch Stadttore deren Name auf das Gewerbe der Küter hinweist (Kütertor in Stralsund). Küter, oder auch Kuttler, sind ausgebildete Fleischer (in Süddeutschland Metzger) mit Spezialisierung auf Darm- und Innereienbearbeitung. In Niedersachsen werden die Schlächter, die nur das Vieh anderer Hauswirte schlachten, Küter genannt.

Und dann sind da noch „Sandkasten-Küter“.Das sind die Kinder, die so gerne in in der Modder gatschen, wer kennt das nicht aus der eigenen Kleinkindzeit? Mutter schimpft dann immer, du sollst nicht so gatschen. Viele sagen aber auch kütern, statt gatschen. Meine Opa sagte in seinem ostpreußischen Dialekt dazu „Jungelken, tu dir nich so bekleetern“.

In diesem Zusammenhang trifft das zu“sagt Fiete zu Jan, „was du eingangs sagtest, dass die Matscherei bezüglich des Einlegens der Heringe, wie etwas Unsauberes klingt. Aber Matschen ist eben nicht gleich Matschen, wie du siehst.“

 

1971 - Mit Zollboot ZB 302 in den Westen

Jan Hollerbusch bekommt von dem ehemaligen Werftarbeiter Hinrich Godehanns eine Geschichte zu hören, die er als nicht glaubwürdig bezeichnet. Doch die Schilderung von einem Zollboot der DDR in der Zeit des Kalten Krieges beruht auf einer schier unglaublichen, aber dennoch tatsächlichen Begebenheit. Godehanns selbst war kein Beteiligter, seine Detailschilderungen sind nicht unbedingt für bare Münze zu nehmen. Es handelt sich um eine Schilderung, die er aus Erinnerungen, Erlebtem, Gehörtem und Gelesenem wiedergibt. Eine Geschichte, die den damals zuständigen Funktionsträgern nicht nur viel Spott und Häme, sondern vielen auch sehr viel Ärger eingetragen haben dürfte.

Bestimmt ist es etlichen Barthern noch im Gedächtnis geblieben, dass eines Tages ein Zollboot aus dem VEB Schiffbau- und Reparaturwerft Barth verschwand um in Dänemark wieder aufzutauchen. Es handelt sich hierbei um das Zollboot der DDR „ZB 302“. Godehanns wurde durch einen Beitrag in einer Tageszeitung sowie durch Fotos im Internet wieder daran erinnert.

Er selbst war recht nahe am Geschehen dran damals, so berichtet er, wenn auch als Unbeteiligter.Er ist mit den Geschehnissen in der Barther Werft und deren Werdegang von 1950 an recht gut vertraut. Er hatte noch unter dem Werftbetreiber Gustav Sanitz dort seine Lehre gemacht. Auch wohnte Hinrich Godehanns seit 1956 in unmittelbarer Werftnähe und ein Foto auf Facebook mit dem alten Eingangsbereich zur Bootswerft ließ bei ihm alte Zeiten Revue passieren. So weiß er etwas von einem ganz bestimmten damaligen Nachtwächter zu berichten. Nachtwächter, so wurden die Pförtner in jener Zeit genannt. Denn Pförtner im heutigen Verständnis waren das ja nicht. Sie kamen, wie es auch in der Bootswerft der Fall war, erst dann zum Dienst und drehten ihre Kontrollrunden, wenn die Belegschaft Feierabend und das Gelände verlassen hatte. Und das von Montag bis Sonnabend, am Sonntag natürlich rund um die Uhr vierundzwanzig Stunden lang.

Sonnabend verdient deshalb Erwähnung, weil zu jener Zeit noch an sechs Tagen in der Woche jeweils acht Stunden lang gearbeitet wurde. Aber Godehanns, mit vierzehn Jahren noch Lehrling, musste nur 45 Stunden in der Woche malochen. Als Jahresurlaub gab es magere 12 Tage. Als er dann Geselle war, war für alle Beschäftigten bereits die 45-Stunden-Woche verbindlich eingeführt worden. Welch eine tolle Errungenschaft, hat man da damals getönt! Welch eine hundsmiserabelige Zeit muss das damals gewesen sein, werden wohl die später Geborenen mit Blick auf ihre Eltern und Großeltern heute staunen!
Es könnte nicht von Schaden sein, wenn die Jüngeren sich bei ihrem Rentengesumse über die heutigen Alten jene harte Arbeitswelt von früher vor Augen halten würden!
Doch was hat es für eine Bewandtnis mit den Fotos bei Facebook und was Hinrich Godehanns davon zu berichten weiß?
Ein Pförtner, vielmehr ein ganz bestimmter Nachtwächter, ist oben bereits angesprochen worden. Eine Nachtwächterbude oder ein Pförtnerhäuschen gab es zunächst noch nicht. Der Nachtwächter hielt sich in dem Bürogebäude, das rechts von der Einfahrt stand, auf. Die Damen und Herren der Verwaltung hatten ja bereits Feierabend gemacht wenn er zu seinem Dienst kam, und waren nach Hause gegangen. Erst Jahre später wurde ein ausrangiertes Ruderhaus von einem Fischkutter geholt und links vom Tor als Wächterbude aufgestellt.

Auf dem Werftgelände gab es mehrere Werkswohnungen. Mit dem Verkauf der privaten Bootswerft im Jahre 1953 ging diese in so genanntes Volkseigentum über. In der Folge konnten sich die Kinder, die hier lebten, es gab da etliche, auf dem Betriebsgelände ungehindert bewegen. Sie spielten und tobten sich aus so viel sie wollten. Sie stöberten in den Hallen und Werkstätten herum soweit diese nicht zum Feierabend abgeschlossen worden waren. Als ein ganz besonderer Anziehungspunkt galt bei ihnen der inzwischen immer weiter verwildernde Garten des früheren Werfteigners Holzerland. Dieser Garten befand sich zwischen dem Kesselhaus mit dem hohen, viereckigen Schornstein und dem östlichen Werftbecken. Klar, die vielen Obstbäume darin und die vielen Beerensträucher waren für die Kinder ein unwiderstehliches Fleckchen Abenteuerland. Niemand gebot ihnen Einhalt solange sie es nicht gar zu arg trieben. Nur einer von den Bootsbesitzern, die im Werfthafen ihre privaten Segelboote zu liegen hatten, ein Reichsbahner, moserte gelegentlich herum.
Doch was hatte es mit dem besagtem Nachtwächter auf sich? Dieser Nachtwächter hieß Stibbe, war von kleinerer Statur, hatte ein spitzes Bäuchlein auf dem eine silberne Uhrkette baumelte. Er hatte ein kleines graues Spitzbärtchen. Stibbe war schon Rentner und stammte aus Stettin, wo er bis zu seiner Vertreibung 1945 im Stettiner Wasserwerk als Ingenieur gearbeitet hatte. Er war bei den Kindern sehr beliebt, er mochte gerne erzählen, war ein sehr umgänglicher Mensch und den Kindern gegenüber verhielt er sich äußerst nachsichtig.
„Ja und? Das ist es doch wohl nicht das, was du so spannend angekündigt hast. Komm doch rüber mit deiner Story,“ Jan wird ungeduldig, „an den Stibbe, glaube ich, kann ich mich auch noch vage erinnern.“
„Also, ob der Stibbe nun mit der eigentlichen Sache was zu tun hatte, weiß ich nicht mehr. Ist schon zu lange her. Man konnte noch in den sechziger und selbst anfangs der siebziger Jahre relativ ungehindert die Werft betreten. So natürlich auch die Leute von den Schiffen und Booten, die hier in der Werft zur Reparatur lagen. Die Schiffsbesatzungen hatten die Aufsicht über den Arbeitsfortgang und legten hier und da auch selbst mit Hand an. Nicht nur Kutter, Schlepper oder Schuten lagen in der Werft, Behördenfahrzeuge wurden da ebenfalls zu Reparaturen angeliefert. Unter anderem lagen immer mal wieder Schiffe und Boote des Zolls oder auch der Grenzer hier. In dem Fall, den ich nun ausklabüstern will, handelte es sich um ein größeres Zollboot. Wobei Boot etwas irreführend ist, es könnte schon als kleineres Schiff bezeichnet werden. Das Ding lag bereits seit einiger Zeit in der Bootswerft. Sollte wohl bald ausgeliefert werden. Eines schönen frühen Morgens, man schrieb den 24. Oktober 1971, noch bevor die Belegschaft der Werft zur Frühschicht kam, gingen zwei Männer am Nachtwächter vorbei auf das Werftgelände. Einer der beiden war Jörg Wieck und gehörte zu der Besatzung des Zollbootes. Der zweite Mann war Klaus Hagemann von der Stralsunder Volkswerft, ein Bekannter des Jörg Wieck“.

Wir müssen zur Probefahrt mit dem Boot rausfahren, sagte einer der beiden zum Nachtwächter.

Da dieser Mann dem Nachtwächter von Angesicht bekannt war und er wusste, dass der zur Boots-Besatzung bzw. zur Werft gehörte, gab es für ihn keinerlei Anlass, ihm nicht zu glauben. Damit nahm eine unglaubliche Geschichte einer unglaublichen „Republikflucht“ in einer unglaublichen Zeit ihren Verlauf. Die Männer starteten die Maschine, die schon seit mehreren Tagen im Dauerprobelauf war, und verließen den Werfthafen. Nur 200 Meter weiter legten sie im Barther Stadthafen wieder an. Dort wurden Jörg Wieck und Klaus Hagedorn schon von weiteren Personen erwartet. Diese stiegen auf das Boot und weiter ging es mit östlichem Kurs Richtung Barhöft und Stralsund. Die Kontrollstelle Barhöft konnte ungehindert passiert werden, denn Jörg Wieck als Zollbediensteter war den dort Diensthabenden bekannt und mit den Anordnungen und Weisungen zum Passieren von Kontrollpunkten war er wohl auch vertraut. Niemand schöpfte also Verdacht und das angeblich Probefahrt machende Zollboot 302 durfte Richtung Stralsund in die Ostsee passieren. Aber bevor es in die offene Ostsee ging, soll das Zollboot 302 noch einmal in Stralsund angelegt haben, wo weitere fluchtwillige Familienmitglieder aufgestiegen sein sollen.
„Hinrich, du schwindelst. Das gab es nicht. Beamte des Zolls mit einem Behördenboot als Fluchtfahrzeug? Nie und nimmer glaube ich dir das!“
„Doch, das war so. Natürlich kann ich nicht für die Korrektheit aller Details die Hand ins Feuer legen. Denn das Szenario stand ja in keiner Zeitung der DDR, im DDR-Fernsehen wurde das auch nicht gesendet. Und wir in Barth konnten noch kaum Westfernsehen empfangen. Wenn ich vorhin sagte, diese Sache habe einen zwiespältigen Ausgang gehabt, meine ich damit, dass sich der Nachtwächter der Bootswerft dabei ganz gewiss keinen Leninorden eingehandelt haben dürfte. Ich will nur hoffen, es war nicht der gutmütige Nachtwächter Stibbe.“

Ach nein, 1971 dürfte Stibbe ganz bestimmt keinen Wachdienst in der Werft mehr gemacht haben. Dafür war er gewiss schon zu betagt.

Die Sicherheitsorgane der DDR wurden von so einem bis dahin noch nicht vorgekommenen Ereignis völlig überrascht. Die Umstände, wie die ganze Story über die Bühne ging, lassen an James-Bond-Filme denken. Ein ähnlicher Vorgang, dass sich Beamte der DDR ein Behördenschiff sozusagen „ausleihen“ konnten um sich damit illegal in aller Sorglosigkeit aus ihrem sozialistischen Staat aus dem Staub zu machen, dürfte sich bestimmt kein zweites Mal ereignet haben.

Sind die Bootsflüchtlinge denn dort angekommen, wo sie hin wollten? Hast du dazu etwas in Erfahrung bringen können?“

Hinrich Godehanns hat im ehemaligen Gebäude der Stasi in der Rostocker August-Bebel-Straße eine Ausstellung zu dem Thema „Über die Ostsee in die Freiheit“ besucht, und stieß da auch auf die Geschichte mit dem Zollboot 302. Weiterhin erfuhr er, wie die Flucht ausging.

 

Nachbars Fiat Panda

Immer wenn dieses Ding durch die Straßen der kleinen Stadt rollt, sind ihm die Blicke der meisten Leute gewiss. Der stolze Chauffeur scheint das Interesse an seinem Gefährt sehr zu genießen. Es passiert sogar, wie erst wieder in der vorigen Woche, dass sich eine Gruppe aus dem Kindergarten um das Vehikel schart und die Lütten recht amüsiert in das Wageninnere gucken. Von Knirpsen im Alter von vier, fünf Jahren sind dann Äußerungen zu hören, die darauf Rückschlüsse zulassen, dass Papa oder Mami dieses Dings hier wohl kaum als ihre Droschke vor dem eigenen Haus parken möchten.

Die kleine Pia, ich kenne sie, sie wohnt auch in unserer Straße, fragte ihren Mit-Steppke Ole „wieso ist da gar kein Näwi drin? Unser Auto hat sogar zwei sone Dinger!“ Und weil diese Kiste eine so kurze Motorhaube hat, dass sie schon fast wie gar keine Motorhaube aussieht, möchte Klein-Kevin sich mit „der hat doch bestimmt überhaupt keinen Motor!“ als kenntnisreicher Kindersitzpassagier outen und bei Jeanette Punkte sammeln. Klar, Jeanette guckt ihren „Fachmann“ Kevin bewundernd an. Denn das Auto, um das es hier geht, ist mit seinen kurzen drei Metern Länge in ihren Kinderaugen auch gar kein richtiges Auto!

Es ist ein Fiat Panda, Baujahr 1994. Da ist selbst der Trabi größer. Aber den kennen die Kinder schon gar nicht mehr. Auch ihre Erzieherin dürfte wohl nie im Trabi gefahren sein.

Doch wer ist das denn nun eigentlich, der da so stolz mit dem mehr als zwanzig Jahre alten italienischen Zwerg durch die Straßen und Gassen der Boddenstadt kurvt? Es ist unser Nachbar Ernst-Otto. Als der ihn 1994 kaufte, wurde mit „Fiat Panda-die tolle Kiste“ für das Wägelchen geworben. Eine Kiste? Ja, das kommt wohl hin. Toll? Das trifft es aber eher nicht. Die von seinem Designer Giorgio Giugiaro selbst als „Haushaltsgerät auf Rädern“ charakterisierte motorisierte Fahrgelegenheit sieht aber auch zu ulkig aus. Die folgenden Modelle waren dann schon von etwas gefälligerem Aussehen. Die „tolle Kiste“, die sich Ernst-Otto 1994 zugelegt hatte, fiel dem Betrachter mehr durch seine kantigen und glattflächigen Formen ins Auge. Immerhin, es war sein erster Westwagen und preiswert war der dazu auch noch!

Viele, viele Jahre lang hat die Kiste mehr oder weniger treue Dienste geleistet. Nun allerdings ist Ernst-Otto mit seinem Latein am Ende, ein neues Auto muss her. Seine Annemarie fährt auch schon nicht mehr mit ihrem Gatten mit zum Bier kaufen. Ihr ist es peinlich, wenn die Nachbarn so komisch hinterher gucken. Sie hat ja ihren eigenen Wolfsburger Kleinwagen jüngeren Datums.

Weil er von technischen Dingen nicht allzu viel versteht, möchte sich der Nachbar doch lieber den Rat seines Freundes Jan Hollerbusch anhören und verabredet sich mit ihm für den nächsten Vormittag zum Klöntreff am Hafen. Fiete ist natürlich auch dabei.

An was hast du denn so gedacht? Preislich, meine ich“ fühlt Jan vorsichtig vor, denn er kennt die große Sparwut seines Nachbarn.

Na ja, muss nicht gleich einen Stern auf der Kühlerhaube sein, Jan, du weißt ja...“

Na klar, Jan weiß. „Also an einen kleinen Rumänen hast du gedacht. So einen mit ohne allem Schnickschnack drin, drauf und dran?“

Nee, ein Deutscher sollte es schon sein. Nur eben nicht so ein großer.“

Nicht so ein großer? Damit meinst du doch wohl, einen nicht so teuren Wagen.“

Ja.“

Ernst-Otto ist erleichtert, dass Jan das ausgesprochen hat, was er selber so nicht ausdrücken wollte.

Wir fahren morgen zu Mustafa, meinem Autohändler. Vergiss nicht, die Geld-Karte einzustecken.“

Da wird Ernst-Otto etwas bleich um die Nasenspitze herum, sagt aber tapfer „Ja, na klar!“

Das also wäre kurz und bündig erledigt und abgehakt. Jetzt sind die drei Freunde aber beim richtigen Männer-Thema und kommen, was sie ursprünglich überhaupt nicht beabsichtigt hatten, doch ins autotechnische Fach-Klönen.

Kennst du noch den russischen Sappo, Jan? Der hieß eigentlich Saporoshez (Запорожец), aber man sagte einfach Sappo.“

Kenne ich noch. Das war so ein kleiner, kugeliger, buckeliger, nicht zu überhörender Pistenknödel. So ähnlich wie dein hustender Klapper-Panda“

Weil der Sappo mit dem Fiat 600 eine ziemliche Ähnlichkeit hatte, wurde er auch „Fiatowitsch“ genannt. Das ist ein Kunstwort nach russischem Sprachmuster und bedeutet im Deutschen „Sohn des Fiat“.

Es war wohl noch in den späten 1950er Jahren, da standen die Autos, die in Barth verkauft werden sollten, auf dem Markt. Wo heute die Stadt-Bibliothek drin ist, befand sich vor dem großen Brand mal ein Laden, in dem es Fahrräder und Motorräder zu kaufen gab. Über diese Verkaufsstelle wurden ebenfalls die Autoverkäufe für Barth und Umgebung abgewickelt.

Der Leiter dieses Ladens hieß, soweit ich zurückdenken kann, Jordan. Ich weiß aber nicht mehr, war das nun ein Konsum- oder ein HO-Laden?“

Ich glaube auch, Jordan hieß er. Jedenfalls, die Sappos, es war mal eine Ladung so Stücker zehn eingetroffen, standen dort einige Tage auf dem Markt vor dem Laden. Einen davon hat ein Bekannter aus einem Dorf hinter Bodstedt abbekommen und hat ihn noch bis 1978 gefahren.“

Damals, vor 1990, da war es noch viel einfacher, Jan. Damals hast du das Auto bestellt und brauchtest erst einmal sechzehn Jahre lang das Geld nicht von der Bank zu holen und konntest fleißig weiter Sparbuchzinsen einheimsen. Dann durftest du eines Tages den Trabi abholen, und der musste auch wieder mindestens sechzehn Jahre durchhalten.“

Bis zum nächsten Kauf haben die drei aber nicht mehr so lange auf ein neues Auto lauern müssen, denn plötzlich haben die Barther nicht mehr Anträge gestellt und nicht mehr gewartet, sondern ganz einfach ausgesucht und gekauft. Bei Bedarf hat der Verkäufer das Fahrzeug sogar bis an das Garagentor geliefert, mit kompletter Anmeldung. Sie konnten das anfangs kaum fassen, fühlten sich regelrecht überrumpelt davon. Denn Westfernsehen mit dieser ganzen tollen Werbung konnte man in Barth nur sehr selten empfangen!

Das war ein Ding, damals 1989, was? Wisst ihr noch? Wir haben die Augen drei Mal zukneifen müssen, um das zu glauben, was wir da in Schlutup gesehen haben.“

Jan´s Augen glitzern heute noch in der Erinnerung an ihre erste Tour über die so genannte Grenze. Da standen sie, die bis dahin unerreichbaren Volkswagen, Hondas und Opels. Und zwar nicht nur zum Bestaunen standen die Fahrzeuge zu Dutzenden auf dem Firmengelände, nein, zum sofortigen Mitnehmen. Unglaublich, sogar auf Teilzahlung, fast ohne Anzahlung konnte man die haben.

Konnten die drei aber nicht, denn sie hatten noch nicht einmal ihre hundert Westmark Begrüßungsgeld abgefasst. Hätte ja sowieso nicht gereicht! Damit sind sie erst einmal in den nächstgelegenen Aldi gestürmt. Endlich konnte Fiete wieder Erdnüsse, die er bis zur Übersiedelung der Eltern in die DDR 1954 so gerne geknabbert hatte, kaufen.

Jan hatte sich kurze Zeit darauf in Lübeck eine klapprige, aber große Karosse andrehen lassen, Ernst-Otto hat noch seinen betagten Wartburg aufgebraucht und sich dann 1994 besagte „tolle Kiste Fiat Panda“ zugelegt.

Ein Auto bestellen und dann sechzehn lange Jahre warten müssen, bis man es endlich in Empfang nehmen durfte, das gab es einst tatsächlich. Das war aber nicht immer so in der DDR, erinnert sich Jan. Sogar Werbung wurde im DDR-Fernsehen für den Autokauf betrieben.

Meine Eltern hatten sich 1959 von einem Bauern eine Fernsehtruhe gekauft“, sagt Fiete.

Von einem Bauern? Warum von einem Bauern und nicht im Geschäft?“

Ja weißt du, diese Bauernfamilie, ich glaube sie wohnte bei Wiepkenhagen, wollte nicht in die LPG eintreten. Der Bauer verkaufte insgeheim so nach und nach die wertvolleren Sachen aus seinem Haushalt um dann seinen Hof zu verlassen und in den Westen zu gehen. Nicht wenige Bauern haben das getan. Besonders die, die wirtschaftlich besser dastanden, machten das in der Zeit vor 1961. Woher mein Vater den Tipp bekam weiß ich nicht. Man sprach nicht so offen darüber, damit die Behörden keinen Wind davon bekamen, dass da wieder ein Bauer abhauen wollte. Bei dem Bauernhof holten wir das Gerät ab. Das war ein recht großes Ding, ein Fernseher mit 43er Bildschirm war das, mit eingebautem Radio und Plattenspieler.“

Wir haben erst viel später einen Fernseher kaufen können“, staunt Ernst-Otto über Fiete´s Eltern.

Mein Vater hat bei unserem Umzug von Baden-Württemberg in die DDR eine recht große Summe Westmäuse in DDR-DM umgetauscht. Der Opa schickte uns danach auch immer noch Ost-Geld, das er vorher in Pforzheim eingetauscht hatte.“

Einfach so, im Brief oder sogar per Postanweisung“, fragte Jan skeptisch.

Natürlich nicht, das ging ja nicht. Nein, im Päckchen in Vaters Pfeifentabak „MB“ war es versteckt. Ging immer gut.“

Im Kino in der Wochenschau und im Deutschen Fernsehfunk, so hieß anfangs das DDR-Fernsehen, flimmerten ab 1960 gelegentlich Werbesendungen über Leinwand und Bildschirm. Die nannten sich im Fernsehen zunächst „Notizen für den Einkauf“, dann „Tinas tausend Tele-Tips“ und später „Tausend Tele Tips“, kurz „ttt“.

Geworben und informiert wurde für Gefährdungen, Gesundheits-, Versicherungs- und Arbeitsschutz, Reparaturtipps und Produktwerbung. Es wurden Puppen- und Zeichentrickfilme sowie Kurzfilme (z.B. nachgestellte Einkaufszenen von Produkten) gezeigt. Bei Letzterem fielen die Produktinformationen aber eher etwas dürftig aus.

Auch die Kochsendungen mit Kurt Drummer und die Sendungen „Fisch auf jeden Tisch“ mit Rudolph Kroboth waren Werbesendungen im DFF.

Seit 1975 war nur noch Werbung für die Bereiche Materialökonomie, Gesundheitserziehung, Versicherungsschutz, Kulturpolitik, Lotterie, Produktionspropaganda, Verkaufsraum- und Schaufenstergestaltung und Werbung für die Teilnahme an Messen und Ausstellungen erlaubt. Im Jahr 1976 wurde die Sendung dann vollständig eingestellt.

Obwohl die Auswahl in den Läden eine recht bescheidene war, wurde im Fernsehen geworben. War doch eigentlich ein Widerspruch, Fiete?“

Klar, aber die DDR-Regierung wollte dem Westfernsehen Paroli bieten. Das wirkte häufig schon richtig lächerlich bis peinlich, wie das praktiziert wurde. Der „Minol-Pirol“ warb für Schmierstoffe, mit „Der Meister sprach von Malimo“ sollte den Bürgern der DDR ein neues Nähwirkverfahren, das von Heinrich Mauersberger aus Limbach-Oberfrohna erfunden worden war, nahegebracht werden. Auch Mähdrescher „made in ddr“ bretterten per Teletips über die Bildschirme. Passt das in eine Werbesendung für Verbraucher?“

Noch unsinniger war der Spot „Why flying for you!“ von Interflug (bis zum Herbst 1958 hieß sie noch Deutsche Lufthansa). Flugreisen für Touristen dürften ohnehin nur spärlich gebucht worden sein und bei den Zielorten, sprich Ländern, gab es auch nur in ganz geringem Umfang eine Auswahl. In Richtung West durfte sowieso keine Maschine der Interflug starten. Der Spot bei ttt „Why flying for you!“ war nur Scheinwerbung um dem Westfernsehen etwas entgegen setzen zu können.

Na gut, Fiete, das mit den Mähdreschern und der Fliegerei kannste getrost in der Rubrik Ulk abbuchen. Aber weißt du nicht mehr, dass die Menschen in den Teletips auch zum Autokauf angehalten wurden?“

Ach was, das gab es? Daran erinnere ich mich aber nicht mehr.“

Welcher DDR-ler weiß das noch? Und doch war das der Fall. Beworben wurden zum Beispiel der Personenkraftwagen P70 vom IFA-Betrieb VEB Automobilwerk Zwickau und die elegante Limousine Wartburg1000 aus Eisenach.
Der P70 war wohl das erste Auto mit einer Karosserie aus Kunststoff. Auch die Barther Bootswerft hatte sich 1959 oder 1960 so eines als Chefwagen zugelegt“, sagt Jan.

Fiete erinnert sich, dass er mit eben diesem P70 im März 1961 zum Wehrkreiskommando in Ribnitz gefahren wurde, um seinen Eintritt in die NVA zu besiegeln. Derart zuvorkommend wurde später bestimmt kein NVA-Kandidat mehr umsorgt.

Hatte die Werft denn bis dahin keinen Dienstwagen für den Betriebsleiter?

Doch, das heißt, ich glaube das jedenfalls“, sagt Fiete, „das alte Auto stand, allerdings nicht mehr fahrbereit, noch einige Jahre nutzlos an der Seite eines Gebäudes auf dem Hinterhof. Es war wohl ein Auto der Marke Wanderer oder Adler.“

Gegenüber der damaligen, später dem Bau einer neuen Schlosserei und der Beton-Ringstraße wegen abgerissenen Bootsbauhalle, stand parallel dazu dieses Gebäude hinter dem Vorderhaus Hafenstraße 26. In dem vorderen zweistöckigen Büro- und Wohnhaus Hafenstraße 26, das auch zur Werft gehörte, wohnten mehrere Familien (Christen, Krohn, Tafel und Ratajczak. Familie Ratajczak setzte sich später in den Westen ab). Die Büros des Betriebsleiters (Bruno Felgenhauer), des Hauptbuchhalters (Frau Thom, später Helmut Pers) und der Lohnbuchhaltung befanden sich im Erdgeschoss. Das ebenfalls zweistöckige Hinterhaus war oben zum Teil bewohnt, der andere Teil wurde von der Werft als Lager genutzt. Unten hatten die Mieter, auch die aus dem Vorderhaus, ihre Abstellräume. Hier gab es die erwähnte ehemalige Garage, die seit 1956 der oben wohnenden Familie als Lagerraum und Hühnerstall diente.

Nach dem Verkauf der "Werft Gustav Sanitz" im Jahr 1953 (Eigentümerin war Frau Kurzweil, der Pächter Gustav Sanitz ist in den Westen gewechselt) an den VEB (K) Bootsbau- und Reparaturwerft Barth hatte man die gesamte bisherige Geschäftspost der Werft Sanitz in diese Garage gebracht und dort einfach auf dem Fußboden gelagert.

Die Briefe lagen dort knöchelhoch,“ erzählt Fiete. „Für einen meiner damaligen Schulkameraden der dort wohnte, hat mit diesen Briefmarken, die zum großen Teil noch aus der Zeit des Dritten Reiches stammten, eine Sammelleidenschaft ihren Anfang genommen, die noch heute betreibt.“

Es geschah dann um 1963 herum, als die hölzerne Fassadenverkleidung des oberen Stockwerkes entfernt wurde. Die Halb-Etage sollte zur Verschönerung einen ordentlichen Außenputz bekommen. Ein riskanter Fund kam dabei zutage. Im Hohlraum zwischen dem Fußboden der Wohnung und der darunter liegenden Decke hatte jemand etwas versteckt. In Tuch eingewickelt kamen eine Pistole sowie Ausweispapiere eines Offiziers der SS zum Vorschein.

Was tun, fragte sich der Entdecker? Einfach ins Werftbecken werfen? Beobachtet hat ihn anscheinend niemand dabei, als er die Gegenstände aus dem Hohlraum zog. Er sagte sich, wenn ich die Sachen zur Polizei bringe, bekomme ich jede Menge Scherereien. Er musste abwägen, das Ding entweder im Wasser zu entsorgen, wobei er möglicherweise gesehen werden könnte, oder die Dinge bei der Polizei abgeben. Für das Letzteres hat sich dann der Kollege aber doch entschieden. Klar, Befragungen gab es schon auf dem Revier, aber das hielt sich in Grenzen. Die beiliegenden Papiere gaben ja eindeutige Hinweise auf die Herkunft der Waffe. Die abschließende penible Spurensicherung am „Tatort“ brachte auch nichts Entscheidendes mehr ans Licht.

Na gut mein lieber Fiete, das ist ja alles sehr interessant, doch dann lass uns mal nach Hause gehen. Morgen gehen wir mit Ernst-Otto zum Autohändler und passen schön auf, dass der nix falsch mache."

Ernst- Otto ist richtig gerührt und meint: "Es ist doch einfach schön, so richtig gute Freunde zu haben,ihr seid einfach unbezahlbar.“

Klar doch, Ernst-Otto, wird schon schiefgehen.“

Das liegt auch schon wieder ein halbes Jahr zurück. Ernst-Otto ist ganz doll stolz auf seine neue Errungenschaft. Er fährt damit mehrere Male am Tag die Lange Straße runter. Keine höhnischen Blicke mehr von Kindergartenknirpsen folgen ihm. Und den Kaufpreis für den neuen Wagen hat er inzwischen auch verschmerzt. Jan hat beim Kauf noch ein bisschen was runter handeln können.

Er versuchte zwar noch, seine „tolle Kiste“ mit in Zahlung zu geben, aber der Verkäufer hat ihm ganz schnöde die kalte Schulter gezeigt.

Warum tat der so komisch, Jan, kannst du mir das erklären?“ Jan könnte zwar, tut es aber nicht, sondern grinst nur verstohlen in sich hinein.

Ach ja“, seufzt der Neuwagenbesitzer, mit sich und der Welt zufrieden, so vor sich hin, „es ist doch wirklich gut, wahre Freunde zu haben!“

 

Werftkutscher Franz

In dieser Werftgeschichte spielt Franz, der Werftkutscher, eine Rolle. Zunächst jedoch tauschen sich die beiden Freunde Fiete und Jan über ihre Eindrücke zum Hafenareal aus. Der sieht an einigen Stellen so toll aufgepeppt aus mit den vielen hölzernen Skulpturen hier an den Anlegern und auf dem großen Platz beim Westhafen, aber auch hinterm Speicher-Hotel.

Dem Platz würde ein bisschen Action gut tun“, meint Jan.

Wie meinst du das? Hier, diese Skulptur zum Beispiel, diese da auf dem Sockel, mit den Fischen drauf, sind eindeutig Heringe aus unserem Stadtwappen. Macht doch einen ganz prima Eindruck. Das ist Kunst! Hafenkunst sozusagen, da wo früher Braunkohle- und Brikettberge lagen. Das ließ doch unseren Hafen damals nicht so gut aussehen.“

Hast ja recht."

Darum geht es mir doch aber gar nicht. Ich wollte vorhin nur sagen, diese Gegend hier ist ganz einfach schön geworden.“

Mit Abstrichen, mit Abstrichen! Der große Hafenplatz hier hinter uns ist mir einfach zu trist. Zwar ordentlich, sauber und gepflegt, aber nicht zum groß Herzeigen, wenn du mal Besuch herum führst.“

Und wie stellst du dir das denn vor?“

Weiß ich auch nicht, aber doch irgendwie aufregender.“

Du, da fällt mir gerade eine aus heutiger Sicht unglaubliche Geschichte ein, Fiete, das muss ich dir unbedingt erzählen. Ein Ereignis aus dem Jahr 1956 nämlich. Zu der Zeit wohntet ihr noch in Barth-Stein.“

In dem Jahr sind wir gerade hier nach Barth in die Hafenstraße gezogen. Mein Vater arbeitete in der Bootswerft. Was war denn das für eine tolle Sache, die dir da eben eingefallen ist?“

Von den früheren Braunkohlebergen am Hafenplatz habe ich doch vorhin gesprochen. Es gab in Barth drei Kohlehandlungen: Walter Krusemark aus der Fischerstraße, schräg gegenüber in der Hafenstraße den Kohlehandel Eduard Völcker und im Gärtnergang den VEB Kohlhandel. Der VEB spielte allerdings so gut wie keine Rolle bei der Belieferung der Barther Haushalte. Walter Krusemark lagerte seine damals mehr oder weniger wertvollen Eierbriketts in einem gesonderten Schuppen. Dieser hatte zwei Zugänge, einen vom Innenhof und einen zweiten von außen, zum offenen Hafenplatz hin. Beide wurden natürlich nach Feierabend verschlossen.

Und da hatte es doch tatsächlich jemand gewagt, an dem Schuppentor eine antisowjetische Parole anzubringen. Es war im Herbst 1956, die antikommunistischen Unruhen in Ungarn sorgten auch in der DDR-Führung für Aufregung und politische Unsicherheiten. Dort stand also eines schönen Morgens zu lesen IWAN WEG in schwarzer Farbe auf dem rostrot gestrichenen Holz. Das war natürlich ein äußerst riskantes Ding. Die damalige Staatsmacht verstand bei derartiger Aufmüpfigkeit keinen Spaß. Dieser Rebell musste damit rechnen erwischt zu werden. Mit der Folge, eine Fahrkarte nach Sibirien ohne Rückfahrtgarantie zu bekommen. Selbst ein Todesurteil lag im Bereich der Möglichkeit. Es wurde aber nie bekannt, dass die Häscher Erfolg gehabt hätten. Überhaupt schienen Polizei und Staatssicherheit gepennt zu haben. Denn diesen Schriftzug konnten wir Barther auch noch zur Frühstücksstunde genießen, bevor er schließlich mit schwarzer Farbe übertüncht worden war.“

Jan hatte in der Schule davon erfahren und ist während der Mittagspause zum Hafen runtergelaufen. Aber da war eben nur noch die frische schwarze Farbe zu sehen. Der Schriftzug IWAN WEG wurde mit der Zeit wieder sichtbar. Ob das Schuppentor danach ausgewechselt wurde, weiß Jan aber nicht mehr.

Guck doch mal, da haben wir nun so eine teure und große neue Mole bekommen. Ist das etwa nix?“

Hör bloß auf damit, sag ich dir!“

Und hier im Westhafen die vielen Segler, Yachten und Schiffe, hinter uns schöne neue Wohnhäuser und schicke Lokale. Hier war doch früher nicht mal mehr Wasser im Hafenbecken. Nur Schlick und Schlamm. Wenn wir stärkeren Wind aus West hatten und der auch noch etwas stärker war und länger anhielt, dann guckte dort, wo jetzt gerade diese größere Yacht durchläuft, Modder raus. Wenn das Zeugs nicht so schlammig und butterweich gewesen wäre, hättest du dort doch glatt dein Zelt aufschlagen können.“

Fiete, das stimmt. Da muss ich dir beipflichten. Auch mit der Angelei war hier im Westhafen nicht groß was zu machen. Aber, weißt du noch, da hinten in der Ecke, dort in Richtung ehemaliger Schlosserei Bergmann, da lag ein Wrack. Aus Holz, ziemlich versackt im Hafenschlick. Nur ganz wenig guckte da noch raus. Als 15-Järiger habe ich dort geangelt, weil die Älteren mir erzählten, dort beim Wrack gäbe es gaaaaanz dicke Aale! Vor mir sind sie wohl immer geflüchtet, die gaaaaanz dicken Aale meine ich, die habe ich da nämlich nie gefangen.“

An das Wrack erinnere ich mich auch. Es war wohl ein größerer Fischkutter.“

Und das Seltsamste war, das Ruderhaus von diesem Schiff soll jemand abgebaut und in seinem Garten als Laube aufgestellt haben. Auf der Kuhweide war das wohl. Oder steht es noch heute dort?“

Wenn es noch immer dort steht, wäre es ja kein Wunder. Denn die Dinger wurden früher aus guter Eiche gebaut, das hält eine kleine Ewigkeit bevor es verrottet ist.“

Sie gucken sich an und lachen. Sie wissen nämlich, in wessen Garten das Ruderhaus gebracht wurde.

Fiete fängt wieder an: „Weißt du auch, dass die Werft früher zwei Werftbecken hatte? Die Insel dort ist erst Anfang der Sechzigerjahre entstanden. Denn die alte Fahrrinne reichte für die größeren Schiffe, die dann eines Tages in der Werft gebaut wurden, nicht mehr aus. Auch verschlickte sie immer mehr durch den Graben, der vom Schöpfwerk kommt. An der heutigen Insel, in der alten Ausfahrt lag eine Schute als ein weiteres Hindernis, auf die Seite gekippt und abgesackt.“

Ja, und das Schöpfwerk wurde noch durch ein richtiges Windrad angetrieben. Mann, was klapperte das Windrad und das ganze Gestänge bei stärkerem Wind! Später wurde das Windrad durch ein neues Schöpfwerk mit elektrisch betriebener Pumpe ersetzt."

Und der Graben wurde um einige Meter versetzt, dahin, wo er heute verläuft.“

Mensch Fiete, das weißt du noch? Du warst doch damals noch gar nicht so lange in Barth zu Hause. Dann weißt du vielleicht auch noch, dass dort von den Anglern der Werft das tiefer liegende und sumpfige Gelände, das an das Hafenbecken vom Dampfsägewerk Gustav Wiegels grenzt, aufgefüllt wurde. Mit Müll und Unrat. Ein Anglerheim haben sie aus Abbruchmaterialien selbst gebaut und dann auch fleißig darin gefeiert. Ein Bootsschuppen, gar nicht mal so klein, kam dann mit der Zeit auch noch dazu.“

Und wenn du durch die kleine Pforte das Vereinsgelände betreten hast“, erinnert sich Fiete, „stand gleich links neben dem Tor ein ausrangierter metallener Aufbau von einem Schiff. Das diente unter anderem als Lager für die Bierkästen, aber nicht nur!“

Wie gesagt, das war vor etwa fünfzig Jahren. Jetzt fällt Jan noch etwas ein.

Das kannst du nicht mehr kennen, die Werftgebäude bestanden nach dem Verkauf im Jahr 1953 an die Stadt noch überwiegend aus Holz. Und an der Straße, gleich hinter dem Zaun, gab es einen Pferdestall, natürlich auch ein Gebäude für einen Pferdewagen.“

Sag an, die Werft hatte Pferde?“ Fiete guckt Jan jetzt doch etwas ungläubig an. Das war ihm nämlich nicht bekannt.

Ja, Pferde mit Wagen. Allerdings kann ich mich nur an ein Pferd erinnern“.

Der Kutscher hieß Franz Albrecht, ein überaus gutmütiger Mensch. Er wohnte zusammen mit seinem Bruder, der auch in der Werft arbeitete, in der Trienseestraße. Ein jüngerer Werftarbeiter, ich kannte ihn gut, er hieß Hinrich Godehanns, foppte den Franz manchmal mit der spaßig gemeinten Bemerkung „Franz du bist ein Ausbeuter!“

Franz war leicht ins Bockshorn zu jagen und reagierte dann verdutzt und stotterte „ich ein Ausbeuter, wieso denn?“

Du beutest dein Pferd aus, du lässt es für dich rackern. Du bist ein Kapitalist!“

Da lachte Franz erleichtert, er hatte den Spaß verstanden, auf den er aber immer mal wieder hereinfiel.

Doch die Werft musste sich neuen Herausforderungen stellen, andere Schiffe sollten gebaut werden. Ein Pferd hatte da keinen Platz und auch keine Berechtigung mehr Es wurde abgeschafft. In dem leerstehenden Stall richtete man eine neue Tischlerei ein. Die Zeit, in der auf der Werft noch die hölzernen Fischkutter gebaut wurden, neigte sich 1956 endgültig dem Ende zu. Auch Schiffszimmerleute, die neben der alten Tischlerei mit ihren großen Zimmerer-Äxten hier aus Baumstämmen von Hand die Maste für die Kutter gehauen hatten, sah man nicht mehr.

Die bisherige Tischlerei war abgerissen geworden. An deren Stelle entstand dafür eine Anlage für den Bau von Schiffssektionen in Stahlbauweise. Es nahte die Ära der Serienfertigung, zum Beispiel der Schubprähme. Doch die Dämpfkammer

Diesen Veränderungen war ein Beschluss des Rates des Kreises vorausgegangen.

Der Rat des Kreises hatte nämlich 1954 beschlossen, mehrere kommunal verwaltete Betriebe als Kreisbetriebe zu übernehmen. In Barth waren davon der örtliche Schlachthof, die Bootswerft, die Korbflechterei in Barth-Stein und die Holzindustrie betroffen.

Die Abteilung Kommunale Wirtschaft gab unter Bezugnahme jenes Beschlusses eine Vorlage mit Datum vom 21. Januar 1955 in die Stadtvertretersitzung:

... Mit der Übernahme der Bootswerft und der Holzindustrie sind wir aus folgenden Gründen einverstanden:

Die Bootswerft ist ein Betrieb, der sich von Holzschiffbau auf Eisenschiffbau umstellen muss, um rentabel zu sein. Zur Beschaffung der notwendigen Maschinen ist dieser Betrieb beim Kreis besser aufgehoben, weil der Kreis eher wie wir die Möglichkeit hat sie zu beschaffen.

Die Holzindustrie ist, da innerhalb des Kreises mehrere gleichartige Betriebe bereits zusammengefasst sind, dort ebenfalls besser betreut mit Materialien wie wir es können.

Wir schlagen daher vor, die Bootswerft und die Holzindustrie in den Kreishaushalt zu übernehmen, die anderen Betriebe wie bisher bestehen zu lassen.“

In der Bootswerft begann damit nun der Stahlschiffbau. Vorbereitend dafür wurde die bisherige Tischlerei, eine Holzbaracke, abgerissen und in den Räumlichkeiten des nicht mehr benötigten Pferdestalles eingerichtet.

Im Hinblick auf die beiden anderen Betriebe, die der Kreis ebenfalls in seine Regie übernehmen wollte, vertrat man 1955 im Barther Rathaus die Meinung „... Die Holzindustrie ist, da innerhalb des Kreises mehrere gleichartige Betriebe bereits zusammengefasst sind, dort ebenfalls besser mit Materialien betreut wie wir es können. Die Korbflechterei und der Schlachthof sind nach eigener Meinung als örtliche Industrie beim Rat der Stadt besser untergebracht als wenn sie Kreisbetriebe wären. Auch wir sind der Meinung, diese beiden Betriebe als örtliche Industrie bestehen zu lassen ...“

Bei der Werftbezeichnung blieb es aber weiterhin unverändert, und zwar bis zum Jahr 1964, „VEB (K) Bootsbau- und Repararurwerft Barth“. Erst danach verschwand das zusätzliche „(K)“. Der Betrieb hieß nun „VEB Schiffbau- und Reparaturwerft Barth“.

 

Anno 1953 – Das Geld war knapp

Das Geld war knapp, der Magen knurrte aber trotzdem. Um ihre Familien über die Zeit von einem Zahltag bis zum nächsten mit Futterage zu versorgen, mussten die Frauen sich in den Nachkriegsjahren etwas einfallen lassen. Und das taten sie auch.

Da war zum Beispiel die aus Stettin vertriebene, allein stehende Kriegswitwe Magdalenchen Godehanns. Ihr Mann Rurik Godehanns ist im November 1941 als Panzerfahrer bei der Stadt Wolokolamsk (russisch Волокола́мск) ums Leben gekommen. Vor dem Krieg arbeitete Rurik Godehanns im Stettiner Hafen als Bollwerkaster (Hafenarbeiter). Die Mutter landete mit ihren beiden Kindern nach der Vertreibung zunächst auf einem Bauernhof bei Damgarten. Eine eigene Wohnung wurde ihr 1948 im Lager Barth-Stein zugewiesen.

Ihr ältester Sohn, Hinrich Godehanns, hatte in der Barther Bootswerft in der Hafenstraße 26 Arbeit gefunden. Dieser Hinrich holte in der Mittagspause des öfteren ein übergroßes, gebratenes Kotelett aus seinem Essenspaket. Die anderen Kollegen glubschten mit verstohlenen Blicken zu ihm rüber, mochten ihn aber nicht deswegen ansprechen. Das hätte eventuell Neid vermuten lassen können. Was es ja eigentlich auch war, aber wer lässt sich schon gerne solch unkollegialen Gedanken nachsagen! Zu gerne hätten sie, wenigstens ab und zu, ebenfalls so ein Riesenstück gebratenes Fleisch zwischen ihre Zähne genommen statt an ihren mit billiger Blutwurst belegten Schwarzbrotstullen zu kauen. Wie macht seine Mutter das nur, fragten sich insgeheim die Kollegen aus der Brigade, hatte sie doch außer Hinrich noch zwei weitere, jüngere Kinder. Und Hinrich verdiente nicht mehr Geld als sie selber auch!

Dabei war das mit dem Riesenkotelett eine ganz simple Angelegenheit, die aber nicht nach jedermanns Geschmack gewesen wäre. Drei Grundstücke weiter neben der Hafenstraße 26 befand sich der VEB (G) Schlachthof Barth. Die beiden Grundstücke zwischen der Nummer 26 und dem Schlachthof, das waren der Lagerplatz der Fischfabrik sowie das mit der Villa Teetz.

In diesem Barther Schlachthof wurden in dem Jahr, in welchem diese Handlung angesiedelt ist, vom 1. Januar bis zum 31. Dezember fast 13.000 Tiere geschlachtet: 972 Rinder, 1.737 Kälber, 188 Schafe sowie 10.043 Schweine. Leider waren zum Zeitpunkt des Schlachtvorgangs aus den unterschiedlichsten Gründen nicht alle Tiere gesundheitlich topfit. Was zur Folge hatte, dass ein Teil des Fleisches nicht als vollwertig galt, aber trotzdem für den Verzehr in den Verkehr gebracht werden konnte. Im Jahr 1953 war das immerhin bei 127 Rindern, 105 Kälbern, 43 Schafen sowie 518 Schweinen der Fall.

Bei Wikipedia wird Freibank wie folgt definiert: „Die Freibank war eine Einrichtung zum Verkauf minderwertigen, aber nicht gesundheitsschädlichen Fleisches, das in der Fleischbeschau als „bedingt tauglich“ eingestuft wurde. Freibankfleisch stammte aus Schlachtung von Tieren, die eigentlich nicht für die Schlachtung bestimmt waren, das heißt die z. B. durch Unfälle, Notschlachtungen etc. zu Tode gekommen waren. Die Preise waren hier durchgehend niedriger als in den übrigen Verkaufseinrichtungen. Die Verwertung älterer Tiere war möglich, aber nicht die Regel, sondern es wurden mehr jüngere Tiere verarbeitet, die verunglückt waren oder deren tierärztliche Behandlung wirtschaftlich nicht mehr sinnvoll war. Die veterinärmedizinischen Untersuchungen für Fleisch, das in der Freibank verkauft wurde, waren aber erheblich gründlicher als bei allen Normalschlachtungen. Dadurch war es möglich, Fleisch in hervorragender Qualität zu minimalem Preis in der Freibank zu erwerben.“

Das minderwertige Fleisch dieser Tiere wurde dann direkt im oder am Schlachthof in der Hafenstraße 20 als sogenannte Freibankware für einen deutlich geringeren Preis verkauft. Mit solchem Freibankfleisch versorgten viele Bartherinnen, Männer ließen sich dort so gut wie nie sehen, ihre Familien. So auch Magdalenchen Godehanns, die Mutter unseres erwähnten Kollegen, der so gerne mit seinen Riesenkoteletts die Brigademitglieder zu beeindrucken versuchte.

Doch um von dem Freibankfleisch die besseren Stücke zu bekommen, verkauft wurde einmal in der Woche oder auch vierzehntägig, war nicht selbstverständlich für alle Kunden. Da mussten sie schon Beziehungen zu bestimmten Personen haben. Später, In den 1960er Jahren soll einmal von einer Gerichtsverhandlung gemunkelt worden sein, wobei es um Schiebereien mit Innereien, z.B. Leber, gegangen sein soll. Weil es heutzutage solche „volkswirtschaftliche Engpässe“ nicht mehr gibt, spricht auch niemand mehr davon.

Was Magdalenchen Godehanns und den vielen anderen Freibankkundinnen sehr gelegen kam, bedeutete für den Schlachthof natürlich ein ständiges Verlustgeschäft. Das fand aber im Betriebsergebnis von vornherein seine planmäßige Berücksichtigung.

Preisgünstiges Fleisch war auch in der Baustraße zu bekommen, beim Pferdeschlachter Krüger. Mancher sagte scherzhaft, dort kostet der Zentner Hottehühfleisch eine Mark, was natürlich maßlos überspitz war. Es soll in Barth und Umgebung Leute gegeben haben, die ganze Pferdehinterbacken gekauft und dann geräuchert haben. Ob das tatsächlich so war, ist aber nicht verlässlich überliefert.

Als sich die Pferdeschlachterei auf ihrem Höhepunkt befand, etwa ab Mitte der 1960er Jahre, gab es in der HO-Gaststätte „Zum Franziskaner“ sogar eine so genannte Pony-Bar mit Gerichten aus Pferdefleisch in allen möglichen Varianten .

Personen und Fahrzeuge mussten beim Betreten bzw. Befahren des Betriebsgeländes eine so genannte Seuchenwanne in der Toreinfahrt passieren. Diese Wanne war ein mit einem Desinfektionsmittel gefüllter flacher Behälter zur Desinfektion der Schuhe von Personen oder der Räder von Fahrzeugen.
Das Tor direkt zum Schlachtraum wurde häufig nicht geschlossen, so dass Passanten vom Gehweg aus zuschauen konnten, wie Kühe und Kälber getötet wurden. Besonders Kinder sind ja neugierig, sie riskierten dann und wann einen Blick auf diese Vorgänge, die nicht unbedingt für sie bestimmt waren.
Wenn die Tiere zum Schlachthof gebracht wurden, geschah das nicht so wie man das heute kennt. Es gab noch nicht diese Tierfabriken, wo Tausende Tiere industriemäßig als Schlachtvieh gezüchtet und mit großen Viehtransportern durch halb Europa zu den großen Schlachthöfen kutschiert werden. Es war die Zeit, in der in und um Barth herum kleine Bauernhöfe die Regel waren. Die Landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaften (LPG) bildeten die Ausnahme, wurden belächelt, verspottet und auch gehasst. In den Ställen der Bauern wuchs das Vieh heran wie es schon immer gemacht wurde, in Einzelhaltung und in Boxen mit Stroh als Einstreu. Ausgemistet wurde mit der Gabel und mit der Schubkarre auf den Misthaufen in der Hofecke gekarrt.
Wenn die Tiere Schlachtreife hatten, oder der Bauer mit seinem staatlichen Plansoll dran war, fuhr er mit dem Pferdewagen von Kenz, Spoldershagen oder sonst woher nach Barth und lieferte die Tiere dort in der Hafenstraße ab. Der Hafenplatz fungierte an solchen „Ablieferungstagen“ als Parkplatz für Pferde und Pferdewagen. Wie viele das waren, daran erinnere ich mich nicht mehr, aber es war immer eine recht stattliche Anzahl.

Wenn die Bauern die Kühe, die Schweine und die anderen Tiere verscherbelt hatten, nahmen viele einen solchen Tag in der Stadt zum Anlass, um mal selber so richtig die Sau rauszulassen. Sie kehrten ein, wie man so sagt. Und zwar in die Kneipe in der Fischerstraße/Ecke Hafenstraße. Man nannte dieses Lokal damals „Uhse“.

Dort flossen Richtenberger Köhm und Stralsunder Hellbier in Strömen. Die Stimmung stieg, die Gepräche nahmen immer mehr an Lautstärke zu, und so manche harte, schwielige Bauernfaust fand ihr Ziel in einem Gesicht in dem sie eigentlich nichts zu suchen hatte. Die Deutsche Volkspolizei schaute im Wissen solcher ausgelassenen Bauernfestivitäten gelegentlich vorbei. Größere Einsätze waren aber nie vonnöten. Die Bauern kannten sich, sie wussten, dass ein gelegentlicher Ausrutscher spätestens beim nächsten „Ablieferungstag“, an dem man sich bei Uhse wieder zum Umtrunk treffen würde, vergessen und verziehen sein wird.

Gustav, ein friedfertiger, schon älterer Bauer aus dem Dorf gleich hinter der Barthe, genehmigte sich an solchem Tag immer einige Bierchen und Körnerchen mehr als ihm gut tat. Er torkelte anschließend zum Fuhrwerk auf dem Hafenplatz. Dort angelangt, mussten ihm manchmal andere Zechkumpane dabei behilflich sein, da rauf zu kommen. Kaum oben, kippte er zur Seite und fing an zu schnarchen. Das war für den Wallach Bruno das Signal, jetzt muss er sich in Bewegung setzen. Er fand den Weg auch ganz allein nach Hause, da konnte sich der schnarchende Bauer Gustav drauf verlassen. Wallach Bruno hatte einen unbestechlichen Instinkt, der ihn zielstrebig auf den heimischen Stallgeruch zusteuern ließ.

Die Hausfrauen waren also, wie bereits beschrieben, stets knapp bei Kasse. Die Männer wurden von ihnen der Not gehorchend kurzgehalten und vom Geld möglichst ferngehalten. Die Männer aber pflegten gerne einen leichtsinnigen Umgang mit ihrem Verdienst, wenn es die Gelegenheit mal zuließ. Deshalb hatte es sich bei etlichen Hausfrauen und Müttern eingebürgert, an Zahltagen ihren Männern schon am Werktor die Lohntüte abzufordern. Bei der Bootswerft in der Hafenstraße 26 gab es an solchen Tagen immer etwas zu gucken. Amüsante Szenen konnten beobachtet werden.

Die Werftarbeiter erhielten ihren Lohn per mehrerer Abschlagszahlungen im Monat und dann letztlich noch bei einer Restzahlung. Das war alles im Regelwerk des Arbeitsrechts der DDR gesetzlich festgelegt. Der Gesetzgeber forderte sogar, dass „dem Werktätigen ein verständlicher Nachweis über die Lohnberechnung auszuhändigen und auf Verlangen zu erläutern“ sei. So ein „Nachweis der Lohnberechnung“ hatte es, zumindest in der Bootswerft, für die Lohnbuchhalterinnen, in sich. Es musste das gesamte Zahlenwerk in eine manuell zu bedienende Rechenmaschine, die auf dem Schreibtisch stand, eingegeben und das Ergebnis von Hand für jeden einzelnen Lohnempfänger per Kugelschreiber geschrieben werden. Jeder „Nachweis“ musste von Hand mit einer Schere vom großen Gesamtbogen in einen schmalen, langen Streifen geschnitten werden. Daher wohl auch die Bezeichnung Lohnstreifen. Sicherlich war das alles ein immenser Arbeitsaufwand, bei dem den Damen im Büro möglicherweise Blasen an den Fingern wuchsen. Aber eine Bürotechnik bzw. elektronische Datenverarbeitung EDV wie es heute selbstverständlich ist, kannte damals noch niemand, zumindest nicht in den kleinen Betrieben. Die Bootswerft war mit 68 Mitarbeitern ein solches Kleinunternehmen.

Nach dem Tod des ohne Erben gebliebenen Werftbesitzers Holzerland 1945 wurde die Bootswerft von dessen Schwester Margarete Kurzweil an den Schiffbaumeister Gustav Sanitz verpachtet. Gustav Sanitz verließ 1953 Barth und nahm seinen Wohnsitz in einer

der westlichen Besatzungszonen. Die Treuhand übernahm zunächst die Verwaltung der betrieblichen Belange. Frau Kurzweil blieb jedoch weiterhin die Eigentümerin und verkaufte die Werft 1953 letztendlich an das kommunal verwaltete Unternehmen VEB (K) Bootsbau und Reparaturwerft Barth.

Nun war die Stadt Barth für die Bootswerft zuständig. Also auch für die Zahlung der Löhne und Gehälter. Da die Werft ausschließlich mit Verlusten arbeitete, musste die Stadt immer wieder Gelder zubuttern. Die Treuhandverwaltung wandte sich am 16. März 1953 an den Rat der Stadt mit der Bitte, die Gelder für noch fällige Lohnzahlungen für den Monat März auf das Konto bei der Deutschen Notenbank Barth zu überweisen. Und zwar wurden noch benötigt: Abschlagszahlung für Freitag, den 20. März 2.650 DM, Abschlagszahlung für Freitag, den 27. März 2.000 DM und für die Lohnrest- sowie Gehaltszahlung am Donnerstag, den 2. April 7.500 DM.

Freitag, 20. März 1953 Abschlagszahlung Lohn

Freitag, 27. März 1953 Abschlagszahlung Lohn

Donnerstag, 2. April 1953 – Karfreitag: Lohnrest- und Gehaltszahlung

(Unterschrift) Jordan

Nach den beiden Abschlagszahlungen mit den geringeren Summen war dann die Restzahlung dran. Mit dieser Restzahlung für den jeweiligen Monat bekamen die Werftarbeiter einen etwas größeren Betrag ausgezahlt. Damit die Männer an einem solchen Tag nicht auf allzu dumme Gedanken kamen und in der Kneipe über die Stränge schlugen, wurden sie von deren Ehefrauen pünktlich zum

Feierabend bei der Werft in der Hafenstraße/Ecke Eichgraben, gegenüber vom Werfttor, „liebevoll“ abgefangen. Dort standen sie, kopftuchbedeckt und mit der leeren Einkaufstasche aus Igelit an der Hand, um den Männern sicherheitshalber den Lohn abzuknöpfen.

Da lauerten sie also, die Ehefrauen, dort an der Ecke, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit. Der Grund solchen Verhaltens war ein ganz einfacher: Viele der Arbeiter zog es mit dem Geld in der Tasche zuerst einmal zu Otto Wolter. Wolter war der Wirt im "Gasthaus Zur Börse", gleich am Dammtor gelegen. Bei Otto Wolter wurde dann die Lohntüte durchgebracht, wenn nicht die Ehefrauen vorsorglich am Werfttor aktiv eingegriffen und solchem Drama vorgebeugt hätten!

Damals, also vor langer Zeit, war es bei vielen Kneipern üblich, zwischen zwei Lohntagen den Stammgästen Kredit einzuräumen. Sie führten dazu ein so genanntes Anschreibebuch, in welchem die Trinkschulden festgehalten wurden. Denn immer wieder passierte es, dass ein Gast mehr vertrank, als er momentan eigentlich berappen konnte. Der Wirt hatte also ziemliches Vertrauen in bestimmte Stammgäste. Heute nennt man solches Zechprellerei, und Anschreiben durch den Wirt gibt es vermutlich auch schon längst nicht mehr. Otto Wolter von der Börse war wohl der letzte Barther Kneiper, der so ein Anschreiber war.

Später, als die Börse durch die HO (staatliche Handels-Organisation der DDR) übernommen wurde, durfte es so etwas natürlich nicht mehr geben. Das stand ja letztlich im Widerspruch zur „sozialistischen Menschenwürde“.

Ich erinnere mich, vor der Börse stellten die Männer ihre Fahrräder ab. Das waren immer so viele Räder, dass der schmale Gehweg vollkommen verstellt war und keine Fußgänger mehr dran vorbei kamen. Sie mussten dazu auf die Straße ausweichen.
Das wäre heutzutage doch gar nicht mehr möglich. Man stelle sich solche Situation in heutigen Tagen vor, bei dem jetzigen Autoverkehr!
Und die Politessen haben wir heutzutage ja auch. Für die wäre das ein richtig lohnendes Geschäft, mit festen Terminen, und auf die Minute genau könnten die dann dort anrücken und abzocken!
Die Börse steht längst nicht mehr, die Ehefrauen müssen auch nicht mehr ihre Männer am Werfttor abfangen, denn die Löhne und Gehälter landen jetzt ja regelmäßig und automatisch auf dem Girokonto.
Es hat sich eben sehr vieles, und einiges sogar zum Guten, verändert.

Wenn es heute wieder Gastwirte gibt, die ein Anschreibebuch führen, dann praktizieren sie das aus völlig anderer Motivation als das bei Otto Wolter noch der Fall war. Niemand fände heute einen Gastwirt, der seinem Gast aufgrund von Geldnot oder Armut einen Zahlungsaufschub einräumte. Sie verfolgen damit eine Marketingstrategie mit dem Begriff Nostalgie.

 

Anno 1953 – Der Schlachthof

Das Geld war knapp, der Magen knurrte aber trotzdem. Um ihre Familien über die Zeit von einem Zahltag bis zum nächsten mit Futterage zu versorgen, mussten die Frauen sich in den Nachkriegsjahren etwas einfallen lassen. Und das taten sie auch.

Da war zum Beispiel die aus Stettin vertriebene, allein stehende Kriegswitwe Magdalenchen Godehanns. Vor dem Krieg arbeitete ihr Mann Rurik Godehanns im Stettiner Hafen als Bollwerkaster (so nannten sich die dortigen Hafenarbeiter).

Ihr ältester Sohn, Hinrich Godehanns, hatte in der Barther Hafenstraße 26 in der neuen volkseigenen Bootswerft Arbeit gefunden. Zur Mittagspause holte dieser Hinrich des öfteren ein übergroßes gebratenes Kotelett aus seinem Essenspaket. Die anderen Kollegen glubschten mit verstohlenen Blicken zu ihm rüber, mochten ihn aber nicht deswegen ansprechen. Das hätte eventuell Neid vermuten lassen können. Was es ja eigentlich auch war, aber wer lässt sich schon gerne solch unkollegialen Gedanken nachsagen! Zu gerne hätten sie, wenigstens ab und zu, ebenfalls so ein Riesenstück gebratenes Fleisch zwischen ihre Zähne genommen statt an ihren mit billiger Blutwurst belegten Schwarzbrotstullen zu kauen. Wie macht seine Mutter das nur, fragten sich insgeheim die Kollegen aus der Brigade, hatte sie doch außer Hinrich noch zwei weitere, jüngere Kinder. Und Hinrich verdiente nicht mehr Geld als sie selber auch!

Dabei war das mit dem Riesenkotelett eine ganz simple Angelegenheit, die aber nicht nach jedermanns Geschmack gewesen wäre. Drei Grundstücke weiter neben der Bootswerft befand sich der VEB (G) Schlachthof Barth. Die beiden Grundstücke zwischen der Werft und dem Schlachthof waren der Lagerplatz der Fischfabrik sowie das mit der Villa Teetz.

Im Barther Schlachthof wurden in dem Jahr, in welchem diese Handlung angesiedelt ist, vom 1. Januar bis zum 31. Dezember fast 13.000 Tiere geschlachtet.

Dem Geschäftsbericht des VEB Schlachthof Barth für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1954 an den Rat der Stadt Barth können hierzu folgende Details entnommen werden:

Bis zum 31.12.1954 wurden in jenem Jahr12.934 Tiere mit einem Lebendgewicht von 1498,467 Tonnen geschlachtet. Im Bericht folgt nun eine detaillierte Auflistung nach Tierarten, vollwertigem und minderwertigem Fleisch (Freibankfleisch) sowie die Gegenüberstellung der Planauflagen nach Soll und Ist.

Demnach wurde die Produktionsauflage nach Volkswirtschaftsplan in Messwerten mit 127,9 %, nach Betriebsplan mit 123 % erfüllt. Die Planübererfüllung wurde trotz der im November erfolgten Reduzierung des Volkswirtschaftsplanes um ca. 5 % durch folgende Faktoren möglich. Der Betriebsleitung gelang es über die zunächst abgeschlossenen Verträge hinaus im 2. Quartal Lebendvieh aufzukaufen, um den durch die früher und verstärkt einsetzende Belegung der Badeorte gesteigerten Bedarf gerecht zu werden. Der Betrieb wurde für seine gute Arbeit im 2. Quartal 1954 mit der Wanderfahne des Bezirkes ausgezeichnet. Im 3. Quartal konnte der Betrieb die Quartalsauflage nur zu 89,4 % erfüllen, diese Nichterfüllung ist aber im Zusammenhang mit der Reduzierung des Volkswirtschaftsplanes zu setzen. Diesen Rückschlag konnte der Betrieb im 4. Quartal durch die Einschaltung in die Versorgung der Stadt Rostock wieder aufholen.

In der Tabelle B sind die in der IM nicht enthaltenen Häute und Felle besonders hinzugesetzt worden, da diese im Betriebsplan mit aufgenommen worden sind.“

Bedauerlicherweise waren zum Zeitpunkt des Schlachtvorgangs aus den unterschiedlichsten Gründen nicht alle Tiere gesundheitlich topfit. Was zur Folge hatte, dass ein Teil des Fleisches nicht als vollwertig galt, aber trotzdem für den Verzehr in den Verkehr gebracht werden konnte. Im Jahr 1953 war das immerhin bei 127 Rindern, 105 Kälbern, 43 Schafen sowie 518 Schweinen der Fall.

Bei Wikipedia wird Freibank wie folgt definiert: „Die Freibank war eine Einrichtung zum Verkauf minderwertigen, aber nicht gesundheitsschädlichen Fleisches, das in der Fleischbeschau als „bedingt tauglich“ eingestuft wurde. Freibankfleisch stammte aus Schlachtung von Tieren, die eigentlich nicht für die Schlachtung bestimmt waren, das heißt die z. B. durch Unfälle, Notschlachtungen etc. zu Tode gekommen waren. Die Preise waren hier durchgehend niedriger als in den übrigen Verkaufseinrichtungen. Die Verwertung älterer Tiere war möglich, aber nicht die Regel, sondern es wurden mehr jüngere Tiere verarbeitet, die verunglückt waren oder deren tierärztliche Behandlung wirtschaftlich nicht mehr sinnvoll war. Die veterinärmedizinischen Untersuchungen für Fleisch, das in der Freibank verkauft wurde, waren aber erheblich gründlicher als bei allen Normalschlachtungen. Dadurch war es möglich, Fleisch in hervorragender Qualität zu minimalem Preis in der Freibank zu erwerben.“

Das minderwertige Fleisch dieser Tiere wurde dann direkt im oder am Schlachthof in der Hafenstraße 20 als sogenannte Freibankware für einen deutlich geringeren Preis verkauft. Mit solchem Freibankfleisch versorgten viele Bartherinnen, Männer ließen sich dort so gut wie nie sehen, ihre Familien. So auch Magdalenchen Godehanns, die Mutter unseres erwähnten Kollegen, der so gerne mit seinen Riesenkoteletts die Brigademitglieder zu beeindrucken versuchte.

Doch um von dem Freibankfleisch die besseren Stücke zu bekommen, verkauft wurde einmal in der Woche oder auch vierzehntägig, war nicht selbstverständlich für alle Kunden. Da mussten sie schon Beziehungen zu bestimmten Personen haben. Später, In den 1960er Jahren soll einmal von einer Gerichtsverhandlung gemunkelt worden sein, wobei es um Schiebereien mit Innereien, z.B. Leber, gegangen sein soll. Weil es heutzutage solche „volkswirtschaftliche Engpässe“ nicht mehr gibt, spricht auch niemand mehr davon.

Was Magdalenchen Godehanns und den vielen anderen Freibankkundinnen sehr gelegen kam, bedeutete für den Schlachthof natürlich ein ständiges Verlustgeschäft. Das fand aber im Betriebsergebnis von vornherein seine planmäßige Berücksichtigung.

Preisgünstiges Fleisch war auch in der Baustraße zu bekommen, beim Pferdeschlachter Krüger. Mancher sagte scherzhaft, dort kostet der Zentner Hottehühfleisch eine Mark, was natürlich maßlos überspitz war. Es soll in Barth und Umgebung Leute gegeben haben, die ganze Pferdehinterbacken gekauft und dann geräuchert haben. Ob das tatsächlich so war, ist aber nicht verlässlich überliefert.

Als sich die Pferdeschlachterei auf ihrem Höhepunkt befand, etwa ab Mitte der 1960er Jahre, gab es in der HO-Gaststätte „Zum Franziskaner“ sogar eine so genannte Pony-Bar mit Gerichten aus Pferdefleisch in allen möglichen Varianten.

Personen und Fahrzeuge mussten beim Betreten bzw. Befahren des Betriebsgeländes eine so genannte Seuchenwanne in der Toreinfahrt passieren. Diese Wanne war ein mit einem Desinfektionsmittel gefüllter flacher Behälter zur Desinfizierung der Schuhe von Personen oder der Räder von Fahrzeugen.
Das Tor direkt zum Schlachtraum wurde so manches Mal nicht geschlossen, so dass Passanten vom Gehweg aus zuschauen konnten, wie Kühe und Kälber getötet wurden. Besonders Kinder sind ja neugierig, sie riskierten dann und wann einen Blick auf diese Vorgänge, die nicht unbedingt für sie bestimmt waren und auf eine unschuldige Kinderseele äußerst negativ nachwirken können.

Besonders die Vorgänge beim Schlachten von Schafen oder Kälbern wirkten auf Kinder, aber auch auf Erwachsene, ausgesprochen brutal. Die ach so niedlichen jungen Tiere wurden vom Schlachter unter dem Bauch gepackt und auf eine speziell dafür vorgesehene Bank geworfen, dass sie auf der Seite zu liegen kamen. Jetzt nahm ein anderer Schlachter einen großen Hammer und schlug dem Tier damit auf die Stirn. Nicht jeder Hieb saß so, dass das Tier gleich betäubt oder gar tot war, also erfolgte ein weiterer Schlag oder auch mehrere Schläge auf die Stirn, so lange bis sich Tier nicht mehr rührte. Dann erfolgte der Stich mit einem langen Messer in den Hals. Besonders für Kinder ganz schreckliche Bilder.

Wenn die Tiere zum Schlachthof gebracht wurden, geschah das nicht so wie man das heute kennt. Es gab noch nicht diese Tierfabriken, wo Tausende Tiere industriemäßig als Schlachtvieh gezüchtet und mit großen Viehtransportern durch halb Europa zu den großen Schlachthöfen kutschiert werden. Es war die Zeit, in der in und um Barth herum kleine Bauernhöfe die Regel waren. Die Landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaften (LPG) bildeten die Ausnahme, wurden belächelt, verspottet und auch gehasst. In den Ställen der Bauern wuchs das Vieh heran wie es schon immer gemacht wurde, in Einzelhaltung und in Boxen mit Stroh als Einstreu. Ausgemistet wurde mit der Gabel und mit der Schubkarre auf den Misthaufen in der Hofecke gekarrt.
Wenn die Tiere Schlachtreife hatten, oder der Bauer mit seinem staatlichen Plansoll dran war, fuhr er mit dem Pferdewagen von Kenz, Spoldershagen oder sonst woher nach Barth und lieferte die Tiere dort in der Hafenstraße ab. Der Hafenplatz fungierte an solchen „Ablieferungstagen“ als Parkplatz für Pferde und Pferdewagen. Wie viele das waren, daran erinnere ich mich nicht mehr, aber es war immer eine recht stattliche Anzahl.

Wenn die Bauern die Kühe, die Schweine und die anderen Tiere verscherbelt hatten, nahmen viele einen solchen Tag in der Stadt zum Anlass, um mal selber so richtig die Sau rauszulassen. Sie kehrten ein, wie man so sagt. Und zwar in die Kneipe in der Fischerstraße/Ecke Hafenstraße. Man nannte dieses Lokal damals „Uhse“.

Dort flossen Richtenberger Köhm und Stralsunder Hellbier in Strömen. Die Stimmung stieg, die Gepräche nahmen immer mehr an Lautstärke zu, und so manche harte, schwielige Bauernfaust fand ihr Ziel in einem Gesicht in dem sie eigentlich nichts zu suchen hatte. Die Deutsche Volkspolizei schaute im Wissen solcher ausgelassenen Bauernfestivitäten gelegentlich vorbei. Größere Einsätze waren aber nie vonnöten. Die Bauern kannten sich, sie wussten, dass ein gelegentlicher Ausrutscher spätestens beim nächsten „Ablieferungstag“, an dem man sich bei Uhse wieder zum Umtrunk treffen würde, vergessen und verziehen sein wird.

Gustav, ein friedfertiger, schon älterer Bauer aus dem Dorf gleich hinter der Barthe, genehmigte sich an solchem Tag immer einige Bierchen und Körnerchen mehr als ihm gut tat. Er torkelte anschließend zum Fuhrwerk auf dem Hafenplatz. Dort angelangt, mussten ihm manchmal andere Zechkumpane dabei behilflich sein, da rauf zu kommen. Kaum oben, kippte er zur Seite und fing an zu schnarchen. Das war für den Wallach Bruno das Signal, jetzt muss er sich in Bewegung setzen. Er fand den Weg auch ganz allein nach Hause, da konnte sich der schnarchende Bauer Gustav drauf verlassen. Wallach Bruno hatte einen unbestechlichen Instinkt, der ihn zielstrebig auf den heimischen Stallgeruch zusteuern ließ.

 

Schiffbau auf Befehl

1945 – Der Krieg ist verloren, das Land liegt in Trümmern, was in den Trümmern noch an Verwertbarem zu finden ist, wird abgebaut, ausgebaut, nach Osten in die Sowjetunion transportiert: Reparationen nennt man das, Transferleistungen in Form von Kriegsentschädigungen.

Es dauert aber nicht lange, da setzt sich die Erkenntnis durch, Aufbau ist besser als Abbau. Und so kommt es zum „SMAD-Befehl Nr. 103/48 vom 7. Juni 1948: Herrichtung der Werften in Stralsund, Wolgast und Damgarten für den Bau von Booten der Fischereiflotte und Produktionserweiterung der sich betätigenden Werften“, mit Unterschrift des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration, Marschall Sokolow.

Außer den drei hier erwähnten Werften waren noch weitere 14 Werftstandorte in Mecklenburg und im verbliebenen Deutsch-Pommern am Kutterprogramm beteiligt.

Volkswerft Stralsund

Nachdem die Gebrüder Kröger als Eigentümer der Stralsunder Kröger-Werft ihren Wohnsitz in die westlichen Besatzungszonen verlegt hatten, wurde das Unternehmen verstaatlicht. Am 15. Juni 1948 erfolgte die Eintragung in das Handelsregister als „VEB Volkswerft Stralsund“.

Das erste Fischereischiff, vermutlich ein Fischkutter, konnte am 25. April 1948 ausgeliefert werden. Genaueres dazu war nicht feststellbar. Bald darauf begann die Fertigung der Logger in großer Serie. Der erste auf der Volkswerft gebaute Logger mit Namen „Oktoberrevolution“ konnte am 7. November 1949 vom Stapel gelassen werden. Am 5. März 1955 berichteten die Zeitungen über die Ablieferung des bereits 250. Loggers. Schon längst hatte der Volksmund die Werft mit dem Beinamen „Loggerfabrik“ geadelt.

Die Gründung der Volkswerft diente vordergründig der Befriedigung des Anspruches der Sowjetunion nach Wiedergutmachung für erlittene Kriegsschäden. Dafür entstanden Fischkutter und Logger, aber auch Rettungsboote auf der Volkswerft. Die Verpflichtungen für solche Leistungen endeten offiziell am 31. Dezember 1953. Bis dahin hatte die Werft 18 Fischkutter sowie 138 Logger in die SU geliefert.

Aber auch andere Pläne die Volkswerft betreffend sind bekannt. 1952 traf man erste Vorbereitungen, eine eigene U-Bootflotte für die DDR aufzubauen. Eine Serie von 14 U-Booten finden in den damaligen geheimen Unterlagen Erwähnung, die von 19554 bis 1957 entstehen sollten.

Ein während des Zweiten Weltkrieges vor Warnemünde gesunkenes U-Boot wurde gehoben, nach Stralsund transportiert und sollte als Vorlage für die zu bauenden Boote dienen Es kam allerdings nicht über einen Versuch hinaus.. Ein Unfall mit dem Wrack im November 1952, der einen vollen Monat hindurch die Produktion in der Volkswerft lahmlegte, führte zum Abbruch des Vorhabens.

Wie damals bei solchen und ähnlichen Vorkommnissen häufig üblich, wurden dem Verantwortlichen politische Motive unterstellt. Projektleiter Rudolf Gellert wurde wegen Sabotage inhaftiert. Das Projekt wurde nicht verwirklicht.

Peenewerft Wolgast

Die Werft in Wolgast am Peenestrom wurde am 20. Juni 1948 auf dem Areal einer ehemaligen Fabrik für Futterkonserven durch die Sowjetische Militäradministration gegründet. Im Produktionsprogramm standen anfangs noch Fischkutter und Küstenmotorschiffe als Reparationsleistungen. 1951 begann der Bau von Marineschiffen, die die Grundlage für die Volksmarine der DDR bildeten. Als volkseigener Betrieb im Kombinat Schiffbau der DDR baute die Werft auch Eimerkettenschwimmbagger, Konsumgüter und Motor-Kajütboote.

Boddenwerft Damgarten

In Damgarten wurden 1948 die Anlagen des bisherigen Fliegerhorstes demontiert um im Bereich der Seestation gemäß des Befehls Nr.. 103 eine Werft zu errichten. Sie bekam den Namen „Boddenwerft Damgarten“ (Standort Pütnitz) und hatte 1950 bereits eine Belegschaft von über 2000 Mitarbeitern erreicht. Sie hatte allerdings eine nur sehr kurze Zeit Bestand. Die Sowjets beschlossen bald, das Gelände wieder für einen Militärflugplatz zu nutzen.

Am 1. März 1949 war hier der erste Stapellauf eines Fischkutters. Gebaut wurden in Damgarten 12-Meter-Kutter, 17-Meter-Kutter und 24-Meter-Kutter. Der letzte hier gefertigte 24-Meter-Kutter war die „M.I. Kalinin“, sie verließ am 2. Oktober 1951 die Werft. Am 31. Dezember 1951 wurde das Projekt „Boddenwerft Damgarten“ beendet. Es sollen in Damgarten immerhin beachtliche 130 Kutter, davon achtzig 24-Meter-Kutter vom Stapel gelaufen sein.

Einen von den in Damgarten gebauten 17-Meter-Kuttern kann man noch in Augenschein nehmen. Es ist die am 9. März 1949 auf Kiel gelegte und zunächst in Sassnitz beheimatete SAS 95 „Adolf Reichwein“. 1970 erwarb ihn das Stralsunder Meeresmuseum, ließ ihn aufwändig sanieren. Seitdem steht SAS 95 vor dem Katharinenkloster in Stralsund

17-Meter-Kutter entstanden bis 1956 auf verschiedenen Werften im Norden der heutigen DDR insgesamt 203 Einheiten:

Gehlsdorf 34, Stralsund 38, Warnemünde 18, Damgarten 80, Barth und Greifswald 22, sowie auf weiteren Werften 11 Stück.

Die 24-Meter-Kutter: Auf den Werften in Mecklenburg und Pommern wurden von 1951 bis 1954 insgesamt 59 Kutter der 24-Meter-Klasse nach dem Muster der Kriegsfischkutter „Modell G“ auf Kiel gelegt. Allerdings erhielten sie im Gegensatz zu Kriegskuttern keine Stahlspanten, sondern Holzspanten.

44 entstanden als „Typ Damgarten“ mit Spitzgatter, und 15 als „Typ Gehlsdorf“ mit Spiegelheck.

Von den 59 Kuttern kamen 57 im VEB Fischkombinat Sassnitz zum Einsatz, zwei erhielt mit entsprechenden baulichen Änderungen der Seehydrographische Dienst der DDR, wo sie als Vermessungsboote Verwendung fanden.

Zusätzlich zu den 59 Kuttern entstand ein Lehrfahrzeug, die SAS 200. Das war mit 32 Metern eine verlängerte Variante und wurde auf „Neues Deutschland“ getauft.

Die 24-Meter-Kutter verfügten auch über eine Segelausrüstung: Drei Spitzsegel brachten es auf 52 m² Segelfläche. Die Kutter schleppte Kutter nach Stralsund, wo die Maste gesetzt wurden. Nach der Montage der Takelage und der Installation der Antennenanalgen ging es dann auf Probefahrt.

Von dem in der Zeit von 1947 bis 1952 insgesamt über 360 vom Stapel gelassenen 24-Meter-Kuttern wurden mehr als 230 als Reparation an die Sowjetunion geliefert.

 

Befehl Nr. 103

Werft Gustav Sanitz in Barth

Wie oben bereits erwähnt, waren in das Programm zum Kutterbau insgesamt siebzehn Werften im heutigen Mecklenburg-Vorpommern eingebunden. So auch die Werft Gustav Sanitz Barth. Bei ihr verhielt es sich anders als bei den Werften in Stralsund, Wolgast und Damgarten. Dieses traditionsreiche Unternehmen zum Bau von Schiffen und Booten gibt es in der pommerschen Stadt Barth bereits seit dem 17. August 1867 und existiert, wenn auch unter anderem Namen, bis heute fort.

Der Werftbesitzer Carl Holzerland jun. verstarb 1936, einen leiblichen Erben hinterließ er nicht. Die Schwester, Frau Margarete Kurzweil, verpachtete als Erbin die Werft an den Schiffbaumeister Gustav Sanitz.

Die Werft, die nun von Gustav Sanitz in Pacht betrieben wurde, konnte also problemlos mit dem Bau von Fischereifahrzeugen beauftragt werden, ohne dass es dazu eines sowjetischen Befehls bedurft hätte. Sie musste also nicht erst gemäß Befehl Nr. 103 aus dem Boden gestampft zu werden, auch wenn der Bau der Fischkutter, die hier in der Zeit von 1948 bis 1954 vom Stapel liefen, letztlich auch auf den Befehl Nr. 103 zurückzuführen waren. Gebaut wurden Fischkutter in den Größen 12 Meter, 17 Meter sowie 24 Meter aus Eichenholz in Kraweelbauweise. Der Autor hat eine Rechnung entdeckt, adressiert an den VEB Fischkombinat Saßnitz mit Datum 4. Juni 1953 für Aufwendungen zur Fertigstellung des ersten der zwei in Barth gebauten 24- Meter-Kutter, in diesem Falle die SAS 251 „Heinrich Heine“. Die Rechnung trägt im Kopfbogen die Angaben „Werft Sanitz / Barth Werftstraße 2“, versehen mit einem nachträglich in kleiner roter Schrift aufgebrachten Stempel „VEB Bootsbau- und Reparaturwerft Barth“. Nachdem der Schiffbaumeister und Pächter der Werft, Gustav Sanitz, 1953 in die Bundesrepublik übersiedelte, übernahm zunächst die Treuhand die betrieblichen Belange. Im gleichen Jahr verkaufte Frau Kurzweil als Eigentümerin des Unternehmens die Firma an eben jenen VEB Bootsbau- und Reparaturwerft mit Sitz in der Hafenstraße 26.

Es darf also angenommen werden, dass die Bauphase von SAS 251 noch in die Zeit von „Werft Gustav Sanitz Barth“ fiel, die oben angeführte Abschlussrechnung betreffs SAS 251 aber doch schon vom Nachfolger „VEB Bootsbau- und Reparaturwerft Barth“ gemacht wurde.

Einige Positionen aus diesem Papier möchte ich hier beispielhaft herausgreifen: Im Zeitraum vom ersten bis zum fünfzehnten Mai 1953 liefen beim Bau von SAS 251 für Material, Arbeitslohn und Fremdleistungen Gesamtkosten von rund 32.000 DM auf. Davon entfielen 4.700 DM auf das Material. Für die 3065 Arbeitsstunden mussten 5.180 DM aufgebracht werden. Der Gesamtpreis für den 24-Meter-Kutter nach Fertigstellung belief sich auf etwa 380.000 DM.

Aber auch kleinere private Werkstätten aus Barth waren mit Aufträgen eingebunden und konnten dadurch ihre Mitarbeiter in Lohn und Brot halten. So hatte zum Beispiel die Firma Zeitz für SAS 251 einen Auftrag im Wert von 50 DM für Dreherarbeiten abzuarbeiten, und die Firma Bergmann fertigte und lieferte Antriebswellen für 15 DM an die Bootswerft.

Von der Firma EKM aus Görlitz kamen diverse Motorteile. Die gleiche Firma montierte auch den Motor auf SAS 251 „Heinrich Heine“. Der Schiffsdiesel hatte eine Leistung von 200 PS. Die Firma Abus aus Coswig baute das Getriebe ein.

Für beide Aufträge wurden jeweils rund 800 DM in Rechnung gestellt.

Und nicht zu vergessen, eine Probefahrt musste auch noch sein. Als Belegschaft gingen vier Leute an Bord. Das schlug mit 75 DM zu Buche, die natürlich der Auftraggeber VEB Fischkombinat Saßnitz zu berappen hatte. Im Fischereialltag hatten die Kutter dann eine siebenköpfige Besatzung.

Im Vergleich zu heute sind das alles natürlich lächerliche Summen, doch so war das in jenen Jahren. Und darum habe ich sie hier erwähnt.

SAS 251 wurde am 30. April 1954 in Dienst genommen, die Stilllegung erfolgte am 13. April 1967.

Der zweite in Barth gebaute 24-Meter-Kutter war SAS 252 „Rudolf Virchow“, Indienstnahme am 4. Mai 1953.

Bis zum Verkauf der Werft Gustav Sanitz 1953 als KWU (Kommunales Wirtschaftsunternehmen) an die Stadt Barth und damit an den VEB VEB Bootsbau- und Reparaturwerft Barth wurden hier bis dahin sechs Fischkutter der 17-Meter-Klasse gebaut. Aber auch danach lief der Kutterbau zunächst weiter. Jedoch fasste

die Kreisverwaltung im Jahr 1955 den Beschluss, dass in der Barther Hafenstraße 26 auf Stahl-Schiffbau umzustellen sei. Dem stimmte die Stadtvertretung am 21. Januar 1955 zu, und zwar aus ganz pragmatischen Überlegungen heraus: „Die Bootswerft ist ein Betrieb, der sich von Holzschiffbau auf Eisenschiffbau umstellen muss, um rentabel zu sein. Zur Beschaffung der notwendigen Maschinen ist dieser Betrieb beim Kreis besser aufgehoben, weil der Kreis eher als wir die Möglichkeit hat, sie zu beschaffen. Wir schlagen daher vor, die Bootswerft in den Kreishaushalt zu übernehmen.“

Damit war die Ära der Kiellegung und Fertigung von Holzschiffen auf der Barther Werft beendet.

Nachstehend sind die in der Barther Werft bis 1952 fertiggestellten Fischkutter aufgelistet.

SAS 85 „HANS KOLLWITZ“ (1948)

SAS 86 „KARL KRULL“ (1949)

(diente bis Mitte der 1970er Jahre als Fischkutter, wurde dann zur Gaffelketsch umgebaut und erhielt den Namen „Albin Köbis“. Sie nimmt als Traditionssegler an der Hanse Sail Rostock teil. Heutiger Heimathafen ist Kiel.)

SAS 122 „AUGUST BEBEL“ (1949)

SAS 122 „BARTH“ (1950)

SAS 92 „KARL MARX“ (1950)

SAS 152 „WUSTROW“ (1950)

24 Meter-Klasse

SAS 252 „RUDOLF VIRCHOW“ (1952), später STR 171

SAS 251 „HEINRICH HEINE“ (1952)

Weitere Kutter entstanden auf der Werft nur als Schiffsrumpf, wurden dann nach Stralsund geschleppt, um dort fertiggestellt zu werden.

 

Onkel Piet auf Probefahrt

In der Episode „Befehl Nr. 103“ ist unter anderem die Rede von der Probefahrt des Fischkutters SAS 251 „Heinrich Heine“. Zum Stichwort Probefahrt hat Fiete eine schon viele Jahre zurück liegende Geschichte mit Onkel Piet auf Lager. Onkel Piet steuert in diesem Fall aber keinen funkelnagelneuen Fischkutter durch die Barther Boddenfluten, sondern eine schon recht betagte Barkasse. Die Sache, die leider tragisch endet, soll sich der Überlieferung nach folgendermaßen zugetragen haben.

Die Fahrrinne ist recht schmal, das Wasser daneben von geringer Tiefe. Die Schiffsführer sind gut beraten, die Betonnung möglichst genau zu beachten um sich nicht im Schlick des Boddens festzufahren.

Meinem Onkel Piet“, erzählt Fiete seinem Freund Jan, „ist solch ein Pech, nämlich das Festfahren, einmal drüben im Zingster Strom passiert. Wobei auch die Wilde Sau (damals eine Schnapsmarke) und zwei Kruken Schinkenhäger mit im Spiele waren. Mit einer Barkasse, die auf der Bootswerft repariert und überholt worden war, steuerte Piet von der Werft am Borgwall kommend am Schlachthof und am Seglersteg vorbei zum Barther Hafen hin. Es war ein regnerischer und diesiger Montagmorgen im Frühsommer. Das miese Wetter hatte aber keine Schuld an Piet´s Strandung“

Ein Schiff, dazu zählt Fiete natürlich auch so eine kleine Barkasse, muss ständig gewartet und auf Betriebssicherheit hin überprüft werden und ist deshalb einem strengen Regelwerk unterworfen. In der DDR gab es dafür seit 1950 die DSRK, bis dahin hatte der Germanische Lloyd den Hut auf.

(„Die DSRK führte die Klassifikation sämtlicher klassifikationspflichtiger Wasserfahrzeuge, Bauteile, Ausrüstungen und Einrichtungen sowie die Bauaufsicht und Erprobung der in der DDR gebauten oder reparierten Wasserfahrzeuge durch. Sie war für deren Überwachung und Revision zuständig und prüfte abnahmepflichtige Werkstoffe, Geräte, Maschinen und Bauteile auf Güte, Bauausführung und Funktion.“) [1]

Mit genau solch einem Auftrag hatte die Werft ihren Mitarbeiter, meinen Onkel Piet, losgeschickt. Er sollte mit der fünfzehn Meter langen „FRAU LOTTA“ nach Prerow fahren, dort übernachten und am nächsten Tag eine Tour nach Barhöft machen um danach wieder in die Werft zurück zu kommen.“

Auch bei den meisten anderen vorherigen Werft- und Probefahrten war Piet häufig derjenige, dem das Kommando auf den Schiffen anvertraut wurde. Diese Schiffe, es handelte sich dabei in erster Linie um hölzerne 12-Meter-, 17-Meter- und 24-Meter-Fischkutter, sind in der Schiffswerft Gustav Sanitz, vormals Holzerland und ab 1953 VEB Bootsbau und Reparaturwerft, über mehrere Jahre in einer Serie gebaut worden.“

So auch 1949 die 17-Meter-Kutter SAS 86 „Karl Krull“ (heute „Albin Köbis“) und

SAS 85 „Hans Kollwitz“,

1950 SAS 153 „Barth“, SAS 122 „August Bebel“, SAS 92 „Karl Marx“, SAS 152 „Wustrow“,

1953 die beiden 24-Meter-Kutter SAS 251 „Rudolf Virchow“ und „SAS 252 „Heinrich Heine“.

In der Folge liefen in den Fünfzigerjahren im VEB Bootsbau- und Reparaturwerft Barth noch weitere Kutter vom Stapel.

Eine Besonderheit“ sagt Fiete, „oder vielmehr eine Marotte bei Onkel Piet war, dass er sich zu solchen für ihn ehrenvollen Anlässen wie Probefahrten, immer voller Stolz die alte verschlissene Schippermütze aufsetzte. Tante Erna mochte das absolut nicht leiden, aber sie kam da nicht gegen an. Die alte Mütze stammte noch aus seiner Fahrenszeit auf einem U-Boot. Die Abzeichen an der Mütze, wie Reichsadler mit Hakenkreuz und die scharz-weiß-rote Kokarde hatte er natürlich abgemacht und durch einen schwarzen Stoffaufnäher mit goldgelbem Anker, von gleichfarbigem Eichenlaub umkränzt, ersetzt. Die Mütze selbst, mit welcher er einmal im Skagerrak vor Norwegen mit einem U-Boot abgesoffen war, galt für ihn seit seiner Rettung als sein Talisman und war ihm heilig.

Er war also, wie gesagt, zur Probefahrt unterwegs um im Fahrbetrieb die sogenannten Restpunkte aufzuspüren. Bevor es aber durch die Molenausfahrt auf den Bodden gehen konnte, war im Hafen erst noch ein ganz spezieller Punkt abzuarbeiten: Der neue 125 PS starke Schiffsdiesel von Buckau Wolf musste seine Schleppkraft, auch Pfahlzug genannt, unter Beweis zu stellen. Eigens dafür waren beim Hafen zwei Fachleute aufgestiegen die das überwachten und die Ergebnisse zu Protokoll nahmen. Sie installierten zwischen der Schlepptrosse und einem Poller an der Kaimauer eine Zugwaage.

Mit dem Pfahlzug wird die Zugkraft von Schiffsantrieben ermittelt. Für unterschiedliche Leistungsstufen des Schiffsantriebs kann die erzeugte Zugkraft an dieser Zugwaage abgelesen werden. Der Schiffsdiesel muss bei Kommando „Volle Kraft voraus“ für eine genau festgesetzte Zeit seine absolut höchste Leistung bringen. Wenn so ein Pfahlzug im Hafen anstand, sorgte das verständlicherweise jedes Mal für eine große Ansammlung von Schaulustigen, die das mit großem Interesse verfolgten und es mit mehr oder minder fundierten Fachkommentaren begleiteten.

Im Anschluss daran konnte es mit der eigentlichen Probefahrt aber richtig losgehen. Zwischen den Molenköpfen hindurch ging es über den Bodden in Richtung Müggenburg, um dann in den Zingster Strom zu gelangen.

Dort, wo sich die Fahrrinne backbords nach der Oie und Große Kirr sowie steuerbords nach Barhöft gabelt, deutete an Steuerbord auf Höhe des Monser Hakens, der mitfahrende Schlosser aufgeregt zu einer Reuse rüber. Zwei große dunkle Vögel, die ihre weiten Flügel zum Trocknen ausgebreitet hatten, saßen auf den Netzen. Es waren Kormorane. Zu jener Zeit noch eine ganz große Seltenheit, sie zu Gesicht zu bekommen. Jeder an Bord wollte die Vögel sehen, doch Käpt´n Piet hatte nur ein einziges Fernglas dabei. Und so mussten eben alle geduldig warten, bis Piet die Kormorane genügend bewundert hatte und das Glas weiterreichte.

Während der Arbeit in der Werft waren sie alle schlicht und einfach Kollegen. Hier aber, auf dem Schiff, galt es für jeden, den Anordnungen des Käpt´n absolut Folge zu leisten, und deshalb murrte auch keiner, dass Piet das Fernglas ungebührlich lange vor seine Augen hielt.

Nach der Fahrt zwischen der Halbinsel und der Insel Große Kirr passierte die Barkasse die Meiningenbrücke und rein ging es in den Prerowstrom. In Prerow wurde für die Liegezeit über Nacht festgemacht.

Am Morgen danach tuckerte dann schon sehr frühzeitig der Schiffsdiesel. Leider hatte Onkel Piet, dieser alte Seebär, der ja schon vor dem Zweiten Weltkrieg bei einer großen Übersee-Linie gefahren war und im Krieg auf einem U-Boot gedient hatte, in Barth nicht nur festen Proviant gebunkert, sondern das hochprozentige flüssige Lebenselixier der Marken „Wilde Sau“ und „Schinkenhäger“ nicht vergessen. Das heißt, an Bord befand sich Alkohol in einer sozusagen ungesunden Dosis. Folgerichtig kam es wie es kommen musste. Denn die Nacht in Prerow war eintönig und lang, der flüssige Proviant musste der Schiffsbesatzung die Langeweile vertreiben.

Bei der Rückfahrt war man zunächst ohne Probleme durch den engen Prerowstrom gekommen. Bei den Schmidt-Bülten, eine Insel im Bodstedter Bodden am Ausgang des Prerowstroms, waren schon die ersten Unsicherheiten bei Fritz nicht zu übersehen. Doch er schaffte es noch, diese hakelige Stelle unfallfrei zu umschiffen.

Seine Barkasse „FRAU LOTTA“ hatte nach dem Passieren der Meiningenbrücke wieder den Zingster Strom erreicht. Das ist ja auch nur ein relativ schmales Gewässer mit den beiden kleinen Inseln „Brunstwerder“ und „Kleine Kirr“ darin, die das Navigieren zusätzlich erschweren. Am Brunstwerder mogelte sich der beduselte Onkel noch gerade so vorbei, dann aber geschah das Malheur. Der Onkel und die anderen an Bord mussten wohl doch zu viele geleerte Flaschen außenbords gegeben haben.

An der Kleinen Kirr gab es unverhofft einen kräftigen Rumms, und die Barkasse hatte jetzt das, was jeder Schiffsführer fürchtet: absolut kein Wasser mehr unterm Kiel. Auf gut deutsch, sie saßen fest! Es nützte alles nichts, Hilfe musste angefordert werden. Mit der Konsequenz, dass der Onkel sich gezwungen sah, dem Staatsanwalt im Gerichtssaal ins Auge zu schauen und ihm zuvorkommend und höflich einen Guten Tag zu wünschen. Was ihm aber auch nichts mehr nützte.

Ins Kittchen ging er zwar nicht, doch das Urteil lautete trotzdem: Mehrere Monate Gefängnis sowie eine Geldstrafe. Die Einquartierung in ein Zimmer mit vergittertem Fenster, sprich Zelle, wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Der Onkel war in der Folge ein seelisch gebrochener Mann und hat sich von dieser Sache nie wieder erholt.“

Woher“, fragt Jan jetzt, „weißt du das eigentlich alles so genau?“

Hat Tante Mienchen mir etliche Male erzählt, und ein damaliger Kollege von Onkel Piet hat das auch erzählt.“

Die von Fiete geschilderte Probefahrt liegt nun, sofern man ihm Glauben schenken darf, schon rund fünfundsechzig Jahre zurück. Ob sie sich tatsächlich genau so, oder vielleicht doch ganz anders, oder vielleicht auch gar nicht zugetragen hat, dafür verbürgt sich der Autor ausdrücklich nicht! Möglicherweise hat sich der Erzähler auch nur wichtig tun wollen und hat geflunkert.

[1] Binnenschifffahrtsmuseum Oderberg

 

Pia und die "Fliegerpilze"

Herbst ist Pilzsaison. Manches Jahr überrascht der Oktober noch mit schönen, sonnigen und relativ warmen Tagen. Da hält es einen eingefleischten Pilzfreund und -sammler nicht lange hinterm warmen Ofen. Da heißt es, rauf auf das Fahrrad und rein in den Wald. Bei uns nennt man das in den Busch gehen, auch zu Busch gehen oder ins Holz gehen, und den Wald ganz allgemein nennt man hier Busch. Aber einerlei, ob Wald, ob Busch, man fährt los, bepackt mit mindestens zwei mittelgroßen leeren Spankörben und einem mittelgroßen Rucksack, gefüllt mit Proviant, immer die Hoffnung im Hinterkopf, ausgerechnet heute den allergrößten Pilzfund des Jahres zu machen.So ähnlich wie bei den Anglern. Nur dass jene natürlich keine Monster-Pilze suchen, sondern eher armlange Barsche fangen wollen. Aber beide Freizeitjäger fiebern dem jeweiligen Ereignis förmlich entgegen. Und werden doch so häufig enttäuscht. Trotzdem gehen sie immer wieder unverdrossen ihrem Hobby nach.
So auch Fiete. Bei dessen herbstlichen Exkursionen zu den Pilzen im Busch gleich hinter Planitz, korrekt heißt dieser Wald Barther Stadtholz, ist er meistens allein unterwegs. Gerne nimmt er aber manchmal auch seine Enkelinnen Pia und Lilly mit. Auf seinen alten Angelfreund Jan Hollerbusch muss er dagegen verzichten. Kumpel Jan meint nämlich, Pilze zu sammeln sei so was von bescheuert! 
Sieht Fiete naturgemäß ganz anders. Aber das ist wohl so ziemlich das einzige Thema, bei dem die Freunde nicht so richtig zueinander finden können.
Aber die Mädels Pia und Lilly, Opa´s ganzer Stolz, kommen gerne mit in die Pilze. Besonders die lütte Pia marschiert da emsig mit Opa durchs Unterholz. Denn dort im Busch gibt es so viel zu sehen. Kleine und große Hasen hoppeln da übern Weg. Die hat sie besonders lieb, weil sie so niedlich sind und weil sie die bei Onkel Otto auf dessen Hof im Kaninchenstall sieht und streicheln kann. Tante Nettie sagt zu den Häschen immer Karnickels.
Pia fährt häufig mit Mami und Papi zu Onkel Otto. Der hat in Ravenshagen einen Bauernhof mit ganz vielen Tieren. Auch Pferde laufen da auf der Koppel herum. Einmal kam hier sogar ein Fohlen zur Welt. War das eine Aufregung bei allen im Haus! Als Pia das Fohlen das erste Mal sah, war es schon eine Woche alt und sprang neben der Stute auf der Wiese herum. Es lief zwar noch recht staksig neben seiner Mutter her, war aber bei allen, auch in der Nachbarschaft, der besondere Liebling. Das Mutterpony war einst extra für Pia und Lilly angeschafft worden.
Gleich links hinter der weitläufigen Pflaumenplantage und dem Gemüsefeld in Richtung Wemmin, blinkt in einer tiefen Senke ein See, etwa fünf Hektar groß und bis zu drei Meter tief. Da er rundherum von einem Birkenwäldchen gesäumt ist, wird er im Dorf Birkensee genannt, ist aber auf keiner Wanderkarte eingezeichnet.

Schon so manches Bäumchen ist bei einem Sturm abgeknickt und im Wasser gelandet, aber Onkel Otto pflanzt jedes Mal sofort nach. Warum es ausgerechnet Birken sein müssen, das ist Krischan nicht klar, und es konnte ihm auch nicht plausibel begründet werden. Es war eben schon zu Bismarcks Zeiten so, und so wird es wohl auch immer bleiben, meint Onkel Otto, ist halt alter Familienbesitz.

Im Sommer bringen Pia und Lilly manchmal ihr kleines Gummiboot mit, wenn es auf´s Dorf zu Onkel und Tante geht. Wenn das Dings dann, knallig rot übrigens und auf den Namen Nikki getauft, aufgeblasen ist, haben die Mädels einen Heidenspaß auf dem Wasser mit viel Gekreische ihre Runden zu drehen. Eigens für die beiden kleinen Wassernixen haben Onkel und Opa neben dem alten Angelplatz noch einen Anlegesteg für das Boot gebaut. Da können die Mädels jetzt richtig komfortabel ein- und aussteigen.

Enten wachsen hier jedes Jahr mindestens 120 Stück auf. Das ist Tante Netties Aufgabengebiet. Zu Weihnachten allerdings müssen die Enten und Gänse dran glauben, das ist nun mal ihr Schicksal, da werden sie geschlachtet.

Sowohl aus dem Ort als auch aus den umliegenden Dörfern kommen dann die Leute und kaufen bei Tante Nettie ihren vorbestellten Weihnachtsbraten. An manchem Wochenende hilft Lilly ihrer Tante, packt die Enten oder Gänse ein und trägt sie der Kundschaft zum Auto. Mancher Kunde steckt ihr dafür schon mal ein Geldstück zu. Sie ist dann ganz stolz über das eigene verdiente Geld, das sie für ihr erstes Handy sparen will.

Was für Pia besonders lustig und aufregend ist, das ist die Wasserpumpe auf dem Hof.
Zwischen dem Unterstand für die Kutsche und der Garage für die Autos und dem kleinen Anbau für Onkel Otto´s Oldtimer-Motorradsammlung befindet sich ein Brunnenschacht aus dem Jahr 1888. Der ist mit einem Deckel aus dicken Holzbohlen abgedeckt. Darauf steht eine alte, gusseiserne Pumpe. Die hat einen geschwungenen Pump-Arm, auch Schwengel genannt. Wenn man den auf- und ab bewegt, kommt ein dicker Schwall Wasser aus dem Rohr. Pia jauchzt jedes Mal wenn Onkel Otto oder auch Opa die Pumpe in Betrieb setzen. Sie selber schafft das noch nicht, dafür reicht ihre Armkraft noch nicht aus, Lilly hilft ihr aber dann und wann dabei. Tante Nettie ermahnt die Kinder stets, nicht von dem Wasser zu trinken, weil es keimig sei
Die Pumpe hat Onkel Otto ganz bunt in vielen Farben anmalen müssen. Pia wollte es so und hat auch durchgesetzt, dass der Opa dazu noch ein paar Silbersterne, den Mond und die Sonne aus dem Baumarkt geholt und sie fachmännisch auf der Pumpe angebracht hat. Pia hat den beiden alten Zauseln dafür ein paar Schmatzerchen auf die stoppeligen Gesichter gedrückt, und die haben sich natürlich darüber riesig gefreut und waren stolz auf ihr Werk und auf den Lohn dafür von Pia. Tante Nettie stand nur kopfschüttelnd in der Hoftür und brabbelte: „Diese Pia aber auch, nein, die versteht es aber so richtig!" war ihr Kommentar. Aber Pia hat den Onkel und ihren Opa trotzdem gerüffelt: „Ihr müsst euch rasieren, wenn ich Küssie geben soll!"
Bei Onkel Otto gibt es auch Schweine, die laufen sogar draußen auf der Wiese frei herum. „Ist das lustig,” findet Pia, „wenn die Schweine kleine Schweinchenkinder haben. Die rennen immerzu wie wild umher und toben und spielen miteinander. Fast so wie Lilly und ich mit unseren Freundinnen auf dem Spielplatz daheim in der Stadt."
„Nur so schmutzig machen darf ich mich dabei nicht wie die Schweinchen das dürfen,“ hat Lilly ihrem Opa einmal ihr Leid geklagt. „Dann gibt es von Mami gleich wieder Mecker!”
Die Kaninchen bei Onkel Otto sind einerseits zwar richtig süß, sie müssen aber andererseits auch regelmäßig gefüttert werden.
„Die müssen jeden Tag immer was zum Essen kriegen,” weiß Pia.
Sie darf den Kaninchen auch das Gras in die Buchten rein geben. Und sie hilft Tante Nettie, wenn abends Kaninchenfutter mit der Sichel für den nächsten Tag geschnitten werden muss.
Die Hasen sind Pia also schon vom Hof her bekannt. Aber dann sind im Wald noch die größeren Tiere, die manchmal aus ihren Verstecken herauskommen und über den Waldweg traben oder über die Lichtung laufen. Da huschen Rehe flink durch das Gebüsch, ein großer, mit Geweih geschmückter Hirsch kommt bedächtig zwischen den Bäumen auf den Waldweg heraus, bleibt kurz stehen, äugt herüber und setzt mit eleganten Bewegungen selbstbewusst seinen Weg fort. Pia kann sich in solchen Augenblicken kaum bremsen und möchte jedes Mal sofort loslaufen und das Tier streicheln. Hat aber noch nie geklappt. Sie will es doch immer wieder tun.
„Wie kam es eigentlich,” fragte Jan einmal, „dass sich das Kind nicht nur mit den Tieren auf Onkel Otto´s Hof beschäftigt, sondern darüber hinaus auch an allem, was da in der freien Natur kreucht und fleucht so ein reges Interesse entwickelt hat?”
Krischan freut sich über Jan´s Frage. Ebenso ist er sehr angetan über das ausgeprägte Naturinteresse seiner Enkelin. Er bemüht sich nach besten Kräften, diese Neigung bei dem Kind zu befördern und zu festigen.
Pia´s Interesse war mit jenem Tag, so vermutet Krischan jedenfalls, entstanden, mit dem diese Erzählung weiter unten eigentlich beginnen soll. Und er erklärt das mit der folgenden Geschichte so:
„Ich wurde an einem Sonntagmorgen recht unsanft aus dem Schlaf geholt. Mir wurde schlicht und einfach die warme Bettdecke weggezogen. Und gleichzeitig war da eine laute, weinerliche Kinderstimme zu vernehmen: „Opi, wach endlich auf!”

Das war meine Enkelin Pia, vier Jahre alt. Deshalb also auch die kalten Füße, wurde es mir da klar. Und gleich noch einmal: „Opi, wach endlich auf!”
„Ist was passiert,“ frage ich besorgt, noch im Halbschlaf.
„Opi, ich hab von Mami Mecker gekriegt!“
„Was haste denn angestellt?“
„Nix, bin doch ganz lieb.“
Das kennt man schon. Angeblich immer ganz lieb und artig, aber Mami meckert trotzdem mit den Mädels herum.
„Und die Mecker, warum denn?“
„Ich soll so früh schon aufstehen, bin aber noch ganz doll müde. Aber Mami schimpft.“
Ich also raus aus dem Bett, Duschen und Rasieren. Am Frühstückstisch dann ist alles wieder in bester Butter. Klein-Pia hat sich beruhigt, Lilly ist artig und Mami ist zufrieden.
Aber dann, da geht es schon wieder los. Die Kleine quengelt rum, Opa hätte ihr schon drei Mal versprochen, mit ihr in den Wald zu fahren und Pilze sammeln, dreimal schon! Dabei kann die kleine Kratzbürste doch noch gar nicht zählen.
„Schon drei Mal wolltest du mit mir Pilze sammeln, Opi. Du hast mir neulich versprochen, mit mir dorthin zu fahren, wo die Pilze fliegen können.“ Sie meint natürlich Fliegenpilze, aber das muss sie noch lernen zu unterscheiden.
Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann bleibt sie, so klein sie auch noch ist, hart am Thema. Das hat sie wohl von mir, ihrem Opa. Wie sie überhaupt alle ihre guten Eigenschaften vom Opa haben dürfte. Die weniger guten, doch, die hat sie manchmal auch, aber das ist dann schon wieder ein ganz anderes Thema, worüber ich hier nicht schreibe.
Also gut, versprochen ist versprochen, da beißt die Maus keinen Faden nicht ab! Wenn das so versprochen wurde, dann muss es wohl gemacht werden, gar keine Frage. Denn einen Wortbruch von Opa gegenüber Klein-Pia oder Lilly-Fee, wo hat es denn so was schon mal gegeben? Und kommt ja überhaupt nicht in die Tüte!
„Dann kommt mal beide mit zum Auto, wir fahren gleich los!“
„Fein! Du bist der allerbeste Opi von der ganzen Welt!“ Sie weiß eben, wie man sich gute Freunde, die man immer mal wieder brauchen könnte, warmhalten muss. Tante Nettie, schüttelt da jedes mal den Kopf, weil ich mich von diesem Schmusekurs stets einlullen lasse.
Klein-Pia´s große Schwester Lilly-Fee allerdings will nicht mitkommen. Sie möchte zusammen mit dem Nachbarsjungen Björn das Fahren mit ihrem neuen Elektro-Scooter üben. Den hatte ihr der Papa zu Weihnachten unter´n Tannenbaum gestellt. Helm, Kinn-, Ellenbogen- und Knieschoner haben wir dem Mädel natürlich auch dazugelegt.
Los geht´s in Richtung Tannenheim und weiter Richtung Bodstedt. Doch schon nach hundert Metern  hinter der Barthe-Brücke meldet sich meine vierjährige Verkehrsexpertin Pia zu Wort. „Opi, dein Auto ist aber langweilig!“
„Warum“?
„Dein Auto fährt so langsam, alle anderen überholen uns“, kommt es von der Vierjährigen da hinten  aus dem Kindersitz ziemlich vorwurfsvoll zurück.
Aus Rücksicht auf das Kind und auch des regen Gegenverkehrs wegen habe ich nicht mehr als siebzig auf dem Tacho. Das ist nach Lisa´s Empfinden langweilig!
Ich staune nur, lasse mich aber trotzdem nicht drängeln. Da kommt ja ohnehin gleich eine Kurve und der Abzweig nach Zingst. Bei Gut Glück geht es am Schießplatz vorbei bis zu den Drei Katen.
Hier heißt es links abbiegen und Richtung Barther Nikolajew-Siedlung fahren. Dort lasse ich das Auto stehen, noch ein kurzer Fußweg und rein in den Wald.
Wir sehen einige Zeit mehreren Forstarbeitern zu, die mit Motorsägen bei umgestürzten Bäumen die Äste vom Stamm trennen und diese mit einem gewaltigen Maschinen-Monster auf einen großen Hänger laden. Pia hält sich die Ohren zu, denn die Geräte verursachen einen ziemlichen Lärm. Weshalb die Männer ja auch bunte Ohrenschützer tragen.

Hören die Onkels da Musik mit ihren Kopfhörern, Opa?”
Ich mache ihr trotz des Lärms klar, dass sich die Arbeiter ihr Gehör schützen müssen und nicht Musik hören. Ich hatte ihr gerade vor ein paar Tagen Kinder-Kopfhörer gekauft, den MP3-Player hat sie schon seit einiger Zeit. Da bleiben Mamis Ermahnungen, doch bitte die Lautstärke zu drosseln, immer unbeachtet.

Fachmännisches Kopfnicken der kleinen Pia: „Ja, ganz schön laut!“
Wir wollen aber Pilze sammeln und die Arbeiter müssen ihre Arbeit tun. Also ziehen wir weiter den Weg entlang und finden schon bald den ersten Pilz. Es ist ein Birkenpilz, ganz versteckt unter Gras und Farnkraut. Trotzdem war es Pia, die ihn entdeckt hat.
„Kann man den essen?”
Den kann man essen, also rein in den Korb. Damit ist es aber noch nicht getan, mit dem Birkenpilz:.

Opa, warum heißt der Birkenpilz Birkenpilz? Die weißen Bäume heißen doch auch Birken."

Das weiß sie nämlich von den Birken, die rund um den kleinen See hinter Onkel Otto´s Anwesen stehen. Also versuche ich eine treffende Auskunft zu geben.

Es gibt Birkenbäume und es gibt Birkenpilze, mein Mäuschen. Und weil Birkenpilze meistens dort wachsen wo Birkenbäume stehen, nennt man sie eben Birkenpilze. Alles klaro?"
"Warum, Opa?"
Wer kleine Enkel hat, kennt ja dieses Warum-Opa-Spielchen.
Es dauert nicht lange, da treffen wir auf eine große Ansammlung von weiteren Pilzen. Nun kenne ich ja nur einige wenige Pilzarten und nehme darum auch nur die mit nach Hause, die ich selbst schon einmal überlebt habe. Hier stehen jetzt in großer Anzahl auf kleinem Raum sehr viele braune Pilze, die richtig schön in Farbe, Form und ihrer Anordnung aussehen.
Da stürmt Pia gleich hin und möchte sie pflücken und in ihr Körbchen geben.
„Stopp, Pialein, die sind giftig!”
„Kann ich davon tot sein?”
Es ist eine große Ansammlung des Hallimasch. Die stehen immer in einer recht großen Gruppe beieinander und bieten einen ganz tollen Anblick. Man kann den Hallimasch essen sagen einige, andere wiederum raten davon ab.
„Ja Pia, wer diese Pilze isst, kann sterben. Die sind giftig,” sage ich also vorsichtshalber vorbeugend. Pilze, die man nicht eindeutig zuordnen kann, sollte man stehen lassen. Das muss einem Kind so vermittelt werden, damit es das bereits in jungen Jahren mit auf den Weg bekommt.
Auch möchte Pia erklärt bekommen, warum Schnecken an den Pilzen knabbern und trotzdem nicht tot runter fallen. Wir haben schon vorne, gleich dort, wo das Auto steht, am Wegrand im hohen Gras mehrere Pilze gesehen, die fast völlig ohne Hut sind. Pia ist das dort noch gar nicht aufgefallen. Aber jetzt ist da eine große, dicke, fette, schwarze Schnecke und frisst sich an einem noch jungen Pilz satt. Das will Pia aber genau beobachten und kniet sich daneben hin. Die schwarze Nacktschecke reagiert aber bei Erschütterungen am Boden oder bei plötzlichem Schattenwurf sofort. Sie zieht ihre „Hörner" ein und zieht ihren Körper zusammen um ganz klein zu wirken. Mit Pia´s Zeigefinger einmal kurz angetippt, krümmt sie sich noch mehr.
„Die ist aber glitschig."
Eigentlich ist das keine neue Erfahrung, im Garten am Haus in Ravenshagen hat Tante Nettie jedes Jahr mehrere Beete mit Kopfsalat zu stehen. Den Salat verfüttert sie an die Hühner und das ganze andere Viehzeug. Da gibt es an nassen Tagen auch jede Menge Schnecken zu beobachten, meistens sind es diese braunen Dinger, Spanische Wegschnecke heißen sie und verdrängen die einheimische Schwarze Nacktschnecke. In Tante Nettie´s Garten sind nicht nur solche nackichten Schnecken unterwegs, sondern noch andere, kleinere Exemplare mit Häuschen auf dem Rücken. Manche sind sehr klein, andere wieder etwas größer, aber alle tragen sie ein schönes, bunt gestreiftes Haus mit sich herum. Tante schimpft ständig über dieses elende Kroppzeugs und sammelt die Schnecken ein. Also, erst einmal nix für das Körbchen und weiter geht es.
Da kommt Abwechslung in Form zweier großer Hirsche. Pia nennt das Action. Die beiden kommen aus dem Busch, bleiben auf dem Waldweg stehen und gucken unschlüssig zu uns herüber.
Pia schreit ganz begeistert: „Opa, da sind Rehe!“
Rehe oder Hirsche, da macht sie keinen Unterschied. Ich mache erst gar keinen Versuch, ihr das auseinander zu klabüstern.
Na, die Hirsche sind da gleich mit einem flinken Sprung über´n Graben rüber und zwischen den Bäumen verschwunden.
„Pia, möchtest du noch mehr solche große Tiere sehen?”
„Prima, Opi, noch ganz, ganz viele, bitte”, ruft sie! Und zwar mit einer Lautstärke, dass es vermutlich noch in Fuhlendorf zu hören sein dürfte.
„Im Wald muss man leise sein. Sonst laufen alle Tiere vor uns weg, und wir sehen dann keine mehr.“
Hat sie auch beherzigt, jedenfalls für die folgenden zwei Minuten. Dann der nächste Schrei: „Opi, da ist ein Fliegerpilz!“
Diesmal ist es aber ein großer Steinpilz.
„Kann der fliegen, Opi?“
„Nein natürlich nicht, ist ja auch gar kein Fliegenpilz. Ein Fliegenpilz ist oben ganz rot und hat weiße Punkte oben drauf auf dem Hut.”
Aber wie dem Kinde das erklären, warum ein Fliegenpilz nicht fliegen kann, wenn man doch selber nicht weiß, wie der zu seinem Namen kam.
„Außerdem, du kleine Maus, das ist auch gar kein Fliegenpilz.”
„Nee? Was ist das denn für einer?”
„Das ist diesmal ein Steinpilz, Pia. Den darfst du dir ins Körbchen legen.”
Schon zwei große Pilze liegen nun im Pia-Körbchen, was sie mir voller Stolz zeigt. Wir stapfen durch hohes Farnkraut.

Das nennt man Adlerfarm, Pia, da sitzen die argen Zecken dran”.

Ein hoher Jägersitz ragt aus dem Farn heraus. Hier treffen wir auf einen breiten Weg. Den haben Forstfahrzeuge schön eben plattgewalzt und wir stolpern nun nicht immerzu über verdeckte Wurzeln und unsichtbare Löcher und Kuhlen.
„Guck mal, Opi, da steht ein Schild! Was steht denn da drauf?“

Tatsächlich, ein Schild, davor ein Maschendrahtzaun, mitten im Wald. Auf giftig gelb bemaltem Blech mit schwarzer Umrandung ist da in schwarzer Schrift zu lesen: Achtung Betreten verboten. Also bleiben wir schön auf dem Weg. Denn, wer weiß?
„Hier darf man nicht rein, Pialein, das ist verboten.“
„Warum ist das verboten? Wohnen da der böse Wolf und das arme Rotkäppchen? Oder der Räuber Hotzenplotz?“
Weiß der Fuchs, denke ich mir. Ist eben verboten, und Punkt! Vielleicht ist es noch ein vergessenes Verbotszeichen aus DDR-Zeiten. Ganz in der Nähe soll es ja ein so genanntes Sperrgebiet wegen hier stationierter Raketen der NVA gegeben haben.
Wir ströpern also erst einmal weiter durchs Gelände und suchen die fliegenden Pilze. Pia ist hellauf begeistert von dem, was es da so alles zu entdecken gibt. Eine kleine Unke quält sich durch das Laub.
„Opa, ein Frosch. Igittigitt, ist der aber ekelig!“!
Ich erinnere Pia daran, dass sie sich doch so gerne das Märchen vom Froschkönig anguckt, das ich ihr zum Geburtstag auf DVD geschenkt habe.
„Vielleicht ist das ja ein verwunschener Prinz, der auf die Erlösung wartet. Musst ihm mal ein Küssie geben.”
„Ach sooooo, ja, ach neee, lieber doch nicht!“

Dein Frosch ist aber kein richtiger Frosch, sondern eine Unke.”
„Opa, du bist schon so groß, weißt das aber trotzdem überhaupt gar nicht so richtig", werde ich altklug belehrt, „na klar ist das ein Frosch!”
Ich erkläre also: „Guck mal, dieser hier ist ziemlich dick und hat kurze Beine ohne Schwimmhäute dran und kriecht so durch das Laub. Ein richtiger Frosch aber, der hüpft in großen Sprüngen über alles drüber, was ihm im Weg liegt. Und er hat Schwimmhäute. Die braucht er nämlich, damit er im Wasser auch schwimmen kann. Und ein Frosch hat eine glatte Haut, nicht so mit Warzen und Beulen bedeckt wie dieser hier.”
Ob das angekommen ist und verstanden wurde? Plötzlich hören wir ein lautes, durchdringendes Getute. Pia fängt an zu schreien und klammert sich ängstlich an ihren Opa. Auch ich zucke zunächst erschreckt zusammen,
die Laute kommen ja so unvermittelt in der ansonsten friedlichen Stille im Wald.

Was ich bis dahin nicht wusste, Kraniche halten sich mitunter tief im Wald auf. Und so war es auch hier der Fall. Ein Kranichpaar haben wir aufgeschreckt. Sie fliegen auf und sind bald verschwunden. Na, da freut sich Klein-Pia aber. So große Vögel im Wald zu sehen, das ist doch mal was ganz Besonderes! Das muss sie gleich morgen ihrer besten Freundin Merle im Kindergarten erzählen!
Es sind Graukraniche. Sie suchen eifrig nach Nahrung und picken mal hier, mal da im Boden herum. Sogar einen Regenwurm hat der eine Kranich aus dem Boden gezupft.
„Sind die nicht hübsch? Die sind so groß wie du. Der rote Fleck an ihrem Hinterkopf sieht doch auch toll aus, wie? Und erst mal die langen Federn die sie da an ihrem Schwanz hängen haben. Ich glaube, die langen Schwanzfedern nennt man Schleppe.”
„Was essen die Kraniche, mögen die auch Kuchen und Gummibärchen?” Gummibärchen sind Pia´s bevorzugte Nascherei. Ob sie Kuchen mögen, weiß ich nicht. Möglich wäre das ja.
„Sie suchen nach Würmern und Schnecken, Pia, auch Blaubeeren und Eicheln mögen sie.”
“Wollen wir nicht auch Blaubeeren pflücken, Opa? Die mag ich so gerne.”
„Blaubeeren gibt es nur im Sommer, jetzt finden wir keine mehr.”
Immerhin sind wir bereits weit im September.
„Wenn sie welche finden, fressen sie auch Erbsen und Bohnen oder Mais. Kleine Fische fangen sie auch und machen Jagd auf Frösche.”
„So einen Frosch wie der von vorhin? Der muss dann aber aufpassen. Aber fressen darf man nicht sagen, Opa, Mami schimpft dann immer mit mir und mit Lilly.”
Ob Kraniche auch Kröten schlucken weiß ich nicht. Die mögen sie wohl nicht, weil die ein übel riechendes Sekret absondern um Feinde abzuwehren. Pia sucht indessen fleißig weiter nach Pilzen und was es sonst noch für sie interessante Dinge gibt. Und da ist einiges zu entdecken. Doch zunächst sehen wir ein Wildschwein. Ziemlich weit weg, aber noch gut zu sehen, flitzt eine wilde Sau über´n Weg und vor ihr her läuft noch ein kleiner Frischling. Die kleine Pia ist natürlich sofort hellwach und will begeistert loskreischen. Ich habe das geahnt, und konnte ihr noch rechtzeitig die Hand auf den Mund legen.

Ist das Schwein bei Onkel Otto weggelaufen?“
„Aber nein, das hier ist ein wildes Schwein, ein Wildschwein, eine Wildsau.“
„Opi, Sau darf man aber nicht sagen, das heißt Schwein, sagt immer unsere Erzieherin im Kindergarten.“

Ach ja, was die Kleine doch schon so alles gelernt hat, denke ich, und bin auch ein bisschen stolz auf meine kleine Enkelin.
Was macht das wilde Schwein hier im Wald, hat es denn gar kein Zuhause im Stall?“
„Nein, die wilde Sau hat keinen Stall, sie wohnt hier im Wald und will auch überhaupt nicht zu den anderen Schweinen bei Onkel Otto.“

„Warum, und hat das Schwein auch kleine Kinder?”
Klar hat eine Wildschwein-Mama auch Kinder. Aber nicht immer. Man nennt die Sau Bache und die Kinder heißen Frischlinge. Wenn die Wildschwein-Kinder, also die Frischlinge, noch klein sind, sehen die richtig niedlich aus, dann sind sie gestreift wie dein Meerschweinchen. Haben weiße und braune Streifen. Hast du denn das kleine Schweinchen vorhin nicht gesehen?”
Nööh, habe ich nicht gesehen! Schade! Kommt das nochmal zurück?”
Das ist wohl eher nicht anzunehmen.

Pia möchte nun wissen, wo diese gestreiften Kinderchen sind und ob wir sie nicht besuchen können. Das musste ich ihr natürlich ausreden, da man die Tiere nicht einfach suchen kann und die Wildschwein-Mama auch sehr gefährlich werden kann, wenn man ihr und den Frischlingen zu nahe kommt. Da Pia ein praktisch veranlagtes Kind ist, kommt natürlich die Frage, was Wildschweine und die Frischlinge essen.
Da vorne, wo unser Auto jetzt steht, hast du doch gesehen, dass dort der ganze Rasen zerwühlt ist.”
Ja.”
Das waren die Wildschweine. Die wühlen mit ihrer Nase oder ihrem Rüssel den Boden auf und suchen in der Erde nach Futter. Wenn sie dann einen Wurm oder eine Schnecke gefunden haben, fressen sie die. Dabei machen die Wildschweine genau das, was du beim Essen manchmal auch machst, aber nicht tun sollst, sie schmatzen. Und zwar schmatzen sie richtig laut! Wenn sie schmatzen, zeigen sie damit, dass sie sich sauwohl fühlen und sie sich über die Schnecken, Würmer und auch Mäuse freuen.”
Wenn Lilly und ich mal schmatzen, gibt es Mecker von Mami. Im Kindergarten darf ich das aber auch nicht machen.”
Wildschweine machen sich auch über Pilze her, fressen junge Vögel, wenn diese aus dem Nest gefallen sind. Selbst junge Kaninchen sind vor ihnen nicht sicher. Das obligatorische „Warum“ folgt natürlich auf dem Fuße. Da kommt aber wie gerufen gerade jetzt das Geklopfe eines Spechtes und lenkt Pia vorerst von ihrer Fragerei ab.

Sonst hätte ich Pia bestimmt wieder die Frage beantworten müssen, warum die wilde Sau nicht zu den Schweinen in Onkel Otto´s Stall will. Das wüsste ich aber nicht schlüssig zu erklären und hätte mich vor der kleinen Enkelin wohl meiner Unwissenheit wegen blamiert. Warum die Sau nicht will, das ist mir zwar klar, nur mit welchen kindgerechten Worten sollte ich das einem vierjährigen Mädchen verdeutschen!?
Da ist nun der Specht sozusagen der Retter der Situation für mich. Pia guckt fasziniert nach oben, wer oder was da wohl hämmert. Sie kann den Specht aber nicht entdecken, der sitzt viel zu hoch oben und die Zweige und Äste am Baum verdecken die Sicht auf ihn. Außerdem huscht er immer auf die andere Stammseite, wenn wir beide ihn ausfindig gemacht haben. Wir laufen mehrere Male um den Baum herum. Aber der Specht ist doch immer wieder schneller. Pia wird ungeduldig, sie fühlt sich veräppelt und ruft zum Vogel hinauf „du böser Klopfervogel, du“. Sie möchte ihn doch zu gerne sehen. Denn ich sagte ihr, das sei ein sehr schöner, ein ganz bunter Vogel. Aber der will sich partout nicht zeigen und schwirrt davon und weg ist er und Pia hätte fast zu Weinen begonnen.
„Das ist ein Buntspecht. Der heißt so, weil seine Federn nicht nur eine einzige Farbe haben, sondern mehrere. Er hat schöne weiße und schwarze Federn und hinten, am Po, sind die Federn rot. Auch auf dem Kopf leuchtet ein roter Fleck, aber nur beim Männchen.”
„Und warum klopft der da immerzu am Baumstamm rum? Hat er denn kein Kopfweh davon?”
Das ist natürlich eine gute Frage. Andere Vögel verhalten sich ja nicht so, wie der Specht. Es gibt dafür mehrere Gründe für das Klopfen oder Trommeln. Im Frühjahr während der Balz hört man das Männchen ständig Trommeln. Das Trommeln wird hervorgerufen durch ein ganz schnelles Hämmern mit dem Schnabel gegen den Baumstamm. Es dient der Revierabgrenzung und gleichzeitig sollen die Weibchen angelockt werden.
„Er baut sich seine Wohnung damit, Pia. Er pickt mit seinem Schnabel auf den Stamm und hackt damit Späne aus dem Holz bis er eine richtige Höhle gemacht hat. Dann kommt seine Frau, legt Eier hinein und brütet sie aus bis kleine Specht-Kinderchen da sind. Das Männchen löst seine Specht-Frau beim Brüten ab.”
„Warum kriegt der Vogel denn gar keine Kopfschmerzen?”
„Er bekommt, ganz im Gegensatz zu dir, keine Kopfschmerzen, Pia. Denn dann würde er das ja nicht tun.”
Es gibt noch andere Spechtarten: Den bei uns am häufigsten vorkommenden Buntspecht haben wir ja bereits, wenn auch nur ganz flüchtig, gesehen. Des weiteren gibt es Schwarzspechte und Grünspechte. Auch den Grauspecht, den Blutspecht oder den Mittelspecht trifft man in Mitteleuropa an.
„Grüner Specht im Wald! Du sagst aber komische Sachen, Opa, du weißt das aber überhaupt nicht richtig. Grüne Spechte gibt es doch nur im Vogelpark in Marlow!”

Gemeint sind von ihr wohl die Papageien, die wir am Sonntag im Vogelpark gesehen haben. Aber na gut, wenn sie das meint, lasse ich sie erst einmal in diesem Glauben. Wie sollte ich ihr auch beweisen, dass es nicht nur im Vogelpark oder im Zoo grüne Vögel gibt. Kann ja sein, dass wir beide mal dem Grünspecht hier bei uns im Wald begegnen.
Wir gehen weiter den Waldweg entlang. Sie zuckelt mit ihrem kleinen Pilzkörbchen hinter mir her. Mal steht da links am Wegrand ein Fliegenpilz, mal rechts ein Birkenpilz oder sogar auch ein Steinpilz. Und wieder ein Pia-Schrei : „Opa, da schießt jemand! Ich hab Angst“
Ja, wer schießt denn da mit dem Maschinengewehr? Die Kleine zuckt richtig heftig zusammen. Ich schmunzele, denn ich kenne den vermeintlichen Schützen. Es ist ein Kleiber, ein ziemlich kleiner, bunter Vogel. Wenn er schnarrt, klingt das wie Gewehrsalven, und zwar sehr laut, es schallt weit hörbar durch den Wald.

Zeigst du ihn mir, Opa?“
„Gerne, meine kleine Maus, aber der ist so klein, dass du ihn bestimmt nicht sehen kannst. Guck, dort ganz weit oben, da ist er!“
„Wo denn!“
Aber es hat keinen Zweck, der Kleiber ist nicht nur recht klein und sitzt hoch oben in den dicken Ästen der Eiche, er ist auch durch seine Farben gut getarnt und nur schwer auszumachen. Dabei ist das ein sehr interessanter Vogel. Er läuft nämlich am Baumstamm nicht nur hinauf, sondern auch kopfüber hinunter, was andere Vögel nicht können. Das hätte ich dem Mädchen doch zu gerne gezeigt. Da würde sie sich aber sehr wundern, über diesen wunderlichen kleinen Vogel, was der so alles anstellt. Auch wenn ich den kleinen Piepmatz sehe, für sie bleibt er dennoch unsichtbar, so sehr sie sich auch anstrengt. Den Kleiber kennt man auch als Spechtmeise, weil sein Schnabel an den Specht und seine Verhaltensweisen an Meisen erinnern.
Die schwarzen Raben und die schwarz-weißen Elstern beachtet Pia nicht weiter, die kennt sie auch aus der Stadt. Die hüpfen dort ja überall herum, auf der Wiese vor den Häusern, auch im Garten der Eltern sieht sie immer wieder welche. Sogar bis auf auf den Balkon wagen sie sich manchmal.
Eine ganze Weile suchen wir vergebens nach Pilzen. Dafür entdecken wir am Wegrand aber so allerhand Zeugs, das schlimme Menschen hier illegal entsorgt haben. Warum machen manche Leute so etwas, fragt auch Pia.

Ich konnte Pia sozusagen als Wiedergutmachung für den Müll im Wald eine ganz besondere Rarität zeigen: Ein Buche, die auf zwei Beinen steht. Die Natur bringt doch immer wieder Kuriositäten hervor.
„Wie die Füße vom Elefanten", kommt es sofort von Pia. Ist noch gar nicht lange her, da waren wir im Zirkus, und natürlich war sie von mächtigen Elefanten mit dem langen Rüssel, den großen Schlappohren und den großen Füßen beeindruckt. Da war ihr Vergleich mit den Elefanten gar nicht so abwegig.
Aber dann, ein Eichelhäher machte auf sich aufmerksam. Zu hören ist er ohnehin schon aus großer Entfernung. Er ist eben ein richtiger Krawallmacher, ist wohl der Aufpasser, der die anderen Tiere vor den Menschen warnt. In recht geringer Entfernung hoppelt so einer sogar auf dem Waldweg herum. Pia ist begeistert und quittiert das mit wildem Kreischen.
„Psst Pia, sei bitte leise, du verscheuchst ihn doch sonst und dann ist er weg!“
„Opi, guck doch, da ist noch einer! Wollen wir den fangen?“
Natürlich wollen wir nicht, und könnten es ganz sicher auch nicht. Denn welcher Vogel in der freien Natur lässt sich fangen. Aber sie stürmt los, dem Eichelhäher nach. Mit dem Erfolg, dass sie über eine Wurzel stolpert und auf der Nase liegt. Da muss Opa nun trösten, und zwar in doppelter Hinsicht. Sie hat sich etwas weh getan und der Vogel hat sich natürlich auch nicht fangen lassen. Der ist weggeflogen und schimpft nun in großer Lautstärke und voller Empörung über Pia´s Fangversuch, dass es nur so durch den Wald schallt.

Sie hockt jetzt auf dem Waldboden am Wegrand und beguckt sich ihre Abschürfung am Knie. Das Gras und das Moos machen den Boden angenehm weich und trocken. Ich gehe derweil schon weiter während ich die Blaubeerensträucher mustere. Könnte ja sein, dass doch noch die eine oder die andere Beere daran hängt. Ist aber nicht mehr der Fall. Dagegen vermisse ich meine kleine eifrige Pia. Sie liegt bäuchlings auf dem Boden und betrachtet irgendetwas. Was treibt sie denn dort?

Eine Ameise.“

Die Kleine traut sich natürlich nicht, sie anzufassen, tippt mit einem kleinen Zweig aber immer wieder vorsichtig auf das Insekt, das jedes Mal ganz verwirrt seinen Kurs wechselt. Mit Ameisen hat sie schon eine ungute Erfahrung gemacht. Am See bei Onkel Otto haben sich rote Feuerameisen Nester gebaut. Wenn diese Biester, so klein sie auch sind, zubeißen, verspürt man einen recht heftigen und länger andauernden Schmerz an der betroffenen Stelle. Pia wurde einmal von einer der roten Feuerameisen gebissen, weil sie dieser mit dem Finger den Weg versperren wollte. Auf Störungen regieren rote Feuerameisen sehr aggressiv. Auf die Frage, ob Ameisen auch Menschen fressen würden, konnte ich das Mädchen aber beruhigen.

Nein, so schlimm wird das nicht. Aber wenn sehr viele davon angreifen, kann es schon gefährlich werden. Sie ernähren sich aber hauptsächlich von toten Insekten und Regenwürmern. Ach süße Sachen mögen sie gerne. Also halte deine Gummibärchen schön fest.“

Sofort huscht die kleine Hand in die Jackentasche, Opa schmunzelt.

Aber bei dieser Ameise handelt es sich nicht um die gefährliche rote Feuerameise, es ist die viel größere rote Waldameise, die zur Verteidigung kräftige Kieferzangen besitzen. Die Zangen können bei Angreifern oder ihren Opfern auch die Haut durchdringen. In diese Wunden wird dann hochprozentige Ameisensäure gespritzt. Dazu wird der Hinterleib der Ameise zwischen den Beinen nach vorn geklappt . Die dadurch ausgelösten Schmerzen vertreiben die meisten Angreifer.

Die roten Waldameisen besitzen riesige Kräfte und können ein vielfaches ihres Körpergewichtes tragen. Ich habe schon kleine Ameisen mit großen Stöcken oder viel größeren Beutetieren gesehen, welche sie behände in ihren Bau tragen. Ameisen zeigen ein typisches Revierverhalten zwischen den Kolonien. Es finden auch massive Kämpfe zwischen den Ameisen unterschiedlicher Kolonien statt. Sie können sich durch die Gerüche untereinander unterscheiden. Innerhalb ihres Reviers wird jeder Feind sofort aggressiv angegriffen.

Wo eine Ameise ist, muss auch ein großer Bau in der Nähe sein. So war es auch. Nur wenige Meter weiter stand so ein Ameisenhügel, fast so hoch wie Pia. Sie starrt mit vor Angst weit aufgerissenen Augen auf das, was Opa jetzt macht. Der legt seine Hand flach auf den Hügel, so dass sich sofort Dutzende der Insekten auf den vermeintlichen Angreifer stürzen um ihren Bau zu verteidigen. Opa erklärt Pia, die Ameisen würden zwar in die Haut beißen und ihr Gift verspritzen, doch das sei absolut schmerzfrei und völlig gefahrlos. So ist es auch, ein leichtes Zwicken ist zu verspüren und die Hand riecht intensiv säuerlich durch die Ameisensäure.

Möchtest du das auch mal machen?“

Ganz entschiedenes und ängstliches Kopfschütteln und zwei Schritte zurück vom Ameisenbau sind Pia´s Reaktion. Sie sollte das auch gar nicht riskieren, ihre Haut ist ja noch viel empfindlicher als die von ihrem Opa. Und somit lassen wir die Ameisen in Ruhe.

Wir haben doch vorhin den Kleiber gesehen, weißt du noch? Der muss sich sehr in acht nehmen vor diesem Eichelhäher, denn der will den Kleiber gerne fressen.”
Doch jetzt hat Pia schon keine Lust mehr, ihrem Opa zuzuhören.
„Opa, mir tun die Füße weh, nimmst du mich bitte auf den Arm?“

Pilze und Tiere sind nun kein Thema mehr, das Kind ist müde und möchte nur noch eines: Raus aus dem Wald.
Das ist das Signal für den Rückweg zum langweiligen Auto. Für heute ist es genug für Pia´s Beine. Sie hat heute schon so viele und neue Dinge gesehen, war eine tapfere kleine Wanderin. Die heutigen Eindrücke begeistern das kleine Kind, machen es aber auch müde. Im Auto nickt meine liebe kleine Enkelin gleich ein und wacht erst wieder auf, als ich daheim die Autotüre aufmache.

Die fliegenden Pilze waren am Anfang so wichtig für sie, dann gab es aber so viel Anderes, Neues und Interessantes zu sehen und zu erleben, dass die Pilze schon nach kurzer Zeit weniger bedeutend wurden. Da wird Mami aber staunen, was Klein-Pia so alles zu berichten hat. Na, und erst ihre große Schwester Lilly wird neidisch gucken.
In der Wohnung spricht die Kleine dann immer wieder von dem Frosch, der in Wirklichkeit eine Unke ist, der sich so arg durch das Gras und über kleine Äste quälen musste. Und er ist nun auch gar nicht mehr so ekelig. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn ich aufgefordert worden wäre, beim nächsten Mal den Frosch an ihrer Stelle zu küssen damit sie vielleicht einen schönen und reichen Prinzen wie aus ihren Märchen bekommen würde. Zum Glück kommt ihr dieser Gedanke aber nicht.
Es war ein Tag mit vielen schönen Erlebnissen für das Kind. Auch für mich ist es beglückend zu sehen, wie meine kleine Enkelin die Natur mit staunenden Augen in sich aufnimmt.
Sie will dann auch gleich ins Bettchen gehen, so müde ist sie von den vielen neuen Eindrücken im Wald. Und längst ist es vergessen, dass sie heute Morgen so früh aufstehen musste.
Aber was ich eigentlich noch sagen wollte, fliegende Pilze haben wir nicht ins Körbchen gepackt, sie sind ja giftig. Das habe ich dem Mädel erklärt. Dafür haben wir aber Butterpilze, Birkenpilze und richtig große, schöne und knackige Steinpilze mit und ohne Maden drin gefunden! Am besten haben Pia, aber auch mir, doch die Fliegenpilze gefallen.
Die sind so schön rot angemalt und haben so viele schöne weiße Tupferchen oben auf dem Hut", die hätte Pia am liebsten nach Hause mitgenommen um sie Mami und ihrer großen Schwester Lilly zu zeigen.

 

Pia in Opa´s Garten bei der Kuhweide

Einen Garten müsste man haben“, sinniert Jan vor sich hin, „dann bräuchte sich Katrin nicht über die ständig steigenden Obst- und Gemüsepreise in Waldi´s Supermarkt zu echauffieren.“

Fiete grient sich eins, und meint: „Und öko wäre dann auch alles, was so auf deinem Suppenteller schwabbelt.“

Einen Garten habe ich aber nicht. Würde mir auch keinen Spaß nicht machen. Immer die Beete umbuddeln und Unkraut rupfen, nee du, das ist nix für mich”!

Da sitzen nun die zwei Unzertrennlichen am Hafen in Zingst und gucken gelangweilt übers Wasser in die Gegend. Ist ja auch super schön hier, in dieser Landschaft am Zingster Strom und am Barther Bodden.

Guck doch mal“, fängt Jan wieder an, „da drüben auf der Kirr, da stehen Kraniche. Die Urlaubers geben dafür richtig viel Geld aus um das zu sehen und zu erleben. Wir können das immer und ganz umsonst haben.”

Ja, ist schon `ne dolle Ecke hier auf der Halbinsel.”

Fiete ist ja manchmal ein bisschen neidisch, dass er nicht so wie sein Freund auf dieser Zingster Boddenseite ein Wochenend-Grundstück hat.

Nöh, nicht Zingster Boddenseite“, kommt es belehrend aus dem Munde des Freundes, „sondern an der Ostsee liegt Zingst!”

Aber dieses Streitthema zwischen ihnen wollen wir mal doch lieber höflich umschiffen. Da werden sich die beiden doch nicht einig.

Sage mal, Fiete, du hattest mir mal etwas von dem tollen Garten erzählt, den dein Opa in Barth hatte. War der nicht auf der Kuhweide, oder wie das dort heißt, gleich achtern vom Aschberg?”

Ja, das ist so ein schöner Garten. Als Kind war ich im Sommer sehr oft dort beim Opa. Ich denke gerne dran zurück.”

Na, dann erzähl doch mal. Machst ja richtig glänzende Augen dabei.”

Er grient sich eins, denn die Geschichte, die nun kommen wird kennt er schon. Er weiß, sein Freund hing sehr an seinem Opa und erinnert sich ebenso gerne an seine Erlebnisse in dessen Garten. Und da legt der auch schon los.

Auf der Kuhweide, manche sagen auch Kuhwiese dazu, gleich hinter dem heutigen Barther Aschberg hatte mein Opa, Gottlob hieß er, einen Garten. Heute habe ich den Garten in Bewirtschaftung. Von zwei Seiten war der zu Opas Zeiten von einer gewaltigen Brombeerhecke umgeben. In der Zeit der reifen Brombeeren war das für mich, damals noch ein kleiner Bubi, das reinste Paradies, sozusagen mein Brombeer-Eldorado. Denn die Beeren konnte ich gar nicht so schnell pflücken und vernaschen wie die nächsten reif wurden, so mächtig gewaltig war die Hecke!”

Übertreibste jetzt nicht ein bisschen?”

Gar nicht. Auch die Sache mit dem Pflaumenbaum ist mir noch in bester Erinnerung. Direkt unter dem Baum, schon damals ein uraltes Gewächs, steht eine Gartenlaube. Die ist fast ebenso alt wie der Pflaumenbaum neben ihr. Schon recht klapperig wirkt sie und steht auch schon etwas windschief da. Wohl mehr ein großer Schuppen als eine Gartenlaube. Darin hat sich mit den Jahren so allerhand Gerümpel angesammelt. Ich schäme mich heute fast, das Laube zu nennen. Bereits bei meinem Opa, und das liegt viele Jahre zurück in der Vergangenheit, stand die Laube genauso da wie sie es heute noch tut. Und hat mich bei meinen damaligen Opa-Besuchen wie ein Magnet angezogen. Zwischen all dem Gerümpel da drin ließ sich so wunderschön stöbern. Ich zerkratzte mir dabei die Arme und die nackten Beine. Doch das machte mir nichts aus, denn vor lauter Eifer bemerkte ich das meistens gar nicht.”

Wieso nackte Beine, hast du da etwa FKK gemacht”, lästert Jan.

Quatsch, du weißt doch, wie das früher war, damals liefen wir Jungs im Sommer in kurzen Hosen rum. Ich hatte meistens so eine kurze Lederhose an und dazu lederne Hosenträger mit `nem Hirschen, aus Hirschgeweih geschnitzt, dran auf dem Quersteg.”

Ah ja”, Jan stellt sich das bildlich vor, wie sein Freund in kurzen Lederbüxen ausgesehen hat und feixt. Aber der bekommt das überhaupt nicht mit, so sehr ist er mit seiner Geschichte vom Opa Gottlob und dessen Garten beschäftigt.

Bei vielen Sachen in dem Gerümpel in der Laube wusste ich nicht, wozu sie da waren. Und es war für mich immer spannend, welch wunderliche Geschichten Opa manchmal darüber zu erzählen wusste. Sie regten meine Fantasie an, ich fühlte mich häufig wie bei Ali Baba im Wunderland, wenn Opa, dieser begnadete Erzähler mit seiner knarzenden Stimme loslegte.

Nun bin ich inzwischen ja selbst Opa, habe den Garten samt Laube und Pflaumenbaum übernommen und habe meine Freude daran, wenn Enkelin Pia bei ihren Opa-Besuchen, also bei mir, immer wieder staunt, was ich da im Schuppen so für alte Dinge aufbewahre. Es sind immer noch die gleichen ollen Sachen von damals. Natürlich sind immer mal wieder neue alte Sachen dazugekommen.

Die gewaltige Brombeerhecke ist aber nicht mehr da, das Zeugs wucherte derart, dass der Nachbar jahrelang moserte, ich solle sie herausreißen, sonst würde er Beschwerde einreichen.”

Da hatte dein Gartennachbar wohl nicht so unrecht, was?”

Um ehrlich zu sein, mir war die Hecke auch schon über. War ja kaum noch zu bändigen, das Gestrüpps.”

Am interessantesten aber ist auch heute der uralte Pflaumenbaum für Fiete´s Enkelin Pia. Hinterm Schuppen nämlich steht immer noch die alte verrostete Regentonne.

Über die möchte die Kleine, so wie ich früher auch, auf das Schuppendach klettern und da oben die Pflaumen naschen. Sie ist aber noch zu klein um da rauf zukommen, sie ist ja erst fünf Jahre alt. Da helfe ich dem Mädel dann beim Klettern auf das Dach. Überhaupt, ich frage mich so manches Mal, warum ist das Mädel kein Junge geworden. Ihrem Verhalten nach wäre das ganz gut möglich. Trotz ihrer erst fünf Jahre ist sie sehr selbstbewusst, lässt sich nichts gefallen und klettert besser als so mancher Junge auf die Bäume.

Wenn sie dann mit Opas Hilfe oben auf dem Laubendach angekommen ist, geht es auch sofort an die Pflaumen und die Kerne werden einfach so über die Dachrinne gespuckt. Hin und wieder hört sie mich da unterm Baum meckern, dann ist wohl ein Kern auf meiner Glatze gelandet, und Pia kichert sich eins. Genauso wie es damals bei meinen Opa-Besuchen auch immer ablief!

Manchmal sind die Pflaumen auch noch nicht ganz reif, aber gepflückt werden sie trotzdem. Was dann Bauchkneifen zur Folge hat und nur noch der Spurt zum Donnerbalken Erleichterung bringt.

Aber diese Erfahrung muss das Mädchen wohl noch einige Male machen, bevor sie das kapiert. Denn auf Opas Mahnungen zu hören, das ist zu viel verlangt. Mir ging das ja nicht anders damals. Auch gestern mal wieder. Mit bedeppertem Blick kommt Pia von besagtem Balken zurück, verkrümelt sich im Schuppen und möhlt dort herum. Da hat sie dann in der hintersten Ecke ein in ihrem Verständnis eigentümliches Gerät entdeckt. Und schon kommt der Ruf:

´Opa, was ist denn das für ein komisches Ding? Wofür brauchst du denn so etwas?`

Einen alten, noch von einem richtigen Stellmacher auf dem Dorf bei Herrmannshof gebauten hölzernen Handwagen mit eisenbeschlagengen Rädern hat sie entdeckt. So ein narrisches Ding war ihr bisher noch nicht über´n Weg gerollt!

Also: Opa, erzähl doch mal."

Auch Jan guckt neugierig zu Fiete hin, was es denn nun mit diesem seltsamen Gerät wohl auf sich gehabt haben mag. Der ziert sich zunächst, aber nur scheinbar, denn er freut sich im Stillen über Jan´s Interesse an der Geschichte.

Tja", fängt er an, "das ist ein Handwagen wie ihn vor über siebzig Jahren die meisten Leute hatten. An Handwagen oder Fahrradanhänger mit Gummireifen war damals, gleich nach dem Krieg, überhaupt nicht zu denken. Diesen Handwagen, erklärte ich Pia, den du im Schuppen gefunden hast, hat mein Vater, also dein Uropa, 1954 gekauft. Was habe ich mich mit dem Ding da noch abquälen müssen!”

"Aber wieso hast du dich mit dem Handwagen herumplagen müssen", kommt der erstaunte Einwand.

"Na ja, das kam so: Nach dem Krieg wohnten wir, wie du weißt, für kurze Zeit in Barth-Stein, dem heutigen Tannenheim. Das ist übrigens eine Wohnsiedlung, die einst für Dienstverpflichtete und Zwangsarbeiter der Rüstungsindustrie des Dritten Reiches errichtet wurde. Obwohl es zu Beginn der 1950er Jahre noch nicht viel zu kaufen gab, war es meinem Vater doch gelungen, besagten Handwagen zu ergattern. Am Barther Marktplatz gab es einen Laden, in dem Möbel, Gartengeräte und eben auch, wenn man Glück hatte, einen Handwagen kaufen konnte. Später wurde aus diesem Laden der Klub der Volkssolidarität. Zu jener Zeit, als mein Vater das Handwägelchen kaufte, prangten am Eckhaus Markt / Klosterstraße zwei Straßenschilder in verschiedenen Sprachen: Markt mit lateinischen und eines mit kyrillischen Schriftzeichen: Маркт.”

Ach richtig, daran erinnere ich mich auch, nachdem du das jetzt erzählst. Das andere Straßenschild war für die Russen. Auch in anderen Straßen gab es solche Straßenschilder mit russischer Schrift. Die Fischerstraße hieß demnach wohl Фишеру дорога?»

Weiß nicht. Diese Schilder, die gab es überall. Aber, weil es, wie schon gesagt, kaum etwas zu kaufen gab, mussten viele Dinge eben organisiert werden, wie das umschrieben wurde. Zum Beispiel Wandfliesen. Fußboden und Wände unserer Waschküche und das Bad in Barth-Stein wollte mein Vater fliesen. Woher Fliesen nehmen ohne zu stehlen!?”

Denn als die Russen nämlich die Gebäude in Barth-Stein Anfang 1947 nach längerem Leerstand an die Stadt zurückgegeben hatten, konnten die Wohnungen nur durch umfangreiche Instandsetzungsarbeiten so leidlich bewohnbar gemacht werden. Zum größten Teil fehlten Fenster, Türen, Fußböden, Öfen, die sanitären Einrichtungen waren ausgebaut und entwendet oder auch einfach nur demoliert worden. Trotzdem wohnten in einigen Baracken westlich des Lager-Haupteingangs bereits etwa 20 Flüchtlingsfamilien.

Hier galt für die neuen Einwohner, durchweg Flüchtlinge bzw. Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten die Devise: Hilf dir selbst. Wer es selbst in die Hände nahm, dem wurden für die Herrichtung der Unterkunft auf eigene Rechnung als Entschädigung ein halbes Jahr mietfreies Wohnen gewährt. Später dann gab es von etlichen Neubürgern die Forderung, das mietfreie Wohnen auf ein ganzes Jahr auszudehnen.

Das Problem der Beschaffung von Baumaterial, um die Wohnungen wieder in Schuss zu bringen, existierte auch noch im Jahr 1954, als wir nach Barth-Stein kamen.

In diesem Zusammenhang war es nun aber allgemein bekannt, dass im Wald in Richtung Bodstedt, wenige Kilometer von Barth-Stein entfernt, bis zum Kriegsende eine Munitionsfabrik, die Pommersche Industriewerke PIW, existierte. 1946 wurden die Fabrikanlagen von der Roten Armee unbrauchbar gemacht.

Ein schier unlösbares Problem stellten die baulichen Überreste nach den Sprengungen für die Stadt dar. Nicht alle Gebäude des Werkes sind zunächst gesprengt worden. Viele Anlagen standen noch unversehrt oder waren nur beschädigt. Ein Teil ist von Feuer zerstört worden, der Rest wurde schließlich im Februar 1946 den deutschen Selbstverwaltungsorganen zum Abbruch übergeben. Der Abbruch war soweit durchgeführt, dass nur noch Ruinen standen, die nicht mehr verwertbar waren.

Den deutschen Behörden oblag es nun, dafür Sorge zu tragen, dass die gesamten restlichen Werksanlagen völlig zerstört wurden. Es durfte kein Gebäude erhalten bleiben, so die Order des sowjetischen Kommandanten.

Das wurde dann 1952 vollzogen.

Es war inzwischen also so etwas wie ein Niemandsland im Volkseigentumsstaat geworden. Und Fiete fährt in seiner Erzählung fort:

Ausgerüstet mit unserem kleinen hölzernen, eisenbeschlagenen Handwägelchen machte sich mein Vater regelmäßig zu Fuß auf den Weg zur PIW. Ich, noch keine12 Jahre alt, musste mitgehen und ihm dabei helfen”.

Du Ärmster! War doch bestimmt eine ganz schöne Asterei, mit eurem Handwagen zu Fuß zur PIW und beladen wieder zurück?"

Das kann ich dir vielleicht flüstern, sage ich dir. In dem ausgedehnten Trümmerfeld organisierten wir dann Baumaterial, was auf legalem Wege ansonsten nicht zu bekommen war. Aus den früheren chemischen Entwicklungs-Laboren, Waschräumen und Toiletten wurden Wandfliesen, Wasserrohre, Wasserhähne, aber auch Ziegelsteine, Kupferkabel und Blei-Wasserleitungen abgebaut bzw. ausgebuddelt und nach Barth-Stein gekarrt. Die Spuren dieser Buddeleien kannste heute noch sehen. Und das immer mit dem kleinen, eisenbeschlagenen Handwägelchen, mehrere Kilometer hin und wieder bis nach Barth-Stein zurück. Wohlgemerkt per pedes, das war zu jener Zeit die absolute Normalität.

Auf diese Art und Weise hat mein Vater das heimische Nest so leidlich wohnlicher gemacht.

Nach knapp einem Jahr allerdings bezogen wir schon eine größere Wohnung in der Stadt Barth und die ganze Schinderei zur PIW und zurück mit Handwägelchen war damit ja eigentlich umsonst gewesen. Aber nun kam etwas Neues auf mich zu. Mein Vater legte sich zwei Schweine zu, um die Familie mit Fleisch zu versorgen. Geschlachtet wurde in der Hafenstraße im nahe gelegenen Schlachthof. Eine Frau hat gegen Bezahlung das Fleisch zerlegt und die Würste gemacht. Geräuchert hat mein Vater die Würste und Schinken dann selbst. Auf dem Hof hatte er dafür einen Räucherofen gebaut. Auch Pferdeschinken hat Vater geräuchert. In der Baustraße gab es die Pferdeschlachterei Krüger. Das Pfund oder Kilo, weiß nicht mehr so genau, kostete eine Mark.

Im Bekanntenkreis musste ich an jedem Wochenende sogenannten Drank, so eine Art Schweinefutter, abholen. Und auch das wieder mit unserem Handwägelchen. Wenn Freunde mich damit sahen, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken!

Ja, und so entstand bei mir eine unsägliche Abneigung gegen das eigentlich völlig unschuldige, harmlose, eisenbeschlagene Handwägelchen. Das Dings haben wir aber nie entsorgt, es steht nach wie vor in der Gartenlaube, in der hintersten Ecke.

Das waren typische Nachkriegs-Erlebnisse, damals, als man vieles organisieren musste weil es kaum etwas zu kaufen gab oder das Geld sehr knapp war. Das vergisst man nicht, auch wenn die Geschäfte heutzutage proppevoll sind und man sich fast alles leisten kann.”

"Fiete, ist das auch wirklich alles wahr?", kommt es skeptisch aus dem Munde des Freundes.

Aber na klar doch” kommt es fast schon empört zurück. “Alles reineweg die reine Wahrheit!”

Bis auf die paar kleinen ausschmückenden Übertreibungen wollen wir das mal glauben. Dann stehen beide auf von ihrer Bank, gehen zu den Autos und fahren nach Hause. Der eine fährt nach Barth zu Frau und Enkel, und der andere nur zwei Straßen weiter in Zingst zu seiner Katrin. Das Abendbrot wartet.

Morgen bin ich wieder mit Enkelin Pia im Garten. Da kann die kleine Rackerin wieder auf die Regentonne hinterm Schuppen steigen, von dort auf´s Dach klettern, sich über die Pflaumen hermachen und mir die Pflaumensteine auf die Glatze spucken!”

Jan denkt so im Stillen, der Fiete lässt seiner kleinen Pia aber eben auch alles durchgehen.

 

17 - Opa, warst du ein General?

Endlich scheint mal wieder die Sonne, da hält Opa Krischan nichts und niemand mehr in der Stube. Er möchte dieses schöne Wetter nutzen um im Garten einiges zu erledigen. Einen eigenen Garten hat er zwar nicht, der gehört Nikki, seiner Schwiegertochter. Doch er mag die Gartenarbeit und geht Nikki immer gerne zur Hand. Ist ja auch kein Problem, Nikki und er wohnen in der kleinen Stadt nur zwei Straßenecken voneinander entfernt. Dadurch ist es ihm auch möglich, seine fünfjährige Enkelin Pia vom Kindergarten abzuholen, wenn Nikki das zeitlich nicht schafft. Auch heute wieder ist so ein Tag. Nikki muss zur Fahrschule und hat die Erzieherin informiert, dass Opa Klein-Pia abholen kommt. Im Städtchen kennt ja jeder jeden, und er ist hier sowieso weit und breit einer der bekannteren Leute im Ort, weil er täglich in den Straßen und Gassen mit seinem Fotokasten unterwegs ist.
Zwanzig Minuten nach drei geht er rüber zum Kindergarten, Pia wartet schon ganz ungeduldig. Weiß sie doch, mit Opa unterwegs zu sein, bedeutet auch, es gibt etwas zum Naschen. Klar doch, so auch heute. Vom Kindergarten aus gehen er und seine kleine Begleiterin schnell bei Eis-Lotti noch Eis schleckern. Ein Eis mit viel Schlagsahne und Kirschen oben drauf, das mag Pia am liebsten. Wenn Pia dann das halbe Eis verdrückt und die andere Hälfte über Finger
und Shirt verteilt hat, geht es weiter in den Garten. Dazu müssen sie die breite Hauptstraße, auf der immer viel Autoverkehr herrscht, überqueren. Pia zeigt ihrem Opa jedes Mal, dass sie es schon gelernt hat wie man sich hierbei richtig verhalten muss. Er schmunzelt, aber so, dass Pia das nicht mitbekommt, über ihr Gehabe dabei. Denn sie erklärt ihm wichtigtuerisch mit ganz ernster Miene und Stimme in belehrendem Ton, dass Opa immer erst nach links, und dann nach rechts schauen muss, und dann erst darf er rübergehen. Diesen Spaß macht er immer aufs Neue mit. Es freut ihn, wie aufmerksam sie im Kindergarten zuhört, wenn dort den Kindern Wissen über bestimmte Verhaltensweisen vermittelt wird.
Im Garten dann kramt er nun einige Zeit im Gartenhäuschen herum, während die Kleine in ihrem ganz persönlichen Blumenbeet ein wenig Unkraut zupft. Doch auch Lilly hat Aktien an dem Beet, es gehört ja ihnen beiden. Aber Pia ist bei der Gartenarbeit derart tonangebend, dass ihre große Schwester kaum zum Zuge kommt. Viel zu zupfen gibt es ja eigentlich nicht, denn sie ist mit der Mami und dem Opa recht häufig im Garten, so dass hier alles bestens in Schuss ist. Pia nimmt ihre Aufgabe sehr ernst, sie eifert den Erwachsenen emsig nach. Das mag Opa so sehr an seiner Enkelin und er bestärkt nach Kräften ihren Ordnungssinn.

Inzwischen ist auch Nikki im Garten angelangt und hat Lilly, Pias große Schwester vom Training abgeholt und mitgebracht. Lilly ist drei Jahre älter als Klein-Pia.
Heute war ihre erste Fahrstunde auf der Autobahn. Der zollte sie immer großen Respekt, weil es dort zwar keinen Gegenverkehr und keine Links- und Rechtsabbieger gibt, aber bei den ganz besonders schnellen Fahrern auf der Überholspur beschleicht sie immer ein etwas mulmiges Gefühl. Mit Tempo achtzig über leere Landstraßen, das gefällt ihr am besten. Doch das wird sie wohl nur ganz selten erleben, wenn sie erst einmal ihren Führerschein in der Tasche hat und selber fahren darf.
Ein Auto steht ja schon in Rawenhagen auf dem Hof ihrer Eltern, das hat sie sich vor einigen Tagen zugelegt. Pia und ihre große Schwester Lilly können es kaum erwarten, dass sie mit Mami Touren an den Strand machen können, ohne erst Opa zu bitten oder zu hoffen, dass die Freundin aus der Nachbarschaft Zeit hat und Lust, mit ihnen nach Ahrenshoop zum Baden und Sonnen zu fahren.
Klein-Pia zeigt der Mami ihr Beet, und wartet auf ein Lob, weil das alles so reinlich und akkurat aussieht. Für das Akkurate allerdings sorgt Opa wenn Pia im Kindergarten ist und ihm nicht andauernd vor den Füßen herumturnt und alles angeblich immer besser weiß und kann als Opa. Aber das Lob kommt natürlich, und Opa betont ausdrücklich, wie fleißig Pia doch immer ist, vergisst aber auch nicht, Lilly mit Anerkennung zu bedenken. Lilly ist nicht so häufig im Garten, weil sie drei Mal in der Woche zum Training geht und außerdem noch Musikstunden bekommt. Das Interesse an der Musik behagt Opa ganz besonders, denn Lilly spielt Klavier, ein Instrument, für das er schon seit seiner Kindheit eine große Schwäche hat.
Nikki macht sich indes bereits am Grill zu schaffen, hat ein paar Koteletts und Bouletten auf den Rost gelegt. Wenn dann der Grillduft durch den Garten zieht, bedeutet das auch für die beiden Mädels, alles stehen und liegen zu lassen. Unter dem alten Walnussbaum, gleich neben dem Gartenhaus, sitzen sie dann an dem großen runden echten Eichentisch und warten, dass sie endlich Steaks serviert bekommen.
Den tollen Eichentisch hat Mirko gebaut. Mirko ist der eigentliche Herr des Hauses, seit einiger Zeit aber als Berufssoldat im Auslandseinsatz. Die beiden Mädels vermissen ihren Papa sehr, und Nikki macht sich natürlich Sorgen, dass ihm etwas Schlimmes zustoßen könnte, dort im fremden Land.
Auch heute wieder bringt sie während einer Nachrichtensendung im Fernsehen das Gespräch auf die Situation in Mirkos Einsatzgebiet.
Die kleine Pia mischt sich in das Gespräch ein und fragt unvermittelt: "Opa, warum bist kein Soldat wie Papi?"
Dafür ist er wohl um viele Jahre zu alt. Aber ja,
natürlich war er auch einmal bei den Soldaten, wenn auch zu anderen Zeiten.
"Warst du General bei der Bundeswehr, Opa?" hakt jetzt Lilly ein.
Opa war weder bei der Bundeswehr, noch war er General. Er war drei Jahre bei der Nationalen Volksarmee und brachte es nur bis zum Unterfeldwebel.
Pia kichert amüsiert: "Volksarmee, was ist denn das für ein komisches Ding?"
Einer Fünfjährigen das zu erklären, das versucht er gar nicht erst. Lilly macht sich auch noch über Opas Dienstgrad lustig: "Unterfeldwebel? Warum warst du denn nicht Obergefreiter? Der Papa von Mike ist auch Obergefreiter, ist also viel höher als du."
Mike ist Lillys Freund beim Sporttraining. Und was Mike sagt, zählt sowieso viel mehr als das, was Opa sagt!
"Warst du auch in Afrika im Krieg, Opa?"
Opa
war nicht in Afrika, zumindest nicht als Armeeangehöriger. In einem Krieg war seine Armee Gott sei Dank auch nicht. Aber erleben kann man als junger Mensch in Uniform trotzdem einiges. Das hat Opa den beiden Mädels auch gesagt. Und prompt ist wie aus einem Munde zu hören: "Opa, erzähl doch mal!"
Also kramt er in seinen ollen Rostocker Abenteuern herum und überlegt, welches davon wohl am besten bei den Mädels ankommen könnte. Soll er die Sache mit dem Werbeoffizier erzählen? Oder vielleicht das Ding von seiner Verhaftung in Berlin während der Zeit des Mauerbaus?

Und er beginnt von seiner Anwerbung durch den Hauptmann mit dem komischen Namen Zicker-Schmidt zu erzählen.
"Ja, also das war so. Ich habe da ja noch nie drüber gesprochen, über meine Soldatenzeit, hier bei euch und so" legt er los und angelt sich erst einmal eine Apfelsine und fängt an, sie zu schälen. Mit so einer kleinen Verlegenheitsbeschäftigung kommt er vermutlich leichter auf die nötige Gesprächstemperatur.
„Ich war in der Kaserne in Rostock Soldat. Genau gegenüber der großen Schwimmhalle Neptun. Ihr wisst doch, dort, wo wir manchmal zum Schwimmen hinfahren."

"Fahren wir am Sonntag wieder hin zum Schwimmen, Opa, das macht mir immer so viel Spaß, bitte lieber Opa!"

Opa verspricht eine Fahrt am Sonntag zur Neptun-Halle.

Doch da fällt ihm ein, an diesem Sonntag hat Hansa Rostock ein Heimspiel im Ostsee-Stadion.

"Ist das da, wo sich immer so viele Männer kloppen?"

Woher hat Lilly denn das nun schon wieder? Sie war doch noch nie im Ostsee-Stadion.

"Habe ich schon ein paar Mal in der Sportschau gesehen, das ist immer so lustig."

Na ja, Opa und auch Nikki finden solche Bilder im Fernsehen überhaupt nicht lustig.

Da beginnt Opa doch lieber von seiner Soldatenzeit an zu berichten.

"Drei Jahre lang war ich bei den Soldaten in Rostock. Noch vor der Wehrpflicht. Als Freiwilliger.“
"Hat dir das auch Spaß gemacht, Warst du denn gerne ein Soldat, Opa?"
"Anfangs schon, mein Mäuschen, aber dann nicht mehr so richtig. Aber ihr müsst jetzt still sein und mich nicht unterbrechen, sonst bringt ihr mich noch völlig aus dem Konzept, das ist schon so viele Jahre her."
Die Mädels nicken mit ernster Miene und hören gespannt zu.
"Es war einmal, vor vielen, vielen Jahren. Es fing eigentlich schon 1954 an, als ich noch ein Kind war und noch zur Schule ging. In unserem Dorf habe ich bei der MTS häufig die Soldaten der KVP gesehen, die haben dort gearbeitet.
„Was ist das, MTS und KVP?"
"Also Kinnings, ihr wolltet mich doch nicht mehr unterbrechen, Ruhe jetzt bitte! MTS war so Art Bauernhilfe, und KVP, das waren Soldaten. Öfters habe ich so einen uniformierten Reitersmann von der KVP auf dem Sommerweg zwischen unserem Dorf und der Stadt auf einem Pferd gesehen. Manchmal marschierte auch eine kleinere Gruppe von denen in der Gegend herum in Richtung Wald. Mich hat das einfach begeistert, deshalb wollte ich auch Uniform tragen und Soldat werden und auf einem Pferd reiten. Aber Matrose wäre auch nicht schlecht gewesen, meinte ich während meiner Lehrzeit..

Also habe ich mich später dann beworben, um bei der Seepolizei anzufangen.
Die blaue Matrosenuniform hatte es mir inzwischen angetan. Als Molli, wie das so genannt wurde, hattest du doch richtig viel Schlag bei den Mädels, wenn in der Dorfkneipe oder in der Stadt im "Cafe Hemd hoch" Tanz war. Da gab es oft Streit und auch Haue zwischen den blauen Mollis und den einheimischen Hähnen."

"Aber Opa", kommt da ein ganz energischer Mahnruf seitens Nikki in Richtung Opa und mit einem Seitenblick auf die Mädels, "überleg doch was du da sagst. Und denk an die Kinder!"
"Ach so, ja, hast recht, Nikki. Ich fuhr also zum Arzt nach Damgarten zur Tauglichkeitsuntersuchung. Da hat mir der Arzt gesagt, dass ich einen schweren Herzfehler habe und damit nicht tauglich bin für den Dienst. Das hat mich traurig gemacht, denn ich wollte doch so gerne ein Soldat mit der Matrosenkluft werden. Und nun das!
Kurz vor dem Ende meiner Lehre erschien in unserer Klasse während des Unterrichts in der Berufsschule ein Offizier der Volksarmee und wollte uns davon überzeugen, doch zu den Soldaten zu kommen. Das war dann schon im Jahr 1960. Zwei aus der Lehrlingsgruppe haben sich gleich gemeldet. Einer davon wurde später Pilot bei den Jagdfliegern und brachte es bis zum Hauptmann. Nach der Lehre arbeitete ich als Jungfacharbeiter in einer größeren Maschinenfabrik. Eine feste Freundin hatte ich da auch schon, und damit war ein Gedanke an Soldat sein für mich kein Thema mehr.
Doch eines Tages wurde ich zum Chef gerufen. Bei dem saß im Büro ein Uniformierter der NVA, ein Werbe-Offizier vom Wehrkreiskommando. Seine Aufgabe war es, Jugendliche für den Dienst in der NVA zu werben, denn eine Wehrpflicht gab es da in der DDR noch nicht.
Ich kannte diesen Offizier, er wohnte bei uns in der Straße, und es war auch derselbe, der vor einem halben Jahr schon bei uns in der Berufsschule auf Werbetour war.
Es war Hauptmann Zicker-Schmidt. Da ich meinte, herzkrank zu sein, sagte ich ihm ohne Umschweife zu, das "Ehrenkleid der NVA" anziehen zu wollen. So nannte man das damals. Denn mit meiner vermeintlichen Untauglichkeit für den militärischen Dienst auf Grund eines Herzfehlers konnte mir ja nix passieren, da wurde ich doch glatt abgelehnt, nicht wahr?
So leichten Fang hatten sie wohl noch nie gehabt, die beiden Genossen, da waren sie baff, der Hauptmann und auch mein Chef.
Ich gab vor, nach Rostock zu einer ganz bestimmten Truppe zu wollen. Der Hauptmann versprach, mir meinen Wunsch, in Rostock Dienst tun zu wollen, zu erfüllen. Ich feixte innerlich: Ihr werdet mich nicht kriegen, ich bin nicht diensttauglich, ich bin herzkrank!
Also wieder zum Arzt, dieses Mal in Stralsund, und… oh Schreck, ich bekam die allerbeste Gesundheitsstufe bescheinigt. Da gab es nun kein Zurück mehr, ich musste nach Rostock zu meiner zum Schein erbetenen Wunscheinheit.
Seht ihr, Pia und Lilly, so wurde euer Opa Soldat, und das gleich für drei lange Jahre."
Es war inzwischen schon etwas dämmerig geworden und Nikki hatte noch kein Licht angemacht. Die beiden haben still zugehört. Als Licht gemacht wurde, sah Opa auch, weshalb die sonst immer so quirligen und quicklebendigen Schwestern so ruhig geworden sind. Sie haben die Äuglein geschlossen, die Erzählung ihres Opas hat sie ermüdet. Wohl auch deshalb, weil die Geschichte sie mit fortschreitender Dauer immer mehr langweilte. Ist ja auch kein Thema für zwei kleine Mädels.

Doch sie wollten ja wissen ob ihr Opa auch Soldat gewesen ist. Die Antwort darauf haben sie wohl verschlafen.

"Ich hätte wohl doch besser die andere Geschichte, in der ich verhaftet wurde, erzählen sollen, was meinst du, Nikki?"

Nikki zuckt nur mit den Schultern, und meint gleichgültig: "Ja, vielleicht."
Typisch Frau, denkt Opa Krischan, und nimmt sich also vor, bei der nächsten Gelegenheit den beiden Mädels von seiner "Verhaftung" in Berlin zu erzählen.

 

Rüdiger Pfäffle

 


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